Zum Dogma, Alternativen zu Konkurrenz, Hierarchie und Privateigentum seien unpraktikabel, bildet der israelische Kibbuz ein lehrreiches Gegenbeispiel. Es zeigt: 'Anders arbeiten - anders leben' ist möglich.
Ein auf Gemeinschaftsbesitz und -leben und auf Gleichheit des realen Pro-Kopf-Einkommens orientiertes Projekt sowie eine weniger hierarchisch strukturierte Organisation mitsamt der Rotation möglichst vieler Personen auf Leitungspositionen führen nicht zu Chaos und massiven Einbußen in puncto Produktion und Konsumtion.
Die Kibbuzim gelten seit Jahrzehnten als „die weltgrößte kommunitäre Bewegung“ (Feingold-Studnik 2002, 35) mit steigender Tendenz: 1949 gab es 63.500 Kibbuzmitglieder, 1966: 81.900, 1986: 127.000 (Busch-Lüty 1989, 36), 2001: 127.000 (Feingold-Studnik 2002, 6). Allerdings bleibt der Kibbuz mikrosozialistisch. Die Verhältnisse zwischen den Kibbuzim und ihren Geschäfts’partnerInnen‘ ‚draußen‘ unterscheiden sich nicht von sonstigen kapitalistischen Strukturen, wenn man vom internen Finanzausgleich zwischen ärmeren und reicheren Kibbuzim absieht.
Zentral für den Kibbuz sind der Vorrang der Versorgung der Kibbuzmitglieder mit öffentlichen Gütern vor ihrer Ausstattung mit privaten Gütern, die Abkoppelung der Lebenssicherung von der individuellen Arbeitsleistung sowie die Verlagerung der Lebenssicherung auf das Kollektiv.
Der Anteil des gemeinschaftlichen Konsums (Ernährung, Erziehung, Bildung, Wohnen und Einrichtung, Transportmittel, soziale Hilfen, medizinische Versorgung) betrug im Durchschnitt der Kibbuzim 80 % des Konsumbudgets. Nur 20 % wurden an das Kibbuzmitglied in Geld ausgezahlt (Busch-Lüty 1989, 64).
In der Vergangenheit wurde dies in der Kibbuzbewegung nicht ohne Rigiditäten praktiziert. So war in den 50er Jahren die Frage ein ernsthaftes Thema, ob die Kibbuznik eigene Teekessel besitzen durften. Der Verzicht auf differenzierte Entlohnung korrespondiert mit einer hohen Bedeutung des Bedürfnisses nach Gestaltung der „‚Verantwortungsgemeinschaft‘ … Das Kibbuzsystem bringt es offensichtlich zuwege, daß Übertragung und Ausübung von Autorität ohne nennenswerte Machtkonzentration und damit auch ohne Belastung der zwischenmenschlichen Beziehungen funktionieren kann.“ (ebd., 140)
Wesentliche Momente sind die Rotation der Tätigkeiten und das Vorhaben, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu verflüssigen. Im Kibbuz wird jede Arbeit gleichrangig bewertet, „wobei intellektueller Scharfsinn nicht höher eingeschätzt wird als handwerkliches Geschick, oder physische Kraft nicht höher als Organisationstalent etc.“ (Rosner 1982, 61).
Ebenfalls soll die Befreiung nicht allein von, sondern in der Arbeit praktiziert werden, indem nicht nur die Festlegung von Individuen auf hauptsächlich eine Arbeitsart vermieden, sondern auch in die Humanisierung der Arbeitsbedingungen investiert wurde.
Günstige Startbedingungen für die Enthierarchisierung (1) und die egalitäre Bezahlung in den Kibbuzim fanden sich in einer normativen Orientierung, die auf spezifischen, historisch einmaligen Faktoren basierte. Das Projekt einer ‚Eroberung der Arbeit‘ reagierte auf den Jahrhunderte währenden Ausschluss der Jüdinnen und Juden von landwirtschaftlicher und gewerblicher Betätigung. Der Einfluss von Jugendbewegung und Sozialismus sowie die Armut der jüdischen Pioniere in Palästina trugen zu einer egalitären und auf ein Ideal körperlichen Arbeitens ausgerichteten Perspektive bei. Die Kibbuzim hatten eine gesamtgesellschaftlich anerkannte Pionierrolle inne.
Bei eher isolierten Versuchen von Enthierarchisierung und egalitärer Bezahlung in Projekten in der deutschen Alternativbewegung (‚Arbeiten ohne Chef‘) fehlt die in den Kibbuzim anzutreffende normative Einbettung der Selbstverwaltung in eine übergreifende Orientierung bezüglich des Sinns der Arbeit und des sozialen Lebens.
Wie können die dem Kibbuz zugeschriebenen Werte außerhalb Israels verwirklicht werden ohne die unübertragbaren israelischen Erfahrungsverarbeitungen und historischen Voraussetzungen?
Die Kibbuzim selbst sind durch ökonomische Rahmenbedingungen und die Erosion der anfangs prägenden normativen Voraussetzungen in die Krise gekommen. Die ursprüngliche Schubkraft verdankte sich nicht zuletzt dem Projekt der Gründung der israelischen Nation, der Integration von EmigrantInnen und der Siedlungstätigkeit in Entwicklungs- und Grenzgebieten.
Es geht nicht um die gleichmäßige Beteiligung aller an den Entscheidungsprozessen. Vielmehr soll diese als sozial-dominant und hegemonial durchgesetzt werden. Zwar vermag das Prinzip der Ämterrotation nicht, „die Gesamtheit der Mitgliedschaft direkt zur Arbeit in den leitenden Instanzen heranzuziehen“ (Pallmann 1966, 157).
Aber die Rotation vergrößert „zumindest die Schicht der zur Ausfüllung der Führungspositionen geeigneten Siedlungsgenossen, von denen zu jeder Zeit ein bestimmter Prozentsatz vorübergehend ohne spezielle Funktion ist und damit als Führer der ‚laienhaften‘ Teile der öffentlichen Meinung fungieren kann. Diese, wie man sie nennen könnte: ‚intra-elitäre Kontrolle‘ funktioniert natürlich nur unter der Bedingung, daß die ‚Elite‘ nicht zur primären Solidaritätsgruppe ihrer Angehörigen wird.“ (ebd.)
Im Unterschied zum Sich Festsetzen von Hierarchien und Machtambitionen kam es in der Vergangenheit in den Kibbuzim zu einer Art ‚Ämterscheu‘. Die Zurückhaltung, höhere Ämter zu übernehmen, begründete sich aus einem „negativen ‚Ertrags-Saldo‘ … die ‚Gewinne‘ – in Gestalt von sozialem Status, Einfluß, Selbstverwirklichung – aus solchen Ämtern wiegen die ‚Verluste‘ (zusätzliche Arbeit, Belastung, Ärger) nicht auf.“ (Busch-Lüty 1989, 106)
Interessant ist, wie sich das Sozialprestige in Kibbuzim im Vergleich zu modernen kapitalistischen Gesellschaften verlagert hat: Auf den obersten Rängen von Ansehen und Sympathie stehen hervorragende Arbeiter und loyale Mitglieder. Leitende Amtsträger nehmen in der Beliebtheit die vorletzte von sieben Positionen ein (Rosner 1982, 98f.).
Für das emphatische Selbstverständnis des Kibbuzlebens war die Betonung des Alltags im Unterschied zu außerordentlichen Heldentaten oder zu heute erlebnisgesellschaftlich gesuchten ‚Events‘ wesentlich.
„Wir erwarten uns Erneuerung nicht von einer neuen Lehre, sondern von einer bestimmten Art zu leben. Offenheit gegenüber dem Geschehen scheint uns ein entscheidend wichtiges Element dieser Haltung zu sein. Die meisten Menschen haben sich ja nicht nur einen Schutzpanzer gegen die anderen Menschen angezogen; sie stecken auch in einer Isolierschicht, die sie vor der Berührung durch die Lebensenergie bewahren soll. Offenheit – damit meinen wir die Fähigkeit, sich treffen, sich vom Geschehen etwas sagen zu lassen. Es mag fast so klingen, als wollte ich wieder einer individualistischen Meinung das Wort reden, die sagt: der Mensch muß möglichst viel ins Ich einsaugen, möglichst viel sehen und erleben, – dann wird er weit und reif. … Die Fähigkeit, einem Menschen richtig zuzuhören; die Kraft zur Hingabe an eine Arbeit, die gerade geleistet sein will; die Nüchternheit ruhigen Vorwärtsschreitens, die nicht zwischen beglücktem Aufschwung und trostloser Leere hin- und hertaumelt, sondern festgegründeten Sinns sich den geraden Weg bahnt, – das ist die Art, der wir vertrauen.“ (Gerson 1982, 193f.)
Problematisch ist am Kibbuz die Motivation, die aus dem sozialen Druck in einer Gemeinschaft resultiert, in der es „eigentlich keinen wesentlichen Unterschied (gibt) zwischen den Beziehungen am Arbeitsplatz und nach der Arbeit. Man lebt und arbeitet gemeinsam. Dies drückt sich darin aus, daß man am selben Ort wohnt, kulturelle Veranstaltungen gemeinsam besucht, gemeinsame soziale Aktivitäten hat, die Kinder werden gemeinsam erzogen. Der Kibbuz ist quasi für alle Lebensbereiche zuständig: Gesundheitswesen, Kindererziehung, Lebensstandard, Wohnmöglichkeiten, kulturelles und soziales Leben.“ (Feingold-Studnik 2002, 56)
Eine Grenze des Kibbuz besteht darin, dass es innerhalb einer ihm indifferent bis (zunehmend) feindlich gesonnenen Umwelt existiert. Die positiven Inhalte – die sozial nützliche und human gestaltete Arbeit, der weitgehende Wegfall von Privatbesitz und Hierarchien – sind auf eine Gemeinschaft bezogen, die sich von der Außenwelt abgrenzen muss, so dass die unmittelbare Resonanz in der Gemeinschaft zum Maß der Kibbuz-‚Dinge‘ wird. Insofern der Kibbuz eine Gemeinschaft ist und sie durch ihre Mitglieder getragen wird, die sich frei für sie entschieden haben, gibt es einen zirkulären Begründungszusammenhang zwischen Individuen und Sozialgebilde. Probleme der Gemeinschaft verweisen auf die Charakterstruktur der Individuen, und Probleme der Individuen verweisen auf den Zustand der Gemeinschaft. Es fällt dann schwer, ein Drittes als den Zustand der Gemeinschaft verursachend aufzufassen und sich zum Kibbuz objektivierend zu stellen. Denn immer, wenn von ihm die Rede ist, ist scheinbar auch zugleich unmittelbar von den tragenden Individuen die Rede. Dies unterscheidet das Verhältnis der Kibbuznik zum Kibbuz von dem der Mitglieder der Gesellschaft zur Gesellschaft. (2)
Gemeinschaften neigen immer dazu, das Problem der Individuen mit ihnen als Problem zwischen Ego und Gemeinschaftssinn aufzufassen, bspw. als Mangel an Identifikation mit dem Projekt.
Das unmittelbare Zusammenleben in der Gemeinschaft bildet Konformitätsmotive aus, die auch jenseits der Einsicht in das eigene Tun und dessen Zwecke, Voraussetzungen usw. wirken. Im täglichen Leben des Kibbuz-Menschen sei „sein Hauptmotiv, ob ihn die öffentliche Meinung in seinem Kibbuz hochschätzt und akzeptiert. Moni Alon hat mit Recht betont, daß diese Wertschätzung vor allem in der Bewährung in der täglichen Arbeit und der täglichen Offenheit für die aktuellen Probleme des Kibbuz erworben wird und daß sie ihren Ausdruck findet in der Wahl zu Ämtern und Komitees des Kibbuz sowie in der Art, wie man solchen Menschen in der wöchentlichen Kibbuz-Versammlung zuhört.“ (Gerson 1982a, 211) Mit ’schlechter Arbeit‘ kommt man im Kibbuz ‚ins Gerede‘.
Amos Oz schreibt über die hohe gemeinschaftsbildende Kraft des Klatsches im Kibbuz:
„Jeder urteilt und jeder wird beurteilt. Keine Schwäche kann sich der Beurteilung durch die anderen entziehen. Es gibt keine heimlichen Winkel. … So sind wir allesamt gezwungen, Krieg gegen unsere Natur zu führen, uns zu reinigen und zu veredeln. Wir schleifen einander wie Steine in einem Flußbett und geben unserer Natur keinen Pardon. … Durch Klatsch halten wir unsere Triebe im Zaum und werden allmählich bessere Menschen.
Der Klatsch bildet eine Großmacht unseres Lebens, weil unser Leben offen liegt wie ein Dorfplatz unter der Mittagssonne. Gilt der Klatsch anderswo nur als mieser Charakterzug, … so beteiligt er sich bei uns an der Verbesserung der Welt.“ (zit. n. Heinsohn 1981, 87).
Die Kibbuzim stellen als besondere gemeinschaftliche Sozialgebilde in einer ihnen gegenüber indifferenten bis feindlichen Umwelt zugleich ein Projekt der Realisierung allgemeiner Ziele u n d der Stabilisierung eines konkreten vorfindlichen Sozialgebildes gegen die gesellschaftliche Außenwelt dar. Es kann dann praktisch nicht mehr zwischen diesen beiden Dimensionen des Kibbuz unterschieden werden.
Vielmehr werden die allgemeinen Ziele nur realisierbar nach Maßgabe einer Gruppe von bestimmten Kibbuzmitgliedern und den Imperativen ihres Zusammenlebens. In insulären Projekten wie dem Kibbuz werden die Imperative der Gruppenstabilisierung, des Zusammenlebens und -bleibens überwertig – als Gemeinschaft auf der Insel, deren Begrenzung und Befestigung durch die Kibbuzmitglieder selbst gebildet werden müssen. Die Imperative sozialer Kompatibilität und interner Kohärenz der Gruppe als Gruppe stehen so notgedrungen an einer Stelle, an der bei sozial verallgemeinerter Verwirklichung der allgemeinen Ziele deren Pflege und Kultivierung stände.
Welche eigenen Dynamiken in Gemeinschaften ihre Kraft entfalten, davon zeugt der Kibbuz als „familienbetontes Gemeinwesen. Obgleich einige ledige oder geschiedene Personen ebenfalls stets anzutreffen sind, bilden sie – außer in ganz jungen Siedlungen – die Ausnahme von der Regel. Die Ehen sind zumeist beständig. Scheidungen kommen vor, sind aber seltener als bei dem vergleichbaren Bevölkerungsteil Israels außerhalb des Kibbuz.“ (Gasiet 1981, 311)
Durch face-to-face-Kontakte, räumliche Nähe der meisten Tätigkeiten im Kibbuz und alle einbeziehenden Aushandlungen baut sich eine Gemeinschaft auf, die in der Vermischung von persönlichen und das Kollektiv betreffenden Auseinandersetzungen ihre Achillesferse hat. In derart eng verflochtenen Gruppen entstehen Spannungen durch Partnerwechsel. Wo sich die Beteiligten „in allen Lebenssphären wieder begegnen, dort wird Promiskuität zum Skandal“ (Heinsohn 1981, 89).
Wir haben es hier mit einem alten, auch für frühere kommunitäre Projekte notorischen Problem zu tun (vgl. Landshut 1969, 187, 193).
Insofern der Kibbuz die allgemeinen Ziele als unmittelbare besondere Gemeinschaft realisiert, stellt es auch eine Überforderung des Individuums dar. Heinsohn (1982a, 345) beobachtet unter israelischen Linken, dass diese dem Kibbuz z.T. „ihren tiefsten Respekt bekunden, aber versichern, sie brauchten Heimlichkeit, Fremdheit, Ungewissheit, sexuelle Abwechslung und Abenteurertum, seien nicht der ‚richtige Typ‘ für eine egalitäre Gesellschaft“.
All dies spricht weniger gegen die allgemeinen Ziele der Kibbuzim (Gemeineigentum, Hierarchieabbau, Humanisierung der Arbeit usw.) als gegen deren Realisierung in engen und insulären Gemeinschaften.
Tatsächlich ist der Dichtestress ein Moment des Kibbuz, das ihm schon quasi ökologisch eigen ist: Im Kibbuz haben „nur etwa 30 % der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz außerhalb des unmittelbaren Siedlungskomplexes, also z.B. in etwas entfernt liegenden Obstplantagen. Dadurch ist eine gegenseitige Nähe von Produktions- und Konsumsektor, von Arbeitswelt und Freizeitbereich gegeben, wie sie sonst nur, wenn auch unter ganz anderen Produktionsverhältnissen und Familienstrukturen, in Form der traditionellen Großfamilie bekannt ist.“ (Liegle 1979, 161)
Hinzu kommt, dass die Kibbuzim meist relativ weit von den Städten entfernt liegen.
Die Entwicklung des Kibbuz in den letzten 25 Jahren steht im Kontext ungünstiger Außenbedingungen.
Relevant sind u.a.:
die ökonomische Krise der israelischen Wirtschaft, die den Druck auf die Kibbuzim erhöht und das ökonomische Effizienzdenken in ihnen verstärkt. Ein eigener Faktor ist hierbei die Entwicklung des für die Kibbuzim wichtigen israelischen Gewerkschaftsverbandes Histadrut und seiner Eigenbetriebe (vgl. dazu Simhon 2005);
die gewachsene Rolle der ‚rechten‘ Parteien (Likud als Regierungspartei) und ihr geringeres Interesse an den Kibbuzim und den sich eher ‚linken‘ Parteien zuneigenden Kibbuznik. Demgegenüber war „von 1933 bis 1977 der Linkszionismus die beherrschende Kraft sowohl in der Jewish Agency (3) als auch später in der Regierung Israels“ (Busch-Lüty 1989, 117). Waren bis 1969 unter den 120 Parlamentsmitgliedern zwischen 18 und 25 Kibbuznik, so 1984 noch 8, 1988 5 (ebd., 117f.); die massive Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus der früheren Sowjetunion, die kollektiven Projekten wie dem Kibbuz gegenüber eher unaufgeschlossen sind. Allein 1990 erhöhte sich die EinwohnerInnenzahl Israels (vorher: 4,5 Millionen) um 250.000;
die notwendige Verlagerung der wirtschaftlichen Aktivitäten aus dem landwirtschaftlichen in den industriellen Bereich. Bereits „von 1982 – 1988 sanken die Einnahmen der Landwirtschaft Israels um 5 %, der Landwirtschaftsertrag der Kibbuzim um 2,5 % jährlich“ (Feingold-Studnik 2002, 40). Mit dem Rückgang der Weltmarktpreise für Agrarerzeugnisse verschlechterte sich die Einkommenssituation der Kibbuzim: „Allein von 1981 bis 1985 verminderte sich der Wert ihrer Agrarproduktion um ein Viertel.“ (Busch-Lüty 1989, 81);
der Palästina-Konflikt, der die Militarisierung der israelischen Gesellschaft verschärft, den Staatshaushalt belastet und den Tourismus als neu gewonnenes Tätigkeitsfeld der Kibbuzim infragestellt;
die in den westlichen Ländern allgemeine Veränderung der Lebensweise (‚Individualisierung‘), die die für die Gründergenerationen der Kibbuzim typischen Pionier- und Gemeinschaftsmentalitäten untergräbt. (4) Zwar bilden die Kibbuzim in Israel eine andere soziale Realität als die hierzulande marginalen Alternativprojekte – immerhin leben „mehr als ein Drittel der jüdischen, nichtstädtischen Bevölkerung im Kibbuz“ (Amos Os, zit. n. Feingold-Studnik 2002, 140). Dennoch wachsen mit der Qualifikation und den gesellschaftlichen Möglichkeiten, erworbene Qualifikationen in Arbeitsstellen umzusetzen, die Divergenzen zwischen qualifiziert ausgebildeten Kibbuzmitgliedern und den Möglichkeiten, ihnen innerhalb des Kibbuz entsprechende Arbeiten zu ermöglichen.
Manche sprechen von einem „Niedergang der Kibbuzim“ (Kapeliuk 1995). Die Zahlen sind nicht eindeutig: Die Kibbuz-Bevölkerung hat sich zwischen 1992 und 1998 um 14.000 bzw. 11 % verringert. Von 1998 bis 1999 stieg sie um 2.300 Personen (Feingold-Studnik 2002, 46). Busch-Lüty (1989, 124f.) berichtet von einer „durchschnittlichen Abwanderungsquote von 40 bis 50 % junger Kibbuznik in den letzten Jahren“ und von einer durchschnittlichen Zuwanderung in den 70er Jahren von 1.000 neuen Kibbuzmitgliedern aus der israelischen Gesellschaft. In den 80er Jahren habe es durchschnittlich jährlich 2.000 bis 3.000 Neueintritte gegeben bei einem Verbleib in den Kibbuzim von 60 bis 70 %.
Über die Höhe der Einkommen in den Kibbuzim gibt es unterschiedliche Angaben. Die Differenz resultiert möglicherweise aus den verschiedenen zugrundegelegten Zeitpunkten. Heinsohn spricht davon, die Einkommen im Kibbuz lägen „im oberen Sechstel der übrigen israelischen Einkommenspyramide“ (1982a, 344). Feingold-Studnik hält demgegenüber fest, „der Durchschnittslohn eines Kibbuznik im Industriesektor betrug 1999 rund 76.400 Schekel und liegt damit weit unter dem eines Beschäftigten im restlichen Israel, der durchschnittlich 89.700 Schekel erhielt. 1999 arbeiteten 72.400 Personen in den Kibbuzim, das entspricht zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung; das verbleibende Drittel setzt sich aus Kindern, Soldaten und älteren Leuten zusammen“ (Feingold-Studnik 2002, 49).
Die Arbeitszeit in den Kibbuzim ist länger als die in der israelischen Gesellschaft: 6-Tage-Woche mit jeweils 8 Stunden plus „verschiedene zusätzliche Pflichten laut Dienstplan (beim Abendessen, im Kinderhaus, Viehversorgung am Sabbath und an Feiertagen und überdies Wachdienst), die durch die kollektive Lebensweise begründet sind“ (Rosner 1982, 128).
Allerdings befreien die Kollektiveinrichtungen die Kibbuzmitglieder von Hausarbeit und den materiellen Aspekten der Kinderbetreuung. Es „ist die Eltern-Kind-Beziehung von Nützlichkeitsaspekten fast frei. Die Eltern müssen weder Essen zubereiten für die Kinder, noch sie waschen oder für andere Bedürfnisse sorgen. … Die Eltern können diese Dinge erledigen, soweit sie es wünschen“ (Rosner 1982, 129f.).
Ein Problem der Kibbuzim besteht in der Lohnarbeit, die mit der Industrialisierung der Kibbuzim an Umfang gewonnen hat. Die Zahl der Nicht-Kibbuz-Mitglieder, die (hauptsächlich im Industriebereich) im Kibbuz arbeiten, hat sich von 10.800 1991 auf 26.400 1999 erhöht (Studnik-Feingold 2002, 41). In der den Kibbuzim positiv gegenüberstehenden Literatur wird der Rückgriff auf externe Lohnarbeit damit erklärt, dass – die für Fabriken notwendigen Größendimensionen unterstellt – kibbuzintern nicht genug „Personal“ vorhanden ist (Heinsohn 1982a, 345, Barkai 1982, 315 ).
Die basisdemokratische Struktur der Kibbuzim ist ebenfalls einem Wandel unterworfen, der auch mit der Größenausdehnung der Kibbuzim zu tun hat.
„Rationalisierung und Spezialisierungen nahmen dem obersten Entscheidungsgremium der Generalversammlung einige seiner Entscheidungskompetenzen.“ (Feingold-Studnik 2002, 67)
Zahlreiche Entscheidungen wurden in Ausschüsse verlagert.
„Auch die Rotation ist nur noch bedingt verwirklicht, vor allem auf der obersten Leitungsebene wird sie immer seltener realisiert.“ (ebd.)
Der Gefahr, dass sich aus Hierarchien „Vorgesetzte-Untergebenen-Verhältnisse“ entwickeln, „wirkt man insofern entgegen, daß es weder monetäre Ausgleiche für ‚höhere Jobs‘ gibt, noch gehören die Vorgesetzten einer höheren Gesellschaftsschicht an. So müssen auch die Vorgesetzten im Anschluß an die normale Arbeitszeit allgemeine Aufgaben des Kibbuz erfüllen (z.B. Wache halten oder im Chadar ochel arbeiten)“ (Feingold-Studnik 2002, 108), dem Speisesaal des Kibbuz.
Kapeliuk (1995) berichtet von einer Aufhebung der Lohngleichheit in den Kibbuzim. Feingold-Studnik schreibt über ihre Untersuchung in zwei Kibbuzim: „Obwohl eine Gehaltseinführung immer mehr Thema ist, wird sie von den Kibbuzim als Mittel der Steigerung der Arbeitsmotivation oder erhöhter Arbeitszufriedenheit abgelehnt. Nach wie vor ist die Arbeitsmotivation intrinsischer Natur und ideell gelenkt.“ (136)
Die Autorin resümiert ihre Untersuchung: „Das Prinzip der Gleichheit ist nach wie vor vorhanden; alle Chawerim (Plural von Chawer, dem Kibbuzmitglied – Verf.) haben den gleichen Lebensstandard. Jedoch ist die ehemals mechanische Verteilung von Konsumgütern einer bedürfnisorientierten gewichen.“ (ebd., 98).
Auch wenn in Bezug auf Gleichheit und Hierarchie in den Kibbuzim Aufweichungserscheinungen zu beobachten sind, so schließt dieser (selbst empirisch genauer zu befragende) Befund nicht die Interpretation aus, der zu folge das Projekt Kibbuz immerhin jahrzehntelang den Beweis für nützliche und vergleichsweise human gestaltete Arbeit unter der Voraussetzung von Gemeinschaftsbesitz, -leben und Ämter- und Arbeitsrotation erfolgreich ‚erbracht‘ hat. Die Kibbuzim sind ein Gegenbeispiel zum Dogma, nur durch materielle Stimuli, Konkurrenz und wirtschaftliche Ungleichheit sei Leistung und Effizienz möglich. Und dieses praktische Beispiel zählt um so stärker, als es unter gesamtgesellschaftlichen Bedingungen erbracht wurde, die von den Maßgaben des Kibbuzim abweichen bzw. ihnen entgegenstehen.
Die ‚Aufweichungserscheinungen‘ würden dann nicht unmittelbar für die Unverträglichkeit von sozial sinnvoller Arbeit mit Gemeinschaftsbesitz, -leben und Verzicht auf Hierarchien und Arbeitsrotation sprechen, sondern gegen eine isolierte Maximierung von Effizienz, Spezialisierung und Wirtschaftswachstum. Die Aufweichungserscheinungen in den Kibbuzim in puncto Gleichheit und Hierarchie weisen dann eher auf den Umschlagpunkt hin, an dem die isolierte Maximierung von Effizienz, Spezialisierung und Wachstum ihre sozial abträglichen Effekte zeigt.
Zwar erweisen sich Effizienz, Spezialisierung und Wachstum gegenwärtig in kapitalistischen Ländern als Pseudonyme, hinter deren sachlich-allgemeinmenschlicher Gestalt sich spezifische kapitalistische Ursachen und Eigendynamiken verstecken (vgl. Creydt 2000). Der Kibbuz verdeutlicht, dass nachkapitalistische Sozialformen auf der Produktivkraftebene nicht mit Steinzeitkommunismus gleichzusetzen sind, zeigt aber auf vergleichsweise hohem Produktivitätsniveau den für nachkapitalistische Sozialformen existierenden Zielkonflikt zwischen Effizienzkriterien des Wirtschaftens und Kriterien der Arbeits-, Lebens- und Gestaltungsqualität.
(1) "Irgendein materieller Anreiz zur 'Sesselkleberei' besteht im Kibbuz ja wahrlich nicht. Im Gegenteil: Leitende Positionen (auch die vollamtlichen) bringen immer beträchtliche Mehrarbeit mit sich: Die private Mußezeit wird stark beschnitten; selbst für das Familienleben kann eine zentrale Funktion unter Umständen eine Belastung darstellen." (Pallmann 1966, 154f.)
(2) Vgl. zu den "nichtnormativen", nicht auf die Individuen zurückführbahren Gesellschaftsstrukturen Creydt 2000, 215, 217ff.
(3) "Die Jewish Agency vertrat die Interessen der Juden vor der britischen Mandatsregierung, vor dem Völkerbund und ab 1947 vor den Vereinten Nationen. Bis heute versteht sich die JA als Bindeglied zwischen den in Israel und den in der Diaspora lebenden Juden." (Feingold-Studnik 2002, 224)
(4) "War früher das Individuum der Gemeinschaft unterstellt und waren seine Bedürfnisse immer zweitrangig gegenüber dem Gemeinwohl, so beansprucht der Chawer (wörtlich: Freund, Genosse; Bezeichnung für Mitglieder des Kibbuz - Verf.) heute die Gleichstellung seiner individuellen Bedürfnisse mit denen des Kollektivs. Diese Entwicklung wird u.a. daran sichtbar, daß die Kinder heute zu Hause schlafen und ein gewisser Rückzug in die Kernfamilie stattgefunden hat." (Feingold-Studnik 2002, 68)
(5) "Zur effizienten Produktion etwa von Sperrholz, von Plastikwaren und Nahrungsmitteln werden Anlagen benötigt, die den Einsatz von wenigstens 40-50 Arbeitern pro Schicht erforderlich machen; und da stünde selbst ein Kibbuz mit einer Bevölkerungszahl von 800 unter starkem Druck, wenn er dermaßen viele Arbeitskräfte zur Verfügung stellen müsste." (Barkai 1982, 31)
Literatur
Barkai, Haim 1982: Der Kibbuz - ein mikrosozialistisches Projekt. In: Heinsohn 1982
Busch-Lüty, Christiane 1989: Leben und Arbeiten im Kibbuz. Köln
Creydt, Meinhard 2000: Theorie gesellschaftlicher Mündigkeit. Frankfurt/ Main
Feingold-Studnik, Shoshana 2002: Der Kibbuz im Wandel. Wirtschaftliche und politische Grundlagen. Wiesbaden
Gasiet, Seev 1981: Menschliche Bedürfnisse. Eine theoretische Synthese. Frankfurt/ Main
Gerson, Menachem 1982: Die Grundlage. (Zuerst: 1934) In: Heinsohn 1982
Gerson, Menachem 1982a: Menschliche Beziehungen im Kibbutz (sic!) von heute. In: Heinsohn, 1982
Heinsohn, Gunnar 1981: Wer will eigentlich Sozialismus. In: Freibeuter H. 7
Heinsohn, Gunnar 1982 (Hg.): Das Kibbutz-Modell (sic !). Bestandsaufnahme einer alternativen Wirtschafts- und Lebensform nach sieben Jahrzehnten. Frankfurt/ Main
Heinsohn, Gunnar 1982 a: Diskussion über die Machbarkeit der freien Produzentenassoziation (zwischen Klaus Gilgenmann und Gunnar Heinsohn). In: Heinsohn 1982
Kapeliuk, Ammon 1995: Abschied von einem Mythos - Der Niedergang der Kibbuzim. In: Le monde diplomatique vom 11.8.
Landshut, Siegfried 1969: Die Gemeinschaftssiedlung in Palästina. (Zuerst: Tel Aviv 1944)
In: Ders.: Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik. Neuwied am Rhein
Liegle, Ludwig 1979: Der Kibbuz als integrierte Genossenschaft. In: Mehrwert, Beiträge zur politischen Ökonomie, Bd. 19, West-Berlin
Pallmann, Martin 1966: Der Kibbuz. Zum Strukturwandel eines konkreten Kommunetyps in nichtsozialistischer Umwelt. Basel
Rosner, Menachem 1982: Ist direkte Demokratie in der modernen Gesellschaft machbar? In: Heinsohn 1982
Simhon, Dani Ben 2005: Die Demontage der Histadrut. Dt. Übersetzung aus dem Englischen in: Arbeiterpolitik 46. Jg., Nr. 4, Hamburg. Zuerst in: Challenge Nr. 88, November 2004, Jaffa (Israel). Vgl.: www.hanitzotz.com/challenge/