Anfang April 2006 wurde ein Brief des Lehrerkollegiums der Berliner Rütli-Hauptschule bekannt, in welchem die PädagogInnen beklagten, dass an ihrem Institut ein regelrechter Unterricht nicht mehr möglich wäre.
An der Rütli-Schule sind weniger als 20 Prozent der SchülerInnen „Einheimische“, und die Gruppe der „türkischen“ SchülerInnen, die knapp 30 Prozent ausmacht, fühle sich teilweise, wie zu lesen war, von der noch stärkeren Gruppe der „libanesischen“ Mitschüler bedrängt.
Der bekannte Karikaturist Horst Haitzinger nahm diese Nachricht zum Anlass, eine zweiteilige Karikatur zu zeichnen. Auf dem ersten Bild sieht man einen Mann schlafend im Bett.
Er zeigt einen glücklichen Gesichtsausdruck, und eine Denkblase macht deutlich, dass er von etwas träumt, das mit dem Ausdruck „MULTIKULTI“ sowie Herzen, Blumen, Musiknoten sowie einer Glocke dargestellt wird. Auf dem zweiten Bild ist der Träumer hochgeschreckt, mit entgeistertem Blick starrt er auf einen überdimensionalen Wecker, der offenbar mit ohrenbetäubendem Lärm zu klingeln begonnen hat. Die Glocke dieses Weckers trägt die Aufschrift „RÜTLI-SCHULE“.
Die Gesamtkarikatur trägt die kommentierende Unterschrift „Böses Erwachen“.
Was Haitzinger dem Betrachter sagen will, ist, dass die unerfreulichen Vorgänge an der Rütli-Schule in Berlin den Traum von „Multikulti“ jäh beendet haben. Diese Aussage wirft Fragen auf.
Wer träumt da? Dem Genre der Karikatur entsprechend, handelt es sich bei dem Träumer, der keine Züge einer prominenten Person trägt, um eine Allegorie. Er steht für ein Kollektiv. Welches Kollektiv das sein könnte, wird nicht durch Textaufdrucke verdeutlicht, aber es muss ein Kollektiv sein, dass in irgendeiner Beziehung zur Rütli-Schule und zu „Multikulti“ steht: ein politisches Willensbildungs-Kollektiv. Eigentlich kann es sich nur um die Entität „Deutschland“ handeln, das im Karikaturen-Diskurs seit langem durch einen mit Schlaf-Attributen ausgestatteten „Michel“ versinnbildlicht wird. Haitzingers Schläfer hat, so lässt sich vermuten, nur deswegen nicht die sonst obligatorische Schlafmütze dieses „Michel“ auf dem Kopf, damit ihm im zweiten Bild sichtbar die Haare zu Berge stehen können.
Wovon träumt Haitzingers Deutscher Michel?
Das Kürzel „Multikulti“ steht für die Vision und/oder die Realität einer „multikulturellen Gesellschaft“, das heißt: des Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen.
Die bildlichen Elemente in der Traumblase sollen andeuten, dass der Träumer die multikulturelle Gesellschaft wohlwollend betrachtet, als einen Ort der Harmonie. Der Schlafende steht, wie wir bereits herausgefunden haben, für Deutschland (bzw. genauer: für die deutsche Öffentlichkeit) insgesamt. Haitzinger will also insinuieren, in Deutschland herrsche bislang ein idyllisierendes Bild von der multikulturellen Gesellschaft vor.
Wünscht sich der Schlafende jenes „Multikulti“ nur, oder setzt er es als gegeben voraus? Würde die erste Möglichkeit zutreffen, wäre schwer zu plausibilisieren, warum die Situation an der Rütli-Schule ein „Böses Erwachen“ bewirken sollte.
Wenn Michel schon vorher wusste, dass der wünschenswerte Zustand nicht verwirklicht war, fände er sich jetzt nur bestätigt.
Haitzinger will also sagen, dass die öffentliche Meinung in Deutschland bislang der Ansicht gewesen sei, eine harmonische multikulturelle Gesellschaft sei in Deutschland bereits Realität.
In welchem Verhältnis steht „RÜTLI-SCHULE“ zu „MULTIKULTI“?
Die Problemschule ist jene Ursache, die den Deutschen Michel aus seinen Multi-Kulti-Träumen aufweckt. Darin ist eine Aussage über die Ursache der Probleme an der Rütli-Schule enthalten: Diese werden nämlich, so will uns die Karikatur sagen, durch den Multi-Kulti-Traum verursacht. Lässt man Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund „einfach so“ an einem Ort zusammen, dann knallt es.
Welche Handlungsanweisung sollen wir der Karikatur entnehmen? Haitzinger will uns offenbar sagen, dass die Rütli-Schule den Abschied von „Multikulti“ entweder schon bedeute oder aber erfordere. In jedem Fall ist eine Politik erheischt, die das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Kulturen negiert. (Dass die Zeiger des Weckers auf Fünf nach Zwölf zeigen, indiziert nach heutigem Usus verschärften Handlungsbedarf.) Im Rahmen der einschlägigen politischen Debatten kann damit gemeint sein, dass Maßnahmen der „Zwangsintegration“ unterstützt werden oder die Verringerung der Zahl der „Ausländer“ in Deutschland.
Die Aussage der Karikatur lässt sich also wie folgt zusammenfassen:
Die deutsche Öffentlichkeit glaubt, in einer funktionierenden multikulturellen Idylle zu leben. Die Zustände an der Rütli-Schule wecken sie jetzt aus diesem falschen Traum; sie erfordern Zwangsmaßnahmen gegen in Deutschland lebende „Ausländer“.
Haitzinger nimmt also hier mit einer betont reaktionären Zielrichtung Stellung zu einem heiklen Tagesproblem.
Bemerkenswert daran ist, dass er ein pädagogisches Problem auf ein ausländerpolitisches eindampft und damit vom Wesentlichen ablenkt. Die meisten schulpolitischen Analysen gehen in Deutschland nicht erst seit den Vorgängen um die Rütli-Schule, sondern bereits seit dem sogenannten Pisa-Schock (und eigentlich sogar seit der Bildungsreform-Debatte der 60er Jahre) davon aus, dass die Selektion zehnjähriger SchülerInnen in ein drei- oder viergliedriges System beträchtlichen Schaden am Bildungsstand der Jugend anrichtet, und seit Jahren ist klar, dass die Hauptschulen im Wesentlichen zu Aufbewahrungs-Anstalten für jene Jugendlichen geworden sind, die nie eine Chance haben werden. Sprachliche Benachteiligung und ausländerskeptische Vorurteile wirken zusammen, um dieser Chancenverweigerungsanstalt auch eine ausgesprochen rassistische Note zu verleihen. (Die meisten HauptschullehrerInnen können wahrscheinlich nichts dafür; sie müssen für weniger Geld mehr Unterrichtsstunden in einer wesentlich schwierigeren Unterrichtssituation absolvieren als ihre KollegInnen etwa am Gymnasium.)
Die Rütli-Schule ist ein Symptom dieser Misere.
Das dreigliedrige preußische Schulsystem war schon zu Zeiten, als es einen relativ guten Bildungs-Output hervorbrachte (also im 19. Jahrhundert), eine durch und durch autoritäre, seelenschindende Struktur; heute ist es zudem ein gigantisches Bildungshindernis.
Aber ich halte jede Wette, dass auch die aktuellen Vorgänge nichts daran ändern werden. Die Schulpolitik ist in Deutschland der irrationalste aller politischen Bereiche. Hier hat man seit 1918 jeden, aber auch jeden vernünftigen Veränderungsvorschlag mit der „Gleichmacherei“-Keule schroten können. Jetzt kommt noch die Multikulti-Keule hinzu. Dafür muss Haitzinger sich einen Michel erfinden, der grotesker gar nicht die Realität verfehlen könnte. (Wie wäre wohl z.B. die Sitzverteilung im Bundestag, wenn Michel tatsächlich von Multikulti träumen würde?)
Der echte Michel liegt derweilen in seinem Bett und träumt selig von Kindern, die in Reih und Glied in der jeweiligen richtigen Schublade stehen. Wenn der Wecker schrillt, schreckt Michel hoch und glaubt, er sei aus einem Multikulti-Traum erwacht.
Dass diese Selbsttäuschung so bleibt – dafür sorgen auch Karikaturisten wie Haitzinger.