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„Ein neues Verständnis von politischer Arbeit“

Anarchismus und Antimilitarismus in der Türkei. Ein Interview mit Osman Murat Ülke (Izmir)

| Interview: Bernd Drücke, Januar 2006

Osman Murat Ülke (*1970 bei Gummersbach) wuchs in Deutschland auf, bis er im Alter von 15 Jahren auf Druck seiner Eltern unfreiwillig in die Türkei übersiedelte. Nach einer Pressekonferenz im Mai 1994, bei der er eine Unterstützungserklärung für vier neue Kriegsdienstverweigerer abgegeben hatte, wurde er erstmals verhaftet. Nachdem er am 1. September 1995 seinen Wehrpass verbrannt und seine Kriegsdienstverweigerung (KDV) öffentlich gemacht hatte, wurde er im Oktober 1996 wieder verhaftet und verbrachte (mit Unterbrechungen) bis zum 9. März 1999 insgesamt 701 Tage im Gefängnis. Ossi versteht sich als gewaltfreier Anarchist. Er ist Gründungsmitglied des ISKD (Izmir Savas Karsitlari; Verein der KriegsgegnerInnen Izmir; im Jahr 2001 aufgelöst). Von 2001 bis 2004 war er Koordinationsredakteur der türkisch- und deutschsprachigen Otkökü (türkisch: "Graswurzel"), die achtmal - separat und als Beilage der Graswurzelrevolution - erschien.

Graswurzelrevolution (GWR): Ossi, wie ist Deine Situation heute?

Osman Murat Ülke: Juristisch gesehen gelte ich als Deserteur, da ich mich nicht in die Einheit begab. Im Prinzip bin ich seit der endgültigen Entscheidung des Militärkassationsgerichts im Herbst 1999 dem Staat noch ca. eine Woche Haftstrafe schuldig. Ich konnte durch meinen Widerstand im Gefängnis nicht erreichen, dass das Thema für mich persönlich zu einem Ende kommt, und der Staat konnte meinen Willen nicht brechen. (1)

Eine erneute Inhaftierung ist immer möglich, aber die Armee bevorzugt den momentanen Zustand der De-facto-Illegalisierung „draußen“, da sie dadurch unliebsame Diskussionen im In- und Ausland vermeiden kann. Nun hat natürlich Mehmet Tarhans Fall das Thema wieder aktuell gemacht, doch auch unter diesen Umständen würde ein weiterer KDVer im Gefängnis nur den Druck steigern.

Meine Illegalisierung belastet mich natürlich. Ich habe keinen Zugang zu einem gültigen Pass, zu Sozialversicherung, fester Arbeit, Bankverbindung usw. Psychisch ist es eine Bürde, weil immer eine bestimmte Ungewissheit besteht und ich viele alltägliche Selbstverständlichkeiten vermeiden muss oder weniger selbstverständlich durchlebe. Offenkundig sind die materiellen Begrenzungen.

Die Übersetzungsjobs sind zu spärlich, um mich über Wasser zu halten. Neue Perspektiven zu entwickeln, fällt mir bei diesen konstanten Einschränkungen schwer. Das gleiche gilt für meine politische Betätigung.

Ich habe inzwischen einen Sohn. Dank meines internationalen Freundeskreises aus der politischen Arbeit der letzten fünfzehn Jahre war es möglich, eine Wohnung über Kredite zu kaufen, wodurch zumindest meine Freundin und mein Sohn bei einer weiteren Inhaftierung einen gesicherten Platz haben.

Dein Fall wird zurzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt. Wie schätzt Du diesen Prozess ein?

Wir haben unsere Klage 1999 eingereicht und sie dann 2001 erneuert. Das Gericht hat entschieden, alle unsere vorgetragenen Anklagepunkte zu verhandeln, was ein gutes Zeichen ist.

Inzwischen hat der türkische Staat seine Verteidigung abgeschlossen, und wir haben unseren letzten Kommentar eingereicht. Mein Anwalt hofft auf ein Urteil innerhalb der ersten Hälfte des Jahres 2006.

Eine Einschätzung unserer Erfolgschancen ist schwierig. Soviel ich weiß, handelt es sich um einen Präzedenzfall. Es gab zwar schon Kriegsdienstverweigerer, die vor dem EGMR geklagt haben, aber in den jeweiligen Ländern gab es Regelungen zu KDV und Zivildienst.

So hat das Gericht in einem Fall gegen einen finnischen Totalverweigerer entschieden. Daraus ergibt sich keine klare Richtlinie für einen Fall aus der Türkei. Ob das Gericht sich an Empfehlungen und Standards der EU-Institutionen anlehnen wird oder die Souveränität der türkischen Regierung in dieser Sache anerkennt, wird sich zeigen.

Doch beinhaltet meine Klage einige Grundforderungen, sekundär zur Forderung der Anerkennung der KDV. Die Türkei muss der absurden Praxis, KDVer nicht als solche zu sehen und zu bestrafen, sondern als Wiederholungstäter zu behandeln, die jeden einzelnen Befehl ablehnen, ein Ende setzen. Indem die Türkei einer rechtlichen Definition der KDV ausweicht, und sei diese Definition negativ, begeht sie einen Verstoß gegen ein simples und elementares Rechtsprinzip, demnach jede Straftat nur einmal bestraft werden kann.

Sollte das Gericht nur zu letzterem Punkt zu unseren Gunsten entscheiden, was eigentlich der Fall sein müsste, wäre schon viel erreicht. Dadurch müsste die Türkei zumindest ihre Gesetze anpassen, und es wäre für potentielle KDVer ein kalkulierbares Risiko, zu verweigern. Nach einer bestimmten Haftstrafe wären keine weiteren Konsequenzen, wie z.B. erneuter Zwang zum Militärdienst, zu erwarten. Damit dürften die Ausgangsbedingungen für eine breit gefächerte und zahlenstarke KDV-Bewegung endlich geschaffen sein.

Solltest Du vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewinnen, wäre das ein großer Schritt auf dem Weg zur Anerkennung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Meinst Du, die Türkei könnte sich durch internationalen Druck dazu bewegen lassen, Kriegdienstverweigerer anzuerkennen? Welche Folgen könnte das haben?

Ein deutliches Urteil, das sich nicht nur auf unsere sekundäre Forderung beschränkt, würde die Türkei natürlich stark in Bedrängnis bringen, da die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bindend sind. Doch eine direkte Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung kann ich mir nicht vorstellen. Hierzu bedürfte es wohl einer wirklich starken, gesellschaftlich anerkannten KDV-Bewegung und realpolitischer Engpässe in den Beziehungen zur EU.

Die KDV hat für internationale Akteure und die EU im Vergleich zu anderen Aspekten der Menschenrechtsproblematik keine Priorität. Falls es zur Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU kommen sollte, wird wohl KDV eine der letzten zu bereinigenden Unebenheiten sein.

Die Folgen einer solchen Anerkennung … Ohne Zweifel haben KDVer jetzt schon eine wichtige Rolle bei der Entmystifizierung nationalistischer und etatistischer Dogmen und werden sie noch verstärkt in der Zukunft spielen.

Der ISKD war eine der aktivsten antimilitaristischen Gruppen in der Türkei. Der Verein hat sich während Deiner Haft intensiv für Deine Freilassung engagiert. Wo lagen seine Arbeitsschwerpunkte?

Der Verein hat seit seiner Gründung im Dezember 1992 immer versucht, den Militarismus als Ganzes zu thematisieren und zu bekämpfen. KDV war nur ein wichtiger Teilaspekt, der dadurch Gewicht erlangte, dass er direkt in unseren Lebensweg eingriff. Doch wie gesagt, ging es uns darum, Ursachen von politischer und gesellschaftlicher Gewalt und Ungerechtigkeit zu verstehen und etwas dagegen zu halten. Daher arbeiteten wir auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Über kulturelle Mittel versuchten wir, gesellschaftliche, aber auch linke Tabus aufzubrechen. Über Trainings wollten wir ein neues Verständnis von politischer Aktion, Effektivität und Demokratie erarbeiten und weitergeben. Der ISKD war weiter ein aktiver Teil der allgemeinen Menschenrechtsbewegung.

Der Verein hat sich mit unzähligen Aktivitäten, Aktionen und anderen Mitteln gegen den Krieg in Kurdistan, gegen türkisch-griechische Spannungen, gegen Aufrüstung, gegen totalitäre Bestrebungen, die Bevölkerung und die Opposition zu entmündigen, für Emanzipation, Minderheitenrechte, Geschichtsaufklärung und vieles anderes eingesetzt.

Der ISKD war der erste legale antimilitaristische Verein in der Türkei. Ein Novum in dem vom Militär dominiertn Land. Warum wurde der Verein 2001 aufgelöst?

Nach meiner Entlassung hat der ISKD eine konfrontative KDV-Politik gemieden, was nach der langen, aufreibenden Soli-Arbeit verständlich war. Der kollektive Burnout war hartnäckiger als gedacht, und so kam es 2001 zur freiwilligen Aufgabe der antimilitaristischen Arbeit in Vereinsform.

Mehmet Tarhan wurde am 10. August 2005 vom Militärgericht in Sivas aufgrund seiner Kriegsdienstverweigerung zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie ist seine aktuelle Situation?

Wie bekannt, war besonders seine erste Zeit im Militärgefängnis sehr schwierig. Seine Mitinsassen wurden von der Gefängnisleitung angestiftet, ihn zu prügeln. Er wurde verletzt und danach von denselben Inhaftierten erpresst und mit dem Tode bedroht. Auf Eingreifen seiner Anwältinnen wurden diese Bedrohungen zwar unterbunden, dafür setzte direkter Druck von der Gefängnisleitung ein.

Erst durch zwei ca. je einmonatige Hungerstreiks erreichte Mehmet eine relative Stabilität im Gefängnis. Doch das Tauziehen mit der Administration geht weiter. Sie versuchen immer noch, seine Rechte zu beschränken und ihm damit das Leben so schwer wie möglich zu machen.

Mehmet Tarhan steht öffentlich zu seiner Homosexualität und bezeichnet sich als gewaltfreier Anarchist. Meinst Du, das hatte Auswirkungen auf das maßlose Urteil?

Ich kann nicht ganz sicher sagen, dass das Urteil durch seine Homosexualität höher ausgefallen ist. Es kann auch sein, dass das Militärgericht einfach durch ein hohes Urteil die nächste öffentliche Konfrontation mit ihm und der Thematik aufschieben wollte. Aber es kann sehr gut sein, dass seine Homosexualität eine Rolle im Strafmaß gespielt hat, weil sich das Militär vielleicht dachte, dass er als Schwuler leichter zu marginalisieren ist und längerfristig weniger Solidarität mobilisieren und gesellschaftliche Akzeptanz erzeugen kann. Dieser oberflächlich stimmige Gedanke hat sich erst einmal nicht bewahrheitet. Ich würde sagen, dass Mehmet sich in einer „glücklichen“ Schnittmenge befindet und seine verschiedenen Eigenschaften ihm sowohl in der Türkei als auch international ein breiteres Solidaritätsnetz beschert haben.

Kannst Du die Situation der Schwulen- und Lesbenszene in der Türkei beschreiben?

Die Schwulen- und Lesbenszene in der Türkei hat zwei größere und sehr stabile Gruppen hervorgebracht, die KaosGL in Ankara und Lambda in Istanbul. Beide Gruppen treten wirksam an die Öffentlichkeit und ergründen für die Türkei neue Diskussionsstränge. Dank der durch diese Gruppen neu gesetzten Akzente ist die Entscheidung des Militärkassationsgerichtes, Mehmet Tarhans Homosexualität medizinisch festzustellen, in den Medien scharf kritisiert worden.

Selbst der Militärstaatsanwalt des lokalen Militärgerichts hat sich in Anlehnung an Menschenrechtsprinzipien gegen diese Entscheidung ausgesprochen.

Im Moment gibt es eine internationale Solidaritätskampagne für Mehmet Tarhan. Am 9. Dezember 2005, am Vortag des Internationalen Tags der Menschenrechte, gab es in dreizehn Ländern bzw. in über 20 Städten gleichzeitig Kundgebungen und Demonstrationen für seine Freilassung und für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. (2) Wie berichten türkische Medien darüber?

Die Medienresonanz zu Mehmets Fall ist gut. Die Erklärung von amnesty international zu Mehmet am 9. Dezember wurde sogar im landesweiten Nachrichtensender NTV wiedergegeben. Es wäre sicher mehr möglich, wenn die lokale Solibewegung besser organisiert wäre.

Wie viele Menschen haben in den letzten Jahren in der Türkei öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt?

Wie hat die Öffentlichkeit und wie hat der Staat darauf reagiert?

Insgesamt haben sich bis heute 60 KDVer erklärt. Davon sind 11 Frauen, die ihre KDV innerhalb von 2004 erklärt haben.

Fünf der 49 Männer, die ihre KDV erklärt haben, haben sich später entschieden, Militärdienst zu leisten.

Nach mir und vor Mehmet Tarhan gab es zwei weitere KDVer, die Gefängniserfahrungen gemacht haben.

Mehmet Bal erklärte im Oktober 2002 seine KDV. Da er zu dem Zeitpunkt sowieso Soldat war, konnte das Militär das Problem nicht umgehen. Das Militär zeigte sich unentschlossen im Umgang mit ihm. Er wurde zuerst im Gefängnis sehr hart behandelt und trat in einen Hungerstreik. Nach einer Gerichtsverhandlung wurde er entlassen, woraufhin er sich freiwillig bei seiner Einheit melden sollte.

Er wurde im Januar 2003 gezielt in einer Wohnung festgenommen und in eine psychiatrische Anstalt gebracht, um ausgemustert zu werden. Dort entschied man sich anders, und er bekam von seiner Einheit drei Monate Urlaub. Seitdem ist Mehmet Bal auf freiem Fuß.

Halil Savda wurde im November 2004 aus dem Gefängnis entlassen, in dem er sich wegen Mitgliedschaft in einer illegalisierten bewaffneten Organisation befand. Halil hatte sich in seiner Gefängniszeit neu orientiert und entschieden, KDVer zu werden. Er wurde bei seiner Entlassung direkt an „seine“ Militäreinheit überstellt. Dort schickte man ihn wegen Befehlsverweigerung ins Militärgefängnis. Er wurde nach einem Monat Gefängnisaufenthalt mit der formellen Aufforderung, sich „seiner“ Einheit zu stellen, entlassen.

Tarhans Fall stellt eine deutliche Eskalation dar. Hier haben verschiedene Faktoren zusammengespielt. Zuallererst war es Mehmet Tarhan, der bei seiner mehr oder weniger zufälligen Festnahme im April 2005 jegliche Kooperation mit der Polizei ablehnte. Er hätte die Konfrontation mit den Militärs verhindern können, wenn er unterschrieben hätte, dass er sich demnächst stellt. Damit wäre die Polizei die Verantwortung los und hätte sich auch nicht um den weiteren Verlauf gekümmert.

Später schaltete sich das Zentraldirektorat der Rekrutierungsämter ein und verhinderte eine Entlassung Mehmets, wie sie Halil Savda gewährt wurde. Damit geriet er in einen Kreislauf, wie ich damals in Eskiehir. Zuletzt wurde das Ganze mit der bisher höchsten Einzelstrafe besiegelt, zu der ein KDVer verurteilt wurde.

M.E. sucht das Militär krampfhaft nach Wegen, die KDV aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen. Dabei experimentiert es mit Druck und aufgesetzter Nachlässigkeit.

Diese Strategie ist im Großen und Ganzen bisher nicht aufgegangen. Es besteht ein reges Interesse an KDV in der Öffentlichkeit. Ich sehe „neidische“ und hasserfüllte Bemerkungen in den verschiedensten Internetforen, von Leuten, die meinen, die Drückeberger machen es sich einfach. In den gleichen Foren finden sich aber auch kleinlautere Stimmen, die die Heiligkeit von Staat und Heer in Frage stellen und Sympathie für KDVer bekunden. Auch wenn negative Kommentare deutlich überwiegen, zeigt dies, dass KDV – hauptsächlich von der Jugend – wahrgenommen und diskutiert wird.

Du verstehst Dich als gewaltfreier Anarchist. Kannst Du beschreiben, wie dieses Selbstverständnis entstanden und gewachsen ist?

Vorweg muss ich sagen, dass mein Selbstverständnis seit der Aufgabe des ISKD durch den ungewollten, aber scheinbar unabwendbaren Verlust einiger Kollektive geknickt ist. Seitdem habe ich es nicht geschafft, mich in einer neuen politischen Heimat anzusiedeln. Die Illegalisierung und Distanz von der alltäglichen politischen Arbeit haben auch meine Lebensweise und Prioritäten beeinflusst.

Mein Selbstverständnis ist von einer Wurzellosigkeit geprägt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe früh ökonomische Ungleichheit und Rassismus erlebt. Die türkische Kultur war alles andere als eine Antwort. Als Kind wurde ich in den frühen Achtzigern Zeuge der Öko- und der antimilitaristischen Bewegung, mit denen ich mich durch eigene Gewalterlebnisse und eine Abscheu vor Ungerechtigkeit schnell identifizieren konnte. Mit fünfzehn kam dann der Schock der Zwangs“rückkehr“ in die Türkei. Ich fand mich plötzlich in einem islamisch-faschistoiden Internat wieder. In mir, dem damals schon entschiedenen Atheisten, haben das Internat und die dortigen Praktiken viel zerstört.

Damit wurde immer klarer, dass ich in diesem Land nur im Widerstand überleben kann und Basispolitik zu meinem Lebensweg werden würde.

Wie es aber jetzt, Mitte dreißig, weitergehen soll, versuche ich schon seit geraumer Zeit herauszufinden.

Was verstehst Du unter Anarchie und unter gewaltfreiem Anarchismus?

Anarchie ist für mich ganz und gar keine Extremvorstellung.

Extrem finde ich die heutige Gesellschaftsstruktur. Die zwei Begriffe „Ordnung“ und „Anarchie“ vertragen sich meiner Meinung nach wunderbar, weil Anarchie für mich vordergründig ein Ordnungsideal ist, das den Menschen ermöglichen soll, sich selbst zu verwirklichen.

Das heißt, eigene Potentiale zu entdecken und im „Schoß“ einer solidarischen Gesellschaft zu entfalten. Damit denke ich gar nicht an konfliktfreie Utopien, in denen alle nett und glücklich sind, sondern einfach daran, dass sich der in der Gesellschaft dominierende Konsens wandelt, dass anstelle von Profit- und Konkurrenzideologie die unterstützenswerte Selbstverwirklichung tritt.

Anarchismus war für mich immer gewaltfrei, weil Gewalt Herrschaftsstrukturen nur reproduziert und vernebelt.

Du warst von 2001 bis 2004 Redakteur der türkisch-deutschen Otkökü (3). Kannst Du die Geschichte und die Inhalte dieser gewaltfrei-anarchistischen Zeitung skizzieren?

Die ursprünglichen Zielsetzungen der Otkökü waren sehr ambitioniert und schwer unter einem Dach zu vereinen. Zum einen sollten „Deutsch-Türken“ und mit ihnen Deutsche angesprochen werden, zum anderen sollte eine Brücke zu einer Leserschaft in der Türkei hergestellt werden. Das sind schon mal drei verschiedene Zielgruppen. Ich denke, dass potentielle Sympathisantinnen und Sympathisanten für gewaltfreien Anarchismus oder Neue Soziale Bewegungen (NSB) unter Deutsch-Türken eine sehr kleine Gruppe darstellen dürften.

Sowohl Inhalte als auch Präsentation müssten im Grunde für alle drei Gruppen verschieden ausfallen, weil bestimmte Diskussionen sich der einen Gruppe nicht so stellen wie der anderen. Dies empfand ich konzeptionell als das größte Handicap der GWR-Beilage.

Die dritte Zielgruppe, nämlich Leserinnen und Leser in der Türkei, entfiel von selber, als gleich die erste Ausgabe vom türkischen Zoll beschlagnahmt und an das Innenministerium weitergeleitet wurde. Meine eigene Situation als Illegalisierter verhinderte eine aktive Konfrontation.

Trotz allem erschien die Otkökü in einem dreimonatigen Rhythmus für insgesamt acht Ausgaben.

Da die Otkökü eigenständig keine Einnahmen machte, wurde sie der GWR zur finanziellen Bürde. Unter diesen Bedingungen konnte ihr natürlich nur begrenzt Platz eingeräumt werden, der noch dazu in zwei Sprachen aufgeteilt wurde. Damit kamen tiefer gehende Artikel und ganze thematische Blocks gar nicht erst in Frage.

So gelang es auch nicht, das Projekt in Team-Arbeit zu gestalten. Leider habe ich die Otkökü schließlich ohne großes Feedback von Leserinnen und Lesern nach eigenem Gutdünken zusammengestellt und konnte dabei Sinn und Unsinn meines Tuns kaum einschätzen.

Das alles klingt jetzt sehr negativ, aber es musste wohl versucht werden, um die Erfahrung machen zu können. Ich weiß nicht, als wie nützlich sich diese Erfahrung herausstellen wird, doch sie birgt gute Fragen für eventuelle Zukunftsprojekte. Auf jeden Fall muss ich aber dazu sagen, dass Du, Bernd, in jeder Phase des Projekts sehr unterstützend warst.

Inhaltlich handelte die Beilage meist von basisdemokratischen Ansätzen und Aktivitäten in der Türkei, wenig thematisierten Menschenrechtsverletzungen, in die die türkische Armee verwickelt war, und Kriegsdienstverweigerung. Daneben gab es kritische Artikel zu aktuellen Themen wie z.B. Geschichtsaufarbeitung oder die vorgesehene Rolle der Türkei im Irakkrieg.

In der Otkökü wurde z.B. auch über die Schwulen- und Lesbenszene in der Türkei berichtet. Wie haben sich die Gay- und Lesbenszene, die feministischen Gruppen und allgemein die sozialen Bewegungen in der Türkei in den letzten Jahren entwickelt?

Nach einer Talfahrt durch die Neunziger und um die Jahrtausendwende geht es mit den NSB anscheinend wieder aufwärts.

Wie vorhin schon gesagt, hat sich die Lesben-/Schwulenbewegung weiterentwickelt und Freiräume erkämpft.

Aktivitäten von Frauengruppen haben deutlich zugenommen.

In den Neunzigern gab es eine Akademisierung und kaum noch Basisbewegungen. Jetzt tut sich wieder viel an der Basis.

Sehr viel passiert in den kurdischen Provinzen, und die Vernetzung zwischen türkischen und kurdischen Frauen ist gut. Natürlich hat diese Konstellation ihre eigenen Probleme, aber auf jeden Fall sind diese dem Stillstand von vor zehn Jahren vorzuziehen.

Frauengruppen nehmen sich auch vieler sozialer Probleme an und finden damit direkt Zugang zur ärmeren und oft entpolitisierten Bevölkerung. Das führt zu holistischen Ansätzen, in denen konkrete wirtschaftliche Fragen ein Gewicht haben.

Nur die Ökobewegung findet nicht zu ihrer anfänglichen Stärke aus den Spätachtzigern zurück. Die Grünen warten einen geeigneten Moment zu einer Parteineugründung ab, aber ich kann keine breite Bewegung oder gesellschaftliche Dynamik dahinter sehen.

Interessanterweise ist es gerade Mehmet Tarhans Fall, zu dem alle diese NSB einen Bezug herstellen können. Zwar kommt es nicht zu einer wechselseitigen Durchdringung der NSB, aber es gibt immer wieder gemeinsame Aktionen.

In der GWR 253 hast Du die Ansätze einer Graswurzelbewegung in der Türkei beschrieben. Sie sei mit den gleichen Problemen konfrontiert, mit denen sich dort jede radikale gesellschaftliche Opposition herumschlagen müsse.

Zusätzlich sei sie dem Misstrauen der traditionellen Linken ausgesetzt.

Hinzu kommt ein ausdrücklicher bürgerlicher Hintergrund derer, die auf diese Ansätze reagieren und diese mitentwickeln.

Die Ablehnung des Establishments mündet meist in radikale Subkulturen, was an und für sich nicht negativ ist.

Hierbei kommt aber die Anbindung an harte Realitäten dieses Landes meist abhanden, und die jungen Radikalen schaffen sich unbewusst ihre eigenen heilen Nischen, aus denen heraus sie auf gesellschaftlicher Ebene kaum noch eingreifen können. Am deutlichsten sehe ich eine fehlende Bezugnahme zu wirtschaftlichen Realitäten und Problemen. All das gilt ebenso für meine eigene politische Vergangenheit durch die ganzen Neunziger. Deswegen finde ich Ansätze von Frauengruppen in armen Stadtteilen zur Zeit spannender und muss immer wieder an kurdische Kriegsflüchtlinge rund herum um Izmir denken, wenn ich über meine eigene eventuelle politische Betätigung in der Zukunft nachgrüble.

Dies ist alles subjektiv und von meinen eigenen einseitigen Erfahrungen geprägt. Ich glaube nicht, allgemeingültige Antworten zu haben.

Welche Perspektiven siehst Du heute?

Eine für mich ernst zu nehmende Perspektive müsste Brücken zu den wirklich Marginalisierten schlagen, heraus aus dem gemütlich-bürgerlichen Kokon.

Lieber Ossi, herzlichen Dank.

(1) Vgl.: B. Drücke: Ot Kökü - Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Gespräch mit dem Anarchisten und Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, in: GWR 253, Nov. 2000, S. 1, 6 f.

(2) Vgl. GWR 305, Januar 2005

(3) Fast alle Otkökü-Texte finden sich auf der GWR-Homepage. Zur Geschichte der Otkökü siehe auch: Manfred Horn: "Merhaba Deutschland". Bilinguale, deutsch- und türkischsprachige Print- und Hörfunkmedien in der Bundesrepublik, ibidem-Verlag, Stuttgart 2004.

Auszüge daraus:
www.graswurzel.net/news/otkoku-dipl.shtml

Kontakte

Eine antimilitaristische Webseite, über die auch koordiniert wird, kann kontaktiert werden über: bilgi@savaskarsitlari.org

kara mecmuA, ein türkisches anarchistisches Magazin aus Istanbul. Kontakt: www.mecmu-a.org

Anarsist Bakis (ein Online-Archiv anarchistischer Texte): http://go.to/anarsistbakis

ABC/Anarchist Black Cross: abcankara@yahoo.com

Imlasiz: www.imlasizdergi.cjb.net-anarchistmagazine

Isimsiz - anarchist counter-magazin: isimsiz_dergi@yahoo.com

KaosGL (libertäres Schwulen-/Lesbenmagazin und -Gruppe): www.kaosgl.com

Kara Kizil: html.karakizil.tr.cx/anarchocommunistgroup

KAOS - anarchistischer Verlag in Istanbul: www.geocities.com/kaosyayinlari

Solidarität mit Mehmet Tarhan (u.a. KDVerInnen und DeserteurInnen): www.connection-ev.de, www.graswurzel.net

Eine längere Version dieses Interviews erscheint (voraussichtlich zur Leipziger Buchmesse im März 2006) in dem von Bernd Drücke herausgegebenen Buch "ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche", Karin Kramer Verlag, Berlin, ca. 280 Seiten, ca. 19,80 Euro, ISBN 3-87956-307-1.