Das hatte sich die französische Regierung de Villepin so gedacht: Wie immer in den westlich-kapitalistischen Systemen der letzten Jahrzehnte wurde der Ausweg einer vom Neoliberalismus verursachten Krise durch neuerlichen Neoliberalismus gesucht. Doch die durch den Erstanstellungsvertrag CPE von prekären Lebensverhältnissen Bedrohten regierten mit einer Revolte à la 1968, einem Fest des Widerstands! Mehrere Beiträge in dieser GWR bringen Innenansichten dieser erfolgreichen sozialen Massenbewegung. (Red.)
Auf die Novemberaufstände in den französischen Vorstädten (s. GWR 304) reagierte die konservative Regierung de Villepin mit der nächsten neoliberalen Gesetzesdeklaration (unter dem Orwellschen Namen „Gesetz für Chancengleichheit“), die in den Medien unverständlicher Weise immer „Reform“ genannt wird: Das Ausbildungsalter wurde auf 14 Jahre gesenkt; Jugendliche ab 15 Jahren dürfen bereits zur Nachtarbeit herangezogen werden; der Erstanstellungsvertrag CPE (Artikel 8 dieses Gesetzespakets) und der Folgevertrag CNE sollten Unternehmern das Recht geben, Kündigungen binnen zwei Jahren ohne weitere Begründung aussprechen zu können. Die Tendenz war klar: Die Jugendlichen sollten weg von der Straße und unter unwürdigen Bedingungen in prekären Arbeitsverhältnissen „geparkt“ werden, zum alleinigen Nutzen von Kapitalismus und Profitmaximierung.
De Villepin wollte insbesondere das CPE ohne Absprache mit Gewerkschaften und StudentInnenverbänden und sogar ohne Parlamentsdebatte im Schnellgang durchsetzen.
Doch diesmal liefen nicht nur die Jugendlichen der Vorstädte, sondern alle von der Prekarität betroffenen Französinnen und Franzosen Sturm.
Seit dem 7. Februar wurden Universitäten bestreikt, viele Hörsäle oft wochenlang besetzt. Die StudentInnen lebten und schliefen auf dem Campus, der Widerstand wurde zum Fest der Begegnung. Auf dem Höhepunkt der Bewegung, Ende März, wurden 64 von 88 Universitäten bestreikt. Die StudentInnen zogen vor die Lycées und forderten die SchülerInnen erfolgreich auf, sich ihnen anzuschließen. Symbolträchtige Orte wie die Pariser Sorbonne wurden erstmals seit 1968 wieder besetzt. Ebenso außergewöhnlich und an ’68 erinnernd war die Unterstützung, die die StudentInnen von den Gewerkschaften erhielten. Und diesmal bröckelte – wenigstens so weit es sich um die Ablehnung des CPE handelte – die Gewerkschaftseinheit der sechs maßgeblichen Gewerkschaften der französischen Arbeiterbewegung nicht. Die Regierung musste sich in einer für sie demütigenden Prozedur vom 5. bis zum 7. April dem Widerstand beugen und am 10. April einer „Ersetzung“ des CPE zustimmen, was gleichbedeutend mit seiner Abschaffung ist. (1)
Sieg in einer direkten Machtprobe
Der Vorgang wiegt umso schwerer, als die französische Regierung alle ihr zur Verfügung stehenden Macht- und Repressionsmittel einsetzte, um das CPE durchzuboxen. Sie setzte dabei auf die Schwäche und Zerstrittenheit der französischen Gewerkschaften, die die letzte große Machtprobe, den Kampf um die Flexibilisierung der Renten, im Jahre 2003 nach monatelanger Auseinandersetzung verloren hatte. Zwar war ein Gesetz zur Reform des Abiturs (Baccalauréat) von Bildungsminister Fillon nach StudentInnenprotesten 2005 sehr schnell zurückgezogen worden, doch das Gefühl, in einer harten Auseinandersetzung auf direkten Wege siegen zu können, kannte die französische StudentInnen- und Arbeiterbewegung schon lange nicht mehr, zuletzt war das bei der großen Streikwelle von 1995 der Fall.
Premier de Villepin verrannte sich und seine Regierung in eine bornierte Haltung. Auf dem Höhepunkt der Widerstandsbewegung unterstützte Präsident Chirac seinen Ziehsohn de Villepin, den er am liebsten als seinen Nachfolger bei den Präsidentschaftswahlen 2007 sähe, indem er am 31. März in einer Fernsehansprache die Umsetzung des CPE-Gesetzesvorhabens und seinen Eintrag in das Arbeitsrechtsregister ankündigte. Einen Tag zuvor hatte der französische Verfassungsrat eine Verfassungsklage gegen das CPE für ungültig und das Gesetzespaket für rechtens und verfassungskonform erklärt.
Um die Dimension des Erfolgs dieser Bewegung zu begreifen, muss betont werden, dass schon einige Tage später die Erklärung des Verfassungsrats und die des Präsidenten das Papier nicht wert waren, auf das sie geschrieben wurden. Die StudentInnen hatten am Place de la Bastille Lautsprecher aufgebaut und hörten Chiracs Ansprache zu, um ihn dann schallend auszulachen. Einen machtloseren Präsidenten hatte Frankreich nicht gesehen, seit de Gaulle 1968 nach Baden-Württemberg flüchtete. Was der Verfassungsrat – ein altehrwürdiges Organ der französischen Gewaltenteilung – zu sagen hatte, interessierte die Protestierenden gar nicht erst.
Der folgende überregionale Protesttag, 4. April, brachte mit mehr als zwei Millionen DemonstrantInnen eine Rekordbeteiligung, die Popularitätsmarge von de Villepin oder Chirac tummelte sich in Bereichen um die zwanzig Prozent. (2)
Der Massenbewegung gelang es in den Tagen vor und nach Chiracs Erklärung, das Regierungslager zu spalten und führende Politiker gegen de Villepin aufzubringen. Dabei kamen der Bewegung Eitelkeiten und Strategien führender Politiker für die kommende Präsidentschaftswahl zugute. Besonders Innenminister Sarkozy wandte sich früh von de Villepin ab und präsentierte sich nun plötzlich als Taube, nachdem er bei den Novemberaufständen sein repressives Konzept ohne Abstriche durchgezogen hatte. Er und weitere Mitglieder der konservativen Regierungspartei begannen schließlich einen Diskurs der „Krise“, aus der nun eine Lösung gefunden werden müsse. Plötzlich war de Villepin nicht mehr mit dem weiteren Vorgehen befasst, er wurde faktisch ausgebootet, und über Sarkozy entstand eine parlamentarische Kommission, die schließlich mit den sechs Gewerkschaften (ohne die CNT) die „Ersetzung“ des CPE aushandelte. Einziger Wermutstropfen: Durch den Sieg gegen die Betonköpfe de Villepin und Chirac stahl sich Sarkozy aus der Verantwortung und steht nun auf Regierungsseite als einziger Nicht-Beschädigter der Auseinandersetzung da.
Die ersten Kommentare von libertärer Seite dämpfen gleichwohl den Siegesrausch. Insgesamt habe es über 2.000 Festnahmen und 547 Ingewahrsamnahmen gegeben, gegen 68 Festgenommene wurden Haftstrafen ausgesprochen. Über das CPE hinaus sei es nicht gelungen, weitere Gesetze zur neoliberalen Flexibilisierung wie etwa das CNE zu stoppen; und die Gewerkschaftseinheit habe sich nicht über weitergehende Forderungen einigen können, wobei besonders die sozialdemokratische Gewerkschaft CFDT unter seinem dubiosen Chef Chérèque ins Blickfeld der Kritik geriet, die die angekündigten Streiktage faktisch nur halbherzig unterstützt habe. (3)
Ich meine jedoch, tatsächlich erkämpfte Siege sollten auch gefeiert werden. Durch die zweimonatige Widerstandsbewegung, die als der „März 2003“ in die französische Widerstandsgeschichte eingehen wird, ist eine Generation Jugendlicher ungemein politisiert worden, hat Erfahrungen in Selbstorganisation, freier Diskussion und direkter Aktion gewonnen und wird sich auch künftig nichts von oben aufdrängen lassen.
Und die Freiräume wurden zu alternativen Veranstaltungen genutzt.
Davon konnte ich mich bei einem internationalen Colloquium in der besetzten Universität Chambéry in der ersten Aprilwoche überzeugen, wo Referate über die Traditionen des Pazifismus und der gewaltfreien Aktion in den USA und Europa gehalten wurden, was auf das rege Interesse der streikenden StudentInnen stieß.
Die rechte Front National war während der gesamten Zeit der Bewegung publizistisch und organisatorisch abwesend, sie hat Terrain verloren. Bis zur Präsidentschaftswahl wird die konservative Regierung keine drakonische Sozialgesetzgebung mehr wagen, das Land bleibt ein Jahr lang paralysiert. Edouard, Student in Rennes, meint, die Bewegung sei „ein Schrei der Revolte. (…) Das verändert den vorbestimmten Lebensweg, den man uns verspricht: Studium, Arbeit, den Laguna (d.h. das Auto, die Rede ist vom Renault Laguna; d.A.) und das schöne Häuschen. Die Erfahrung (der Revolte; d.A.) erlaubt zu träumen: Wenn du 20 Jahre alt bist, hast du Lust zu träumen, du hast keine Lust auf diese Welt, wie sie ist, sondern darauf, alles zu zerstören, um eine schönere aufzubauen.“ (4)
Über Edouard heißt es, er sei ein wenig anarchistisch eingestellt, und: „Edouard sagt, er sei pazifistisch, wie die große Mehrheit seiner Genossen. Denn wenn sie Rücken an Rücken die Gewalt von gewaltsamen Aktivisten und die der Sicherheitskräfte zurückweisen, wollen sie zugleich ihre Wut auf eine festliche Weise ausdrücken.“ (5)
(1) Patrick Roger: Trois jours pour tuer le CPE, in: Le Monde, 19.4., S. 3
(2) La rue frappe à la porte des négociations, in: Libération, 5.4., S. 2
(3) La CFDT aurait-elle changé?, sowie Editorial in: Le Monde libertaire, Nr. 1435, S. 3f.
(4) Zit. nach Pierre-Henry Allain: A Rennes, deux mois de conflit et une mobilisation intacte, in: Libération, S. 3f., hier S. 4
(5) Ebenda, S. 4. Zur Diskussion um die Gewaltfrage siehe den entsprechenden Artikel in dieser GWR