Wenn am 22. Mai Bundeskanzlerin Merkel in alter deutscher Tradition mit einem Tross von Wirtschaftsvertretern nach China reisen wird, will sie auch der deutschen Industrie die Türen öffnen und zu neuen Aufträgen verhelfen. Ein in diesem Riesenland vergleichsweise kleiner Landstrich wird hierbei eine besondere Rolle spielen, weil er seit langem mit Deutschland in inniger Verbindung steht.
Eine alte Geschichte…
Es ist der Ort, wo seit über 100 Jahren Bier nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, wo Wilhelm II. bis 1914 im kaiserlichen Kolonialstützpunkt das Sagen hatte und später Bayer, Rheinmetall, Degussa – und wo im nächsten Jahr eine tot geglaubte altdeutsche Technik aus der Versenkung heraustritt, um erneut die Welt zu erobern: Hier auf der Halbinsel Shandong wird nicht zufällig der Thorium Hochtemperatur-Reaktor (THTR) gebaut.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte China bei vielen militärischen Konflikten Niederlagen hinnehmen müssen. In den folgenden Jahren verlangten europäische Großmächte, Japan und Russland Hafenrechte, Konzessionen, Einflusszonen und Kriegsentschädigungen.
China als Selbstbedienungsladen der Finanzimperien wurde für Deutschland interessant.
Bereits 1860 erkundete eine preußische Expedition die Gegend der Kiautschou-Bucht auf der Halbinsel Shandong, was in den folgenden Jahren zum Abschluss verschiedener Handelsverträge führte. 1890 wurden christliche Missionsstationen unter „Schutz“ gestellt, und es begann der Wettlauf um Bergbau- und Bahnkonzessionen.
1898 nötigte das Deutsche Kaiserreich China einen auf 99 Jahre „befristeten“ Vertrag über ein Pachtgebiet in der Kiautschou-Bucht auf. Die hier neu entstandene Stadt Tsingtau wurde ein paar Wochen später in ein deutsches „Schutzgebiet“ umgewandelt und das Territorium in einem Umkreis von 50 Kilometern zu einer „neutralen“ Einflusszone erklärt. Die deutsche Firma Carbwitz & Co. sicherte sich beim Bau der Eisenbahnlinie von Qingdao in die Provinzhauptstadt Jinan für einen 15 Kilometer breiten Korridor rechts und links der Bahnlinie das Recht für die Ausbeutung von Kohleminen.
Die Folge zahlloser unter Zwang und Druck abgeschlossener Verträge war die halbkoloniale Versklavung großer zusätzlicher Gebiete Chinas. Die Ermordungen von zwei deutschen Missionaren und des deutschen Gesandten Baron von Ketteler mussten im Gefolge des „Boxer-Aufstandes“ für mehr als 40 blutige Strafexpeditionen des deutschen Kaiserreiches in Nordchina herhalten.
Der Brigadekommandant Lothar von Trotha nahm übrigens nicht nur an der Niederschlagung des Boxeraufstandes teil, sondern auch vier Jahre später an dem Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. Wilhelm II. rief seine Soldaten in der berüchtigten „Hunnenrede“ am 27.7.1900 zur Schonungslosigkeit auf: „Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“
Nach der weitgehenden Unterwerfung Chinas durch die neuen europäischen Kolonialherren konnten die Geschäftsinteressen deutscher Firmen intensiver weiterverfolgt und immer mehr diskriminierende Konzessionsverträge abgeschlossen werden. 1914 besaßen deutsche Konzerne 16 % der Anleihen in China. Die Verwaltung von Qingdao unterlag dem Reichsmarineamt. Zu Beginn des 1. Weltkrieges wurde das dort stationierte dritte Seebatallion (1.400 Mann) durch 3.400 weitere Soldaten verstärkt. Nach wochenlangen Kämpfen gegen japanische und britische Truppen kapitulierte am 7.11.1914 die deutsche Truppe. Qingdao wurde durch Japan besetzt.
Die aktuelle Entwicklung
Und wie sieht die Situation heute aus? China und Deutschland bemühen sich, den Konzernen alles Recht zu machen, damit sie investieren. Sicherlich räumen beide Seiten ein, dass die Vergangenheit gewisse „Schatten“ hinterlassen habe. Aber wo das Geschäft winkt, wird sogar von chinesischen Wissenschaftlern mal eben ein koloniales Terrorregime in eine „Musterkolonie“ mit Universität, deutscher Architektur und hundertjähriger Brauereitradition umdefiniert, die damalige „Modernisierungsleistung“ der Deutschen gelobt und fleißig „differenziert“: „Auf der anderen Seite sind Aspekte wie der Bau von Eisenbahnenlinien und die dadurch erreichte Belebung der Wirtschaft der Region und die Entwicklung Qingdaos zur modernen Stadt, der Aufbau einer modernen Verwaltung und eines modernen Ausbildungssystems nicht zu bestreiten. (…) Muß man gar das Ende des kolonialen Zeitalters betrauern?“ schrieb 1998 Jing Dexiang in dem Tsingtau-Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums.
In den letzten Jahrzehnten sind beide Länder in beiderseitigem Geschäftsinteresse im Eiltempo aufeinander zugegangen. Helmut Kohl hat während seiner Chinareise 1995 Qingdao besucht und neue Kooperationen angebahnt.
Nukleare Kooperation zwischen China und Deutschland
So ist nicht wirklich verwunderlich, dass die in Deutschland entwickelte HTR-Linie hier ihren Neuanfang nimmt. Ein Konsortium aus Huaneng, Tsinghua und China Nuclear Engineering and Construction (CNEC) hat sich dafür entschieden, bei Weihai an der Nordküste der Halbinsel Shandong einen 195 MW-THTR zu bauen. Huaneng, einer von Chinas größten Stromerzeugern, erhält 50 % in dem Joint Venture. 2007 ist Baubeginn, 2010 soll der THTR fertig sein.
Auch diese neuere Entwicklung hat eine unmittelbare Vorgeschichte. Bereits 1976 bereisten Ingenieure der Essener Vereinigung der Großkraftwerke (VGB) China und sprachen eine Einladung nach Deutschland aus. 1978 besuchte der stellvertretende Energieminister Chinas, Chan Pin, den damals im Bau befindlichen THTR in Hamm/Westfalen. Schon in den 80er Jahren bestanden intensive Kontakte zwischen dem Kernforschungszentrum Jülich, wo der THTR entwickelt wurde, und der Tsinghua Universität in Peking. Auch nach dem Massaker auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ im Jahre 1989 in Peking arbeiteten deutsche und chinesische Wissenschaftler an mehreren Studien für einen zu bauenden HTR in China.
Der Kernphysiker Wang Dazong hatte in der mit Jülich kooperierenden RWTH Aachen promoviert und seine Doktorarbeit über kleine HTRs geschrieben. Er ging zurück nach China, machte Karriere und wurde Präsident der Pekinger Tsinghua Uni. China kaufte die stillgelegten Anlagen aus Hanau zur Herstellung der HTR-Brennelemente – der Skandal blieb damals aus – und erwarb das noch fehlende Know how. 1995 begannen die Chinesen mit dem Bau eines 10 MW-Versuchsreaktors auf dem militärisch gesicherten Gelände der Pekinger Universität. Im Jahre 2000 wurde der Reaktor erstmals kritisch. Eine rege internationale Tagungstätigkeit begleitet den Versuchsbetrieb. Deutsche Wissenschaftler und Verbandsvertreter sind natürlich immer dabei.
Inzwischen ist Shandong vom chinesischen Staatsrat zu einer „ökologischen Provinz“ erklärt worden. Vom 11. bis zum 13. Januar 2006 fand in Qingdao das zweite Deutsch-Chinesische Umweltforum statt. Neben dem deutschen Umweltstaatssekretär Matthias Maching reiste auch Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) an. Es nahmen mehr als zweihundert Teilnehmer aus Wirtschaft und Politik teil. Die deutschen Forschungszentren setzten in diesem Rahmen ihre altbekannte Arbeit fort. „Zusammenarbeit im Technologiebereich“, „Energieeffizienz“ und „gemeinsame Bemühungen zur Förderung der nachhaltigen Nutzung von Ressourcen“ heißt es im Text der „Qingdao-Initiative“ zum Ziel der Veranstaltung. Da von der Atomindustrie inzwischen Uran als „natürlicher Rohstoff“ und AKWs als „nachhaltige Energieform“ deklariert werden, kann sie hier ohne Probleme mitmischen.
Anmerkungen
Weitere Infos zum HTR in China befinden sich in den THTR-Rundbriefen Nr. 88 und 98: www.thtr-a.de