Es sprießt und knospt allerorten. Junges Grün bricht durch schwere Scholle, zartes Weiß überzieht wie duftender Tau Baum und Strauch. Der Frühling kommt und löst den strengen und viel zu langen Winter ab. Deutschland blüht auf.
Die Nation treibt in diesem Jahr besonders prächtige Blütenkelche. Im ganzen Land – gar über unsere Grenzen hinaus – leuchtet es in schwarz, rot und gold. Ob Bikini, Kartoffelchips oder Bockwürstchen – kein Produkt ist zu banal, um als Werbefläche für Nationalbewusstsein zu dienen. Mehr denn je und im Jahr der Fußballweltmeisterschaft erst recht scheint zu gelten: nation sells.
Die Deutschland-Kampagne, die ihren vorläufigen Höhepunkt in den kommenden Monaten mit der WM finden wird, ist jedoch nicht allein dem Fußballfieber sportbegeisterter Landsleute geschuldet: Der mediale Optimismus-Feldzug der neoliberalen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ sowie die schon jetzt legendäre Kampagne „Du bist Deutschland“ mit ihrem ästhetisch besonders ansprechenden Logo in Form eines schwarz-rot-goldenen Kothaufens – sie haben den Boden bereitet für das gewünschte nationale Selbstverständnis: selbstbewusst und optimistisch. Übersetzt heißt das: nationalkonservativ und wirtschaftsliberal. Oder: Leitkultur und Sozialabbau.
Kaum jemand bringt diese Symbiose so treffend auf den Punkt wie der Historiker Arnulf Baring. Im Jahr 2002 rief er die Massen in der FAZ zur Revolte gegen den Sozialstaat auf, ein Jahr darauf vermisste er im ZDF den „Enthusiasmus“ der Deutschen, den diese seinerzeit etwa ihrem Führer Adolf Hitler entgegengebracht hätten: Mit einem Bruchteil davon „wären wir aus allen Schwierigkeiten raus“.
Angesichts solcher wissenschaftlicher Ergüsse ist es nachvollziehbar, ja geradezu zwingend, dass BILD als Deutschlands klügste Zeitung Baring zu „Deutschlands klügstem Kopf“ auserkoren hat. Unter dem Titel „Multi-Kulti ist gescheitert“ erklärt Professor Baring am 5. April den interessierten Lesern, dass Deutschland viel zu lange keine „klare, an deutschen Interessen ausgerichtete Einwanderungspolitik mit eindeutigen Grenzen für den Nachzug von sozial bedürftigen Angehörigen“ umgesetzt habe. Und auf die gewohnt kritische Nachfrage von BILD („Ist es zu verantworten, noch mehr Ausländer hereinzuholen?“) weiß der kluge Kopf: „Soweit es Problemgruppen betrifft: natürlich nicht.“ Stattdessen plädiert er angesichts der Geschehnisse an der Berliner Rütli-Schule für Sanktionsmöglichkeiten für integrationsunwillige Ausländer, „also beispielsweise Kürzungsmöglichkeiten für Sozialhilfe und Kindergeld“.
Apropos Probleme an der Rütli-Schule – wo liegt nach Ansicht des Professors denn die Ursache für derlei Konflikte? „Da wir Deutschen ein geringes Selbstwertgefühl haben, wagten wir lange nicht, von den Zuwanderern Integrationsanstrengungen zu verlangen.“
In dieser Aussage ist der große Vorteil der Verbindung von Nationalkonservatismus und Neoliberalismus offensichtlich: Auf Soziale Fragen können nationale Antworten gegeben werden. Nicht etwa die drastische Chancenungleichheit des dreigliedrigen Schulsystems, nicht etwa die Ausgrenzung von MigrantInnen aus dem Arbeitsmarkt, oder gar die Aussichtslosigkeit auf einen Ausbildungsplatz nach der Hauptschule könnten Schuld tragen an Konflikten wie in Berlin-Neukölln. Die Integrationsunwilligkeit der Ausgegrenzten ist schuld! Und natürlich das mangelnde deutsche Selbstbewusstsein.
Aber an dem wird ja gegenwärtig kräftig gefeilt. So kräftig, dass offensichtlich rassistisch motivierte Mordversuche wie der am 16. April an einem Deutschen mit dunkler Hautfarbe die Außenwirkung unangenehm trüben könnte. Nachdem der Generalbundesanwalt die Ermittlungen in dem Fall an sich genommen hatte, da er von rechtsextremistischen Motiven ausging und die Sicherheit gefährdet sah, kamen postwendend Zweifel von der Stahlhelmfraktion der Union: Auf der Handymailbox, die den Streit zwischen Tätern und Opfer teilweise aufgezeichnet hatte, sind zwar Worte wie „scheiß Nigger“ deutlich zu hören, für Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm ist dies jedoch nicht zwangsläufig ein Zeichen für ein rassistisches Tatmotiv: Man wisse noch gar nicht, wie sich die Tat abgespielt habe und dürfe nicht vorschnell urteilen. Und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble entblödete sich nicht zu argumentieren: „Es werden auch blonde, blauäugige Menschen Opfer von Gewalttaten, zum Teil sogar von Tätern, die möglicherweise nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Das ist auch nicht besser.“
Was ist der Grund für derlei dummdreistes Geschwätz und substanzlose Relativierungen?
Rassistische Gewalt ist schlecht für den Standort, Potsdam hat unter Stornierungen ausländischer Touristen und Wissenschaftler zu leiden. Da mag man die ganze Geschichte ungern noch weiter breit treten, denn das schadet dem Selbstbewusstsein.
Und schließlich ist die Welt bald hier zu Gast bei Freunden. Bundeskanzlerin Angela Merkel weiß: Die Weltmeisterschaft ist die „einmalige Chance für Deutschland, sich der Welt als gastfreundliches, fröhliches und modernes Land der Ideen zu präsentieren. Ich bin überzeugt: Der Funke der Begeisterung und der Völkerverständigung wird bei der Fußball-WM von Deutschland auf die ganze Welt überspringen.“
Offiziell nicht bestätigten Hinweisen zufolge sind gar für die Zeit der WM Abschiebungen aus Deutschland storniert worden, um das Image nicht zu gefährden. Ein Beispiel: Wie der Flüchtlingsrat NRW mitteilt, hat eine Familie aus dem Rheinkreis Neuss statt der üblichen dreimonatigen Duldungen das Papier für vier Monate verlängert bekommen: bis zum 10. Juli. Das WM-Finalspiel ist am 9. Juli…
In einer ähnlichen Situation wie diese Familie sind bundesweit etwa 200.000 weitere Menschen mit Duldungsstatus.
Eine Bleiberechtsregelung – bei der letzten Innenministerkonferenz im Dezember vergangenen Jahres einmal mehr vertagt – wird zwar von immer mehr Seiten befürwortet. Es ist aber bereits abzusehen, dass auch die kommende Innenministerkonferenz am 6. Mai in Garmisch-Partenkirchen das Thema nicht entscheiden wird. Frühestens im Herbst besteht eine realistische Chance auf Verabschiedung einer eingeschränkten Altfallregelung. Wer würde davon profitieren? „Integration“ (was immer das heißen soll) und Sozialhilfeunabhängigkeit werden mit Sicherheit zwingende Voraussetzungen sein. Auch hier gilt also: Anerkennung der Leitkultur und ökonomische Verwertbarkeit passen gut zusammen. Da wird der Flüchtling, der zwar seit 20 Jahren mit einer Duldung in Deutschland lebt, aber dummerweise arbeitslos ist, wohl Pech haben und kein Bleiberecht erhalten.
Aber das ist es doch auch nicht, was zählt. Viel wichtiger ist für unseren Flüchtling seine optimistische Grundhaltung und das Bewusstein: „Ich bin Deutschland!“ Ganz egal wo auf der Welt.