transnationales

Palästina: Der gewaltfreie Widerstand des Dorfes Bilin

| Geneviève Coudrais

Der alltägliche Kampf gegen den Bau der Mauer in Palästina spielt sich vielfach auf gewaltfreie Weise ab. Die westlichen Medien zeigen kein Interesse, über diese Form des Widerstandes zu berichten. (Red. Süd)

Auch wenn der israelische Staat seine Expansion gestoppt und Siedlungskolonien, die nach internationalem Recht als illegal eingestuft wurden, abgebaut hat; auch wenn die Grenzziehung via Mauer am 9. Juli 2004 durch den Internationalen Gerichtshof für illegal erklärt worden ist, wurde die Mauer um das Dorf Bilin (1.500 BewohnerInnen), im Osten von Ramallah, speziell so konzipiert, dass sie die neue Siedlung Menorah mit einschließt, ebenso wie die Ausweitung der ultraorthodoxen Kolonie Kiryat Sefer und die Siedlungen von Matityahu Misrah sowie Modi’in Ilit, deren Grund die israelische Regierung annektieren und Israel zuteilen will. Die Mauer streift die Häuser des Dorfes Bilin und war bereits Ursache für die Konfiszierung von 150 Hektar kultivierbaren Bodens (drei Viertel des Gemeindegrundes), der vor allem für Olivenhaine, Mandelbäume und Feigenbaum-Pflanzungen genutzt wurde. Sie waren das einzige Subsistenzmittel der BewohnerInnen, seit sie nicht mehr in Israel arbeiten konnten.

Leider ist das nicht das erste Mal, dass die BewohnerInnen von Bilin mit solchem Landraub konfrontiert werden: Schon vor zehn Jahren wurden ihre Olivenhaine durch Bulldozer zerstört, um auf demselben Grund Siedlungen hochzuziehen. Seit der Oberste Gerichtshof die Klage der EinwohnerInnen von Bilin zurückgewiesen hat, marschieren Männer und Frauen des Dorfes praktisch jeden Tag zum Baugebiet und haben erreicht, dass die Regierung den Mauerbau vorläufig gestoppt hat. Die BewohnerInnen versuchen nun, die Bulldozer zu blockieren, die auf der vorgesehenen Mauerlinie Olivenbäume ausreißen. Im Gegenzug überfällt die israelische Armee das Dorf, am Tage wie in der Nacht. Die SoldatInnen dringen in die Häuser ein und schlagen die BewohnerInnen.

Mehrere BewohnerInnen wurden durch Schüsse mit Kautschukkugeln verletzt (in Wirklichkeit handelt es sich um Metallkugeln, die mit einem leichten Kautschukmantel überzogen sind); oder auch durch das Trommelfell verletzende, ohrenbetäubende Granaten; oder wiederum Tränengas-Granaten – alles Waffen, die im Prinzip nicht tödlich sind, aber die sich, abgefeuert aus kurzer Distanz, als sehr gefährlich erweisen können. Ein Haus in Bilin ist bereits durch den Schuss einer ohrenbetäubenden Granate durch die Grenztruppen in Brand gesteckt worden.

Im Dorf hat sich ein Komitee gebildet, das sich aus fünf repräsentativen Mitgliedern der Parteien und nichtparteiförmigen Vereinigungen im Dorf zusammensetzt und das alle notwendigen Sofortentscheidungen verantwortet. Offiziell ist das Komitee im Januar 2005 aktiv geworden, aber es hat bereits davor andere Dörfer konsultiert, die sich im legalen und/oder gewaltfreien Kampf gegen den Mauerbau befinden.

Das Dorf Budrus war in dieser Hinsicht besonders inspirierend, weil es ihm nach 53 gewaltfreien Demonstrationen gelungen ist, den Verlauf der Mauer weiter weg zu verlegen.

Nach einem Aufruf der BewohnerInnen von Bilin haben sich Gruppen der israelischen sozialen Bewegungen wie Gush Shalom, Anarchists against the Wall (vgl. Bericht in GWR 304, S. 5), Ta’ayush und The Women’s Coalition for Peace zusammengefunden, um regelmäßig jeden Freitag eine gewaltfreie Aktion durchzuführen. Rund hundert israelische ZivilistInnen gehen also vor Ort und bilden so eine bedeutende Verbindung zur „anderen Seite“.

Abdullah Rameh, Mitglied des Dorfkomitees, meint zur Präsenz der israelischen AktivistInnen: „Anfangs war es schwer für die Menschen in Bilin zu verstehen, warum Israelis kommen und was sie hier wollen. Aber als die israelischen SoldatInnen nachts ins Dorf eingedrungen sind, sagten die AktivistInnen ihnen, sie sollten verschwinden. Alle im Dorf haben darauf positiv reagiert und verstanden, dass die Israelis ins Dorf gekommen sind, um sie zu beschützen. Der Erfolg ihrer Aktivitäten kann nicht geleugnet werden.

Wir arbeiten, schlafen und essen zusammen; es ist wie in einer Familie und als solche führen wir zusammen einen gewaltfreien Kampf. Wir arbeiten nicht nur bei den Aktionen zusammen, sondern auch, um die israelische Öffentlichkeit damit zu konfrontieren.“

Laser, ein israelischer Aktivist, ergänzt, wenn es keine israelische Beteiligung an den Aktionen gebe, „würde die israelische Armee sofort zu schießen beginnen. Einmal haben sie uns an einem Checkpoint festgesetzt und den israelischen SoldatInnen Anweisung gegeben, über die Köpfe der DemonstrantInnen zu schießen, aber rund zwanzig von uns ist es gelungen, auszureißen und rüberzukommen, also haben sie den Schießbefehl zurückgenommen. Warum? Weil sie Rassisten sind.“

Sind die Aktionen des Dorfes erfolgreich? Mohammed al-Khatib, Komiteemitglied, antwortet: Das Wort „Erfolg kann viele Bedeutungen haben. Wenn es die Verschiebung des Mauerverlaufs bedeutet, das ist nicht unmöglich, aber es wird schwer. (…) Auf anderem Gebiet würde ich sofort ja sagen. Wir haben Erfolg damit, der ganzen Welt öffentlich zu sagen, dass unser Dorf ein Recht hat, hier zu sein, auf unserem Grund und Boden, dass das die Wahrheit ist. Wir zeigen damit, dass die BesatzerInnen die LügnerInnen sind. Die Besetzung verteidigt nicht die israelischen BürgerInnen vor uns, sondern sie stiehlt unseren Boden. Wenn ich vor einem Jahr gesagt hätte, ich komme aus Bilin, hätte niemand gewusst, wovon ich spreche, aber heute wissen die Leute darüber Bescheid, und sie wissen, dass wir Widerstand gegen den Mauerbau leisten. Noch wichtiger finde ich: Sie wissen auch, dass wir uns gewaltfrei wehren, und sie bestärken uns darin. Wir können heute gar nicht mehr sagen, dass der gewaltfreie Widerstand nur Bilin gehört, er gehört nunmehr den PalästinenserInnen.“

Und Mohammed al-Khatib fährt fort:

„Alle unsere Aktionen sind gewaltfrei. Wir lassen über die Lautsprecher unserer Moschee durchsagen, dass wir uns für die Gewaltfreiheit engagieren und dass wir lediglich unseren Grund und Boden verteidigen. Seit unserer ersten Kundgebung haben wir nicht einen Stein geworfen. Das unterscheidet sich selbst von der ersten Intifada. Wir gehen nicht zur Demonstration, um Steine zu werfen. Selbstverständlich befehligen wir keine Armee, und wir können nicht alle daran hindern, Steine zu werfen, wenn sie provoziert werden. Die SoldatInnen werden zur Gewalt gedrillt, und wenn die Leute sehen, wie sie auf uns schießen oder in unsere Häuser eindringen, wollen sie sich verteidigen. Sie nehmen keine Gewehre, aber sie sammeln die Steine auf, die überall herumliegen. Im Kern wollen wir mit unseren Demonstrationen gewaltfrei bleiben. Wenn das nicht immer gelingt, liegt das nicht an den Steinwürfen, sondern weil die Soldaten zu schießen beginnen. Es gab aber bereits eine Demonstration, auf der die Soldaten nicht mit der Gewalt begannen, wo sie dann nicht ins Dorf eingedrungen sind und wo deshalb auch kein Stein geworfen wurde. Das war bisher der größte Erfolg.“

Was die Aktionen des Dorfes Bilin neben ihrer Gewaltfreiheit und ihrer Zusammenarbeit mit FriedensaktivistInnen, woher sie auch kommen mögen, auszeichnet, ist die Kreativität und der Erfindungsreichtum der Beteiligten. So haben sich DorfbewohnerInnen und auswärtige AktivistInnen um Olivenbäume oder mit selbstgebauten Metallschildern zusammengekettet; sie haben Scheinbeerdigungen mit durch Steine beschwerten Särgen durchgeführt, auf denen in Arabisch, Englisch und Hebräisch geschrieben stand: „Ruhe in Frieden, das Dorf Bilin stirbt, wenn ihm seine Erde geraubt wird.“ Oder Auswärtige und PalästinenserInnen haben sich in einen Eisenkäfig direkt vor den Raupen der Bulldozer eingeschlossen. Ein anderes Mal wurde ein Protestmarsch veranstaltet, der von durch die Besatzungsarmee zu Krüppeln geschlagenen Menschen und weiteren Personen angeführt wurde, die Tafeln mit den Namen der 3.800 PalästinenserInnen trugen, die seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 umgebracht wurden.

Am 8. Juli 2005, dem Jahrestag des Urteils des Internationalen Gerichtshofes von Den Haag, der erklärt hat, dass die „Sicherheits-Barriere“ internationales Recht verletzt und dass sie abgebaut werden müsse, wurde in Bilin eine neuerliche Demonstration angesetzt. Am Vorabend wurde Abdullah Abu Rameh festgenommen, und er wurde gewarnt, dass, wenn die BewohnerInnen von Bilin ihren Kampf fortsetzten, es ihnen so ergehen könne wie den EinwohnerInnen von Bidu, einem Dorf, in dem die Armee vor einigen Monaten fünf DemonstrantInnen getötet hatte.

Daraufhin hat bei der Demonstration Sheikh Tayseer Tamimi, der höchste islamische Würdenträger auf palästinensischem Territorium, zugleich Mitglied der Fatah, mit einer unglaublichen Selbstsicherheit die Stacheldrahtreihen überwunden und ist zusammen mit anderen MuslimInnen in die verbotene Bauzone eingedrungen. Die nichtislamischen DemonstrantInnen blieben zunächst im Hintergrund.

Nach dieser religiösen Episode drangen alle DemonstrantInnen in die verbotene Zone ein. Dem Militärkommandanten wurde versichert, die Demonstration wäre bald vorbei, die SoldatInnen zogen sich zurück, und erstmals schien es so, als würde die Freitagsaktion von Bilin ohne repressive Gewalt beendet werden können. Aber die Repression folgte doch noch auf dem Fuß, und brutaler als sonst, selbst nach den Maßstäben, die sonst in Bilin üblich sind. Es gab zahlreiche Verletzte.

Um gegen die Einführung einer Ausgangssperre ab fünf Uhr morgens vorzugehen, die nur erlassen wurde, um Aktionen zu verhindern und um präventive Verhaftungen israelischer und internationaler Beteiligter durchführen zu können, hat die Initiative Gush Shalom die Idee eines Klavierkonzertes umgesetzt. Kein Geringerer als Jacob Allegro Wegloop, Pianist und Überlebender des Holocaust, dessen Eltern kurz nach seiner Geburt festgenommen und nie aus den Nazi-KZs zurückgekehrt sind, hat mit seiner Musik zu diesem symbolischen Tag des Friedens beigetragen. Im Morgengrauen des 29. September 2005 wurde das Piano vor Ort gebracht, und Jacob Allegro Wegloop hat dann den BewohnerInnen von Bilin ein Konzert geboten, bevor die wöchentliche internationale Aktion begann.

Am 21. Oktober haben die DorfbewohnerInnen von Bilin das getan, was die Vereinten Nationen und die „Internationale Gemeinschaft“ nach dem Spruch des Internationalen Gerichtshofes seit einem Jahr vergessen hatten: Sie haben die Metallstangen abtransportiert, die als Basismaterial für den Mauerbau dienen. Als Antwort darauf haben die israelischen SoldatInnen während mehrerer Nächte in Bilin Haussuchungen durchgeführt, die ihnen als Beteiligte der gewaltfreien Aktionen bekannten BürgerInnen zusammengeschart und dabei darauf geachtet, dass niemand im Dorf während der gesamten Operation schlafen konnte. Elf palästinensische gewaltfreie AktivistInnen, darunter ein sechzehnjähriger Jugendlicher und drei Brüder aus einer Familie, wurden verhaftet.

Am darauf folgenden Freitag, dem 28. Oktober, war eine neuerliche Demonstration, auf der die DorfbewohnerInnen sich an den Händen hielten und ein zwanzig Meter langes Transparent trugen, auf dem die Namen der noch in Haft Befindlichen geschrieben standen. Am Freitag, den 4. November, wurden unter den acht Israelis, die sich an Pfeilern der Mauer angekettet hatten, vier Personen festgenommen. Auf diese Art geht, wie es so schön heißt, „der Kampf weiter.“

Anmerkungen

aus Le Monde libertaire, Nr. 1418, 1.12.2005, S. 15f.; Übersetzung: Thomas S. Eiselberg

Quellen

Presseerklärungen von Uri Avnery

Website von Gush Shalom: www.gush-shalom.org (dort gibt es auch ein Video über die Aktion vom 28. April, zum Herunterladen)

Website AFPS: www.france-palestine.org

Website ISM (International Solidarity Movement, Menschenrechts-Organisation & gewaltfreie Aktionsgruppe): www.ism-london.org.uk