Voraussichtlich im März 2006 erscheint im Verlag Graswurzelrevolution das von Achim von Borries und Ingeborg Weber-Brandies herausgegebene Buch "Anarchismus Theorie * Kritik * Utopie" (1). Als Vorabdruck veröffentlichen wir hier einen erstmals 1911 in New York veröffentlichten Beitrag der russisch-amerikanischen Anarchistin Emma Goldman (GWR-Red.).
Was ist Patriotismus?
Ist es die Liebe zum Ort unserer Geburt, zum Hort von Kindheitserinnerungen und Hoffnungen, Sehnsüchten und Träumen?
Ist es die Stelle, an der wir so oft in kindlicher Naivität den ziehenden Wolken zusahen und uns wunderten, warum es nicht auch uns gegeben war, so rasch dahinzuschweben?
Ist es der Ort, an dem wir standen und die Milliarden glitzernder Sterne zählten, angstgelähmt bei dem Gedanken, jeder einzelne »könnte ein Auge sein«, das bis in die tiefsten Tiefen unserer kleinen Seelen vorzudringen vermochte? Ist es der Platz, an dem wir der Musik des Vogelsangs lauschten und wünschten, Schwingen zu haben, um, genau wie sie, in ferne Länder fliegen zu können? Oder ist es der Ort, an dem wir, auf Mutters Knien sitzend, hingerissen waren von wundervollen Geschichten über große Taten und Siege?
Kurz gesagt, ist es die Liebe zu jenem Fleckchen Erde, das in jedem Zentimeter Boden uns liebe und teure Erinnerungen an eine glückliche und verspielte Kindheit birgt?
Wenn das Patriotismus wäre, könnten nur wenige Amerikaner heute patriotisch genannt werden, da ihr Spielplatz in eine Fabrik, eine Spinnerei oder ein Bergwerk verwandelt wurde, während der betäubende Lärm von Maschinen den Gesang der Vögel ersetzt hat.
Auch können wir nicht länger den Geschichten großer Taten lauschen, da unsere Mütter uns heute nur Geschichten der Tränen, der Trauer und des Schmerzes zu erzählen wissen.
Was ist dann aber Patriotismus? »Patriotismus, mein Herr, ist die letzte Zuflucht der Schufte«, sagte Dr. Johnson. Leo Tolstoi, der größte Gegner des Patriotismus unserer Zeit, definiert ihn als das Prinzip, das die Ausbildung für den Mord auf breiter Basis zu rechtfertigen erlaubt; ein Handwerk, das bessere Ausrüstung zum Mord erfordert als zur Herstellung der Lebensnotwendigkeiten wie Schuhe, Bekleidung und Häuser; ein Handwerk, das bessere Entlohnung und größeren Ruhm garantiert als den, den der gewöhnliche Arbeiter erhält.
Gustav Hervè, ein weiterer großer Gegner des Patriotismus, nennt ihn zurecht einen Aberglauben – einen, der schädlicher, brutaler und inhumaner ist als die Religion. Der religiöse Aberglaube hatte seinen Ursprung in der Unfähigkeit des Menschen, die Phänomene der Natur zu erklären. D.h., als der Primitive den Donnerschlag hörte oder den Blitz sah, konnte er sich weder den einen noch den anderen erklären und schloß daher, daß hinter ihnen eine Macht stehen müsse, die größer war als er selbst. Ähnlich vermutete er im Regen und in den anderen Naturvorgängen eine übernatürliche Macht. Patriotismus hingegen ist ein künstlich geschaffener Aberglaube, der durch ein Netzwerk der Lügen und Falschheiten am Leben erhalten wird; ein Aberglaube, der den Menschen seiner Selbstachtung und Würde beraubt und seine Arroganz und Überheblichkeit fördert.
In der Tat sind Übernatürlichkeit, Arroganz und Egoismus die wesentlichsten Zutaten des Patriotismus. Lassen Sie mich das illustrieren. Der Patriotismus nimmt an, daß die Erde aufgeteilt ist in lauter kleine Fleckchen, von denen jedes umgeben ist von einem eisernen Gitter. Jene, die das Glück hatten, auf einem bestimmten Fleckchen geboren zu werden, erachten sich als besser, edler, großartiger und intelligenter als all jene Lebewesen, die andere Fleckchen bewohnen. Es ist daher die Pflicht jedes einzelnen, der ein solch auserwähltes Fleckchen bewohnt, zu kämpfen, zu töten und zu sterben bei dem Versuch, allen anderen seine Überlegenheit aufzuzwingen.
Die Bewohner der anderen Fleckchen argumentieren natürlich in der gleichen Weise, mit dem Ergebnis, daß das Bewußtsein der Menschen von frühester Kindheit an durch blutrünstige Geschichten über die Deutschen, die Franzosen, die Italiener, die Russen usw. vergiftet wird. Wenn das Kind zum Manne herangereift ist, ist er gründlich durchtränkt von dem Glauben, daß Gott selbst ihn auserwählt habe, sein Vaterland gegen Angriff und Invasion aller daran interessierten Ausländer zu verteidigen. Nur aus diesem Grunde verlangen wir so stürmisch nach einer größeren Armee und Marine, nach mehr Kriegsschiffen und Waffen. Nur aus diesem Grunde hat Amerika innerhalb einer kurzen Zeit 400 Millionen Dollar ausgegeben. Denken Sie einen Augenblick darüber nach – 400 Millionen Dollar, die dem Besitz des Volkes genommen wurden.
Denn die Reichen leisten sicher keinen Beitrag zum Patriotismus. Sie sind Kosmopoliten, die sich in jedem Lande zu Hause fühlen. Wir in Amerika kennen diese Wahrheit nur zu gut.
Sind unsere reichen Amerikaner nicht in Frankreich Franzosen, in Deutschland Deutsche und in England Engländer?
Und verschwenden sie nicht mit kosmopolitischer Grandezza Münzen, die von amerikanischen Kindern der Fabriken und Sklaven der Baumwollproduktion geprägt wurden? Ja, zu ihnen paßt ein Patriotismus, der ihnen gestattet, Beileidsschreiben an einen Tyrannen wie den russischen Zaren zu schicken, sobald ihm irgendein Unglück widerfährt, so wie es Präsident Roosevelt im Namen seines Volkes zu tun gefiel, als Sergius von den russischen Revolutionären bestraft wurde.
Es ist ein Patriotismus, der dem Prototyp eines Mörders, Diaz, beisteht bei der Vernichtung Tausender von Leben in Mexiko oder gar hilft, mexikanische Revolutionäre auf amerikanischem Boden zu verhaften und sie, ohne den geringsten vernünftigen Grund, in amerikanischen Gefängnissen eingesperrt zu halten.
Aber darüber hinaus ist Patriotismus gar nicht gedacht für jene, die Macht und Reichtum repräsentieren. Er ist gut genug fürs Volk. Er erinnert an die historische Weisheit Friedrichs des Großen, des Busenfreundes Voltaires, der sagte: »Die Religion ist ein Betrug, der um der Massen willen aufrechterhalten werden muß.« Daß der Patriotismus eine ziemlich kostspielige Institution ist, wird niemand zu bezweifeln wagen nach Einsichtnahme in folgende Statistiken. Das progressive Wachstum der Ausgaben für die fahrenden Armeen und Flotten der Welt während des letzten Vierteljahrhunderts (2) ist ein so gravierendes Faktum, daß es jeden verantwortungsbewußt ökonomische Probleme Studierenden erschrecken muß …
Die schreckliche Verschwendung, die der Patriotismus notwendig macht, sollte genügen, selbst einen Mann von durchschnittlicher Intelligenz von dieser Krankheit zu heilen.
Das Volk wird gezwungen, patriotisch zu sein, und für diesen Luxus bezahlt es nicht nur durch Unterstützung seiner »Verteidiger«, sondern auch noch durch Opferung seiner Kinder. Patriotismus verlangt Treue zur Fahne, und das bedeutet Gehorsam und Bereitschaft zur Tötung von Vater, Mutter, Bruder, Schwester …
Nehmen wir unseren eigenen spanisch-amerikanischen Krieg, der angeblich ein großes und patriotisches Ereignis in der Geschichte der Vereinigten Staaten darstellt. Wie brannten unsere Herzen doch vor Empörung über die grausamen Spanier!
Richtig, unsere Empörung entbrannte nicht spontan. Sie war genährt worden durch monatelange Agitation in den Zeitungen, lange nachdem Weyler viele edle kubanische Männer hingeschlachtet und viele kubanische Frauen geschändet hatte. Doch um der amerikanischen Nation Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß gesagt werden, daß sie sich empörte und bereit war zu kämpfen, und daß sie tapfer kämpfte. Aber als sich der Rauch verzog, die Toten begraben waren und die Kosten des Krieges in Gestalt einer Verteuerung der Lebensmittel und der Mieten auf das Volk zurückfielen – d.h., als wir ernüchtert aus unserem patriotischen Zechgelage erwachten – dämmerte uns, daß die Ursache des spanisch-amerikanischen Krieges in einer Betrachtung über den Zuckerpreis zu suchen war; oder, um es deutlicher zu sagen, daß die Leben, das Blut und das Geld amerikanischer Menschen benutzt worden waren, die Interessen der amerikanischen Kapitalisten zu schützen, die durch die spanische Regierung bedroht waren. Daß dies keine Übertreibung ist, sondern sich auf absolute Zahlen und Daten gründet, läßt sich am besten durch die Haltung der amerikanischen Regierung den kubanischen Arbeitern gegenüber beweisen. Als sich Kuba fest in den Klauen der Vereinigten Staaten befand, wurde den Soldaten, die man zur Befreiung Kubas schickte, während des großen Tabakarbeiterstreikes, der kurz nach Kriegsende stattfand, befohlen, kubanische Arbeiter zu erschießen.
Auch stehen wir nicht allein da in der Führung von Kriegen um solcher Gründe willen. Der Vorhang, der über den Motiven des schrecklichen russisch-japanischen Krieges hing, der so viel Blut und Tränen kostete, beginnt sich allmählich zu lüften. Und wieder erkennen wir, daß hinter dem fürchterlichen Moloch des Krieges der noch fürchterlichere Gott des kapitalistischen Handels steht. Kuropatkin, der russische Kriegsminister zur Zeit der russisch-japanischen Kämpfe, hat das Geheimnis verraten, das sich hinter ihnen verbarg. Der Zar und seine Großen hatten in koreanischen Niederlassungen Geld investiert, und der Krieg wurde vom Zaune gebrochen um des einzigen Grundes der raschen Akkumulation willen.
Die Behauptung, daß eine stehende Armee und eine Flotte die beste Garantie für den Frieden sind, ist ebenso logisch wie die Annahme, der friedfertigste aller Bürger sei jener, der schwer bewaffnet herumläuft. Die Erfahrung des täglichen Lebens beweist zur Genüge, daß das bewaffnete Individuum beständig darauf aus ist, seine Stärke zu erproben. Dasselbe gilt historisch gesprochen für Regierungen. Wirklich friedliche Länder verschwenden nicht Leben und Energie auf die Vorbereitung von Kriegen und das Ergebnis ist, daß der Friede erhalten bleibt.
Der Ruf nach einer größeren Armee und Flotte resultiert jedoch nicht aus irgendeiner äußeren Gefahr. Er hat seine Ursache in der wachsenden Unzufriedenheit der Massen und dem Geiste des Internationalismus unter den Arbeitern. Um dem inneren Feind zu begegnen, rüsten sich die Mächte verschiedener Länder, einem Feinde, der, wenn er erst einmal zu Bewußtsein erwacht ist, sich als gefährlicher erweisen wird als jeder fremde Angreifer.
Die Mächte, die jahrhundertelang damit beschäftigt waren, die Massen zu versklaven, haben deren Psychologie aufs genaueste studiert. Sie wissen, daß die Masse der Menschen wie Kinder sind, deren Verzweiflung, Trauer und Tränen durch ein kleines Spielzeug in Freude verwandelt werden können. Und je prächtiger das Spielzeug aussieht, je schreiender die Farben, desto eher wird es dem millionenköpfigen Kinde gefallen.
Eine Armee und eine Marine stellen das Spielzeug des Volkes dar. Um es anziehender und akzeptabler zu machen, werden Hunderte und Tausende von Dollars ausgegeben für die äußere Pracht dieses Spielzeugs. Das war die Absicht, mit der die amerikanische Regierung eine Flotte ausrüstete und sie die Pazifikküste entlangschickte, so daß jeder amerikanische Bürger den Stolz und die Glorie der Vereinigten Staaten zu fühlen bekommen sollte. Die Stadt San Franzisco gab 100.000 Dollar aus für die Unterhaltung der Flotte; Los Angeles 60.000; Seattle und Tacoma etwa 100.000. Sagte ich, die Flotte zu unterhalten? Um einigen wenigen höheren Offizieren weinreiche Diners zu servieren, während die »braven Jungen« meutern mußten, um ausreichende Mahlzeiten zu erhalten. Ja, 260.000 Dollar wurden für Feuerwerke, Theaterparties und Lustbarkeiten ausgegeben zu einer Zeit, da Männer, Frauen und Kinder im ganzen Land in den Straßen verhungerten; als Tausende von Arbeitslosen bereit waren, ihre Arbeitskraft zu jedem Preis zu verkaufen.
260.000 Dollar! Was hätte nicht alles mit einer solch ungeheuren Summe erreicht werden können? Aber anstatt Brot und Wohnung zu erhalten, wurde den Kindern jener Städte die Flotte vorgeführt, damit sie »eine bleibende Erinnerung für das Kind« bilde, wie eine der Zeitungen es ausdrückte.
Eine wunderbare Sache für die Erinnerung, nicht wahr? Das Werkzeug zivilisierter Menschenschlächterei. Wenn das Bewußtsein des Kindes durch solche Erinnerungen vergiftet wird, welche Hoffnung kann es dann geben für eine wahre Realisierung menschlicher Brüderlichkeit?
Wir Amerikaner behaupten, ein friedliebendes Volk zu sein. Wir hassen Blutvergießen; wir sind Gegner der Gewalt. Doch wir schäumen über vor Freude über die Möglichkeit, Bomben aus Flugzeugen auf hilflose Zivilisten werfen zu können. Wir sind bereit, jeden zu hängen, auf den elektrischen Stuhl zu schicken oder zu lynchen, der, aus ökonomischer Notwendigkeit heraus, sein eigenes Leben wagt bei dem Versuch eines Attentats auf einen Industriekapitän. Doch unsere Herzen schwellen vor Stolz bei dem Gedanken, daß Amerika sich zur mächtigsten Nation der Erde auswächst, und daß es im Laufe der Zeit seinen eisernen Fuß auf den Nacken aller anderen Nationen setzen wird.
Das ist die Logik des Patriotismus.
Betrachtet man die üblen Resultate, die der Patriotismus für den Durchschnittsbürger mit sich bringt, so ist das noch gar nichts im Vergleich mit der Beschimpfung und dem Schaden, die der Patriotismus dem Soldaten selbst auflädt – jenem armen, verführten Opfer des Aberglaubens und der Unwissenheit. Für ihn, für den Retter seines Landes, den Beschützer seiner Nation – was hat denn der Patriotismus für ihn in petto? Ein Leben der sklavischen Unterwürfigkeit, des Lasters, der Perversion in Friedenszeiten; ein Leben der Gefahr, des Ausgeliefertseins und des Todes in Kriegszeiten …
Denkende Männer und Frauen auf der ganzen Welt beginnen zu verstehen, daß der Patriotismus eine zu enge und begrenzte Konzeption ist, um den Notwendigkeiten unseres Zeitalters zu begegnen. Die Zentralisation der Gewalt hat ein internationales Gefühl der Solidarität unter den Unterdrückten der Nationen dieser Welt entstehen lassen; eine Solidarität, die eine größere Interessenharmonie zwischen dem Arbeiter in Amerika und seinen Brüdern im Auslande aufweist als zwischen dem amerikanischen Bergarbeiter und seinem ausbeutenden Landsmann; eine Solidarität, die fremde Invasion nicht fürchtet, weil sie alle Arbeiter dahin bringen wird, zu ihren Herren zu sagen: »Geht und vollbringt das Geschäft des Tötens selbst. Wir haben es lange genug für euch getan.«
Diese Solidarität weckt sogar das Bewußtsein der Soldaten, die auch Fleisch vom Fleische der großen menschlichen Familie sind. Eine Solidarität, die sich mehr als einmal als unerschütterlich erwiesen hat in vergangenen Kämpfen, und die während der Kommune von 1871 für die Pariser Soldaten den Anstoß gab, den Gehorsam zu verweigern, als man ihnen befahl, ihre Brüder zu erschießen. Sie hat den Männern Mut gemacht, die in jüngster Vergangenheit auf russischen Kriegsschiffen meuterten. Sie wird allmählich den Aufstand aller Unterdrückten und Getretenen gegen ihre internationalen Ausbeuter auslösen.
Das Proletariat Europas hat die große Kraft der Solidarität realisiert und folglich einen Krieg gegen den Patriotismus und sein blutiges Gespenst, den Militarismus, begonnen. Tausende von Männern füllen die Gefängnisse von Frankreich, Deutschland, Rußland und den skandinavischen Ländern, weil sie es wagten, dem alten Aberglauben zu trotzen. Auch ist die Bewegung nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt; sie umfaßt Repräsentanten aller Gesellschaftsschichten und ihre bedeutendsten Vertreter sind Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller.
Amerika wird sich anschließen müssen. Der Geist des Militarismus durchdringt bereits alle Gebiete des Lebens. Ich bin in der Tat davon überzeugt, daß der Militarismus sich hier zu einer größeren Gefahr auswächst als irgendwo anders, da der Kapitalismus hier jenen, die er zu zerstören wünscht, so viele Bestechungsgeschenke anzubieten weiß.
Es beginnt schon in den Schulen. Offensichtlich hält es die Regierung mit der jesuitischen Devise: »Gib mir das Bewußtsein des Kindes und ich werde den Mann formen.« Kinder werden in militärischer Taktik geübt, der Ruhm militärischer Siege stundenplanmäßig besungen und das kindliche Bewußtsein pervertiert, um der Regierung zu gefallen. Außerdem wird die Jugend durch leuchtende Plakate verlockt, zur Armee oder zur Marine zu gehen. »Eine wunderbare Chance, die Welt zu sehen!« rufen die Marktschreier der Regierung. So werden unschuldige Knaben moralisch aufgerüstet für den Patriotismus, und der militärische Moloch schreitet erobernd durch die Nation.
Der amerikanische Arbeiter hat so sehr unter dem Soldaten des Staates und des Bundes gelitten, daß er völlig gerechtfertigt ist in seiner Abscheu vor und seiner Opposition gegen den uniformierten Parasiten. Bloße Denunziation wird dies große Problem allerdings nicht lösen. Was wir benötigen, ist eine Erziehungspropaganda für den Soldaten: anti-patriotische Literatur, die ihn über die wahren Schrecken seines Handwerks aufklärt, und die ein Bewußtsein seiner wahren Beziehung zum Arbeiter weckt, dessen Arbeit er seine Existenzgrundlage verdankt.
Und genau das fürchten die Autoritäten am meisten. Es ist schon Hochverrat, wenn ein Soldat an einer Versammlung Radikaler teilnimmt. Zweifelsohne werden sie es auch als Hochverrat abstempeln, wenn ein Soldat ein radikales Pamphlet liest. Aber hat nicht Autorität von undenklichen Zeiten an jeden Schritt nach vorn als Verrat gebrandmarkt?
Jene jedoch, die ernsthaft nach sozialer Rekonstruktion trachten, können es sich sehr wohl leisten, all dem entgegenzutreten; denn es ist wahrscheinlich sogar wichtiger, die Wahrheit zu den Soldaten in die Baracken zu tragen, als zu den Arbeitern in die Fabriken. Wenn wir erst einmal die patriotische Lüge untergraben haben, wird schnell der Weg bereinigt und bereitet sein für die großartige Konstruktion, in der alle Nationalitäten vereinigt sein werden in einer universalen Brüderschaft – einer wahrhaft FREIEN GESELLSCHAFT.
(1) Das von Achim von Borries und Ingeborg Weber-Brandies herausgegebene Buch "Anarchismus Theorie * Kritik * Utopie" (ca. 452 Seiten, ca. 21,50 Euro, ISBN 3-939045-00-4) erscheint voraussichtlich zur Leipziger Buchmesse im März 2006 im Verlag Graswurzelrevolution.
Der Band dokumentiert und kommentiert die libertäre Tradition vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit. Sowohl die theoretischen Grundpositionen der AnarchistInnen als auch ihr bedeutender Anteil an der Sozialistischen Bewegung, an der Russischen Revolution und am Spanischen Bürgerkrieg werden aufgezeigt. Das Buch enthält Arbeiten von Godwin, Proudhon, Bakunin, Kropotkin, Malatesta, Landauer, Rocker, Goldman, Voline, Read, Goodman und Souchy. Porträts der wichtigsten VertreterInnen des Anarchismus runden diese umfassende Textsammlung ab, die differenziert die komplexe Entwicklungsgeschichte des Anarchismus nachzeichnet und die meist unterschlagenen konstruktiven Tendenzen deutlich macht.
(2) Gemeint ist der Zeitraum von 1880 bis 1905. A.v.B.
Anmerkungen
Aus: Anarchism and other Essays. New York 1911, pp. 91 ff.
Aus dem Amerikanischen von Ingeborg Brandies