"Wilde Wisionen - verzweifelt gesucht" (1) lautete das Motto eines Wettbewerbs, den die basisorientierte, internationalistische und herrschaftskritische Wuppertaler Stiftung W. ausgelobt hatte (vgl.: GWR 302, S. 5). Gesucht wurden "Ideen und Alltagspraxen, die sich den Zwängen der Normalität verweigern und beispielgebend Mut machen, mit anderen Wirklichkeiten zu experimentieren". 382 Menschen und Projekte haben sich beteiligt, darunter auch die Graswurzelrevolution. Wir haben als Zeitungsprojekt für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft zwar keinen Preis gewonnen, dafür aber unser Autor Dr. Rüdiger Haude. Der Wuppertaler Soziologe forscht seit Jahren über herrschaftsfreie Gesellschaftsmodelle und hat zu diesem Themenkreis bereits zahlreiche Schriften publiziert. Sein Beitrag "Die Welthochschule" wurde am 3. Dezember 2005 von der "Wilde Wisionen"-Jury als einer von zwei Preisträgern prämiert. In ihrer Begründung heißt es u.a.:
"An der Wision der Welthochschule gefallen uns besonders:
-
die klare Zurückweisung von patriarchaler Dominanzkultur sowie die internationalistische Ausrichtung,
- die Idee, sich nach fünf Jahrhunderten praktizierter kolonialer Unterdrückung, Zurichtung und Ausbeutung endlich zu besinnen. Den Versuch zu starten, die Entwicklungen und den Stand unserer Zivilisation einem kritischen Dialog zu unterziehen, erscheint nicht nur absolut nachvollziehbar, sondern dringend wünschenswert. Uns gefällt zudem auch die Konkretheit der Konzeption, die wir als sehr erfrischend und motivierend empfinden."
Wir dokumentieren Rüdiger Haudes Wision und gratulieren ihm herzlich! (GWR-Red.)
Die Welthochschule
„Wilde Wisionen“ – das können auch Ansichten der „Wilden“ sein, der Völker, die das Evolutionsdenken an den Anfang der Geschichte menschlicher Kulturen gestellt hat. IndianerInnen, Aborigines, „Eskimos“ – Völker, die eins gemeinsam haben: Sie haben uns Jahrhunderte lang vorgemacht, dass man zusammenleben kann, ohne dass herumkommandiert wird.
Wilde Wisionen muss nicht heißen, dass wir diese herrschaftsfreien Gesellschaften betrachten, obwohl auch dies schon eine lohnenswerte Sache ist. Ich stelle mir vor, dass der von EthnologInnen oft vorgebrachte Satz, man könne von den „Wilden“ lernen, endlich ernst genommen wird: Es wird in Wuppertal eine Welthochschule gegründet, deren Vorträge und Seminare ausschließlich von Menschen geleitet werden, die nicht zu unserer europäisch dominierten Kultur gehören. Vor allem eben die „Wilden“, die nichtsesshaften „Wildbeuter“, aber auch die Angehörigen jener sesshaften Gesellschaften, die die EvolutionistInnen einmal als „Barbaren“ klassifiziert haben. Der Kontakt mit den erobernden Gesellschaften, vor allem mit den EuropäerInnen, hat nicht überall zum Verschwinden aller Alternativen geführt. Hier haben sich fremde, widerständige kulturelle Phänomene im Untergrund gehalten, da haben Kompromissbildungen Eigenständiges bewahrt, dort wiederum sind alte basisdemokratische Strukturen eine Symbiose mit modernen Techniken des Widerstands eingegangen (wie im lacandonischen Regenwald).
Die Welthochschule wird als Stiftungshochschule eingerichtet; sie muss unabhängig von irgendeinem Staat, erst recht von Verwertungsinteressen irgendwelcher Konzerne sein, die immer auf der Suche nach kostenloser Enteignung der medizinischen und biologischen Errungenschaften der „unterentwickelten“ Völker sind. Der Ort der Hochschule ist Wuppertal, weil hier ein wichtiger Ausgangsort christlicher Missionstätigkeit war, und weil hier infolgedessen besonders gut verdeutlicht werden kann, dass es gilt, die Richtung des Lernens umzukehren. In der Stiftungssatzung wird als oberstes Ziel formuliert, dass nicht (wie früher) ExotInnen zum Bestaunen nach Europa verschifft werden, sondern dass Menschen, die dies wünschen, unter Wahrung ihrer kulturellen Identität als DozentInnen berufen werden.
Die finanzielle Ausstattung muss ausreichend sein, um den DozentInnen (wobei es sich auch einmal um eine kleine Gruppe handeln kann) die Anreise sowie eine ihren kulturellen Ansprüchen entsprechende Unterbringung und Verpflegung, sowie ggf. DolmetscherInnen zu finanzieren. Außerdem sind Mittel vorzuhalten für die Öffentlichkeitsarbeit, vor allem Publikation der Ergebnisse der Seminare und der Vortragstexte, sowie für die Unterhaltung der Gebäude und Anlagen.
Ich stelle mir eine Anlage vor, die wie ein Wildbeuterlager aus kreisförmig angeordneten gleichartigen Gebäude-Einheiten besteht. Dies sind die Wohnungen der DozentInnen sowie die Seminar-„Hütten“. Die Kreisform bedeutet, dass alle diese Einheiten gleichen Abstand vom Zentrum haben. In diesem Zentrum, dem Mittelpunkt des Hochschulgeländes, steht ein größeres Gebäude, das einen Vorlesungssaal, eine Bibliothek sowie Küche und Speisesaal enthält. Die Bibliothek symbolisiert den Schatz der menschlichen Erfahrung mit politischen Modellen, die ohne Herrschaft auskommen. Der Hörsaal symbolisiert das Prinzip des Lernens; Küche und Speisesaal die eminente Bedeutung der Tischgemeinschaft im menschlichen Zusammenleben (auch und gerade im herrschaftsfreien). Das sind die drei Leitideen, die im Zentrum der Idee der Welthochschule stehen und deshalb auch räumlich im Zentrum angeordnet sein sollen.
Die Mitgliedschaft in der Hochschule wird durch Teilnahme am Vorlesungsbetrieb, durch Arbeit an ihrer (sächlichen und organisatorischen) Aufrechterhaltung und/oder durch Zahlung eines Mitgliedsbeitrags erworben. Die Mitglieder wählen und kontrollieren einen Verwaltungsausschuss, der gemäß den Beschlüssen der Mitgliederversammlung die laufenden Geschäfte führt und den Lehrbetrieb koordiniert. Zu den Aufgaben des Verwaltungsausschusses gehört auch, Kontakte zu DozentInnen zu knüpfen und zu pflegen: durch eigene Reisen und/oder durch Zusammenarbeit mit geeigneten NGOs vor Ort. Auch dies muss durch die finanzielle Ausstattung gesichert sein.
Ich stelle mir einen bescheidenen Anfang dieser Hochschule vor, die dennoch mit vollem Recht eine Universität genannt zu werden verdiente. Man könnte zunächst für einen Monat im Jahr – etwa im September – den Vorlesungsbetrieb mit vier bis sechs DozentInnen und vielleicht zehnmal so vielen HörerInnen aufnehmen. So könnte das Programm z.B. im ersten Jahr aussehen:
Seminar von Dozent A: „Ökonomische Gleichheits-Sicherung“
Herr A stammt von einem Volk von SammlerInnen und Jägern in Südamerika. Das Jagdglück ist starken Schwankungen unterworfen, und die Ungleichheit des Jagderfolgs wird dadurch aufgehoben, dass kein Jäger von seinem selbsterlegten Fleisch, sondern nur von dem essen darf, was seine Genossen erlegt haben. Bei anderen Völkern der Gegend wird das Wildbret nicht dem Schützen, sondern dem Eigentümer des erfolgreichen Pfeils zugesprochen. In diesem Seminar wird erörtert, wie diese und andere Mechanismen auf moderne Gesellschaften übertragen werden können. Macht es Sinn, einen Betrieb nach dem Erfolg seiner Konkurrenten zu gratifizieren?
Seminar von Dozentin B: „Gleichgewicht als Prinzip schamanischer Religiosität“
Frau B, die in Sibirien lebt, ist Schamanin. Wenn sie um Hilfe gerufen wird, muss sie Geister bekämpfen oder beschwichtigen, die zur Bedrohung wurden, weil das gesellschaftliche Gleichgewicht gestört wurde.
Jede Krankenheilung ist mit einem Festmahl verbunden, und wenn Reichtum (und darauffolgende Verhexung durch Neider) Ursache der Krankheit war, führt das Fest zur Verteilung genau dieses Reichtums. – In der Diskussion geht es in diesem Seminar weniger darum, in Mitteleuropa schamanische Spiritualität zu etablieren, sondern zu überlegen, ob und wie soziales Gleichgewichtsdenken in unserem Weltbild einen Platz gewinnen kann.
Seminar von Dozent C: „Einführung ins Palaver“
Herr C kommt aus Kanada. In seinem (indianischen) Volk wurden Entscheidungen von jeher im Konsensverfahren bei langdauernden Versammlungen getroffen. Auch komplizierte Delegations- und Kontrollverfahren gehören zu dieser „Verfassung“. Die Anwendbarkeit dieses Prinzips wird als Folge dieses Seminars bei der weiteren Arbeit an den Entscheidungsstrukturen der Welthochschule getestet werden.
Seminar von Dozentin D: „Geschichte des Kontakts unseres Volks mit den Europäern“
Frau D kommt von einer Insel des südostasiatischen Archipels. Sie berichtet, wie unterschiedlich die Dörfer im unzugänglichen Hochland der Insel einerseits, und jene an der Küste andererseits, den Kontakt mit islamischen und christlichen Händlern, Eroberern und Missionaren verarbeitet haben. Die von ihr geschilderten Erfahrungen und Sichtweisen werden mit Darstellungen der europäischen Geschichtsliteratur konfrontiert.
Seminar von Dozentin E1, Dozent E2 und Dozentin E3: „Internet und kulturelle Identität“
Die DozentInnen stammen aus dem südlichen Afrika. Sie verdeutlichen die Ambivalenzen eines neuen Mediums, das einerseits zum Gefäß der Dokumentation ihrer kulturellen Tradition (z.B. Sprache) und zum Instrument der Kontaktpflege mit emigrierten Verwandten, andererseits zum Zerstörer traditioneller Lebensabläufe und Strukturen geworden ist. Diese Erfahrungen werden mit denen der europäischen Seminarteilnehmer verglichen.
Bestandteil des Hochschulprogramms sind wöchentliche Feste und am Ende eine große Plenarveranstaltung mit gegenseitiger Präsentation der Ergebnisse. Im Hörsaal finden, ohne dass dies detailliert vorgeplant werden müsste, Vorträge der DozentInnen zu besonderen Themen statt. Z.B. berichtet Dozentin B, welche Folgen der Übergang ihres Volkes von der Lebensform von Hirten zu einer sesshaften Bauerntätigkeit hatte, und welche besonderen kulturellen Überlebensstrategien die Angehörigen ihres Volkes anwenden, welche in Städten leben. Dozent A bietet (unter freiem Himmel) einen Workshop an, in dem die Kunst der Bereitung von Federschmuck seiner Heimat mit dem in Mitteleuropa vorfindlichen Federmaterial angewendet wird. Man lernt, dass eine Federhaube als Kopfschmuck ebenso den gesamten Kosmos repräsentiert wie die Baustruktur der Welthochschule.
Am Ende des Hochschul-Jahresprogramms gibt es keine Diplome und Zertifikate. In diesem Institut geht es nicht um die Vermittlung von Titeln und Positions-Chancen, sondern von emanzipatorischer Erkenntnis – oder, mit anderen Worten, von Wilden Wisionen.