Größere Teile der linken Öffentlichkeit werden im Frühjahr 1995 mit Sympathie registriert haben, dass der drohende Konkurs der Ostberliner Tageszeitung junge Welt (jW) abgewendet werden konnte. Seitdem erscheint das 1947 gegründete, frühere Organ der DDR-Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend) stabilisiert, in größerem Outfit und mit wachsender LeserInnenschaft. Aber: Was verbreitet diese Zeitung tagtäglich?
„Die aktuellen Debatten um den Jahrestag des Reaktorunfalls in der Ukraine sind symptomatisch für die geistige Lähmung. (…) momentan (finden) umso mehr Misanthrophen und Fortschrittsmuffel Gehör, die uns weismachen wollen, daß Windräder, neuerdings auch die Güllevergasung und Getreideverbrennung (Bioenergie) oder andere Low-Tech-Methoden dafür prädestiniert sind, unsere zukünftige Energieversorgung aufrechtzuerhalten (…) Der Hinweis auf Tschernobyl dient dazu, andere, ambitionierte Projekte wie den ITER als Größenwahn erscheinen zu lassen.“ (Thomas Deichmann, junge Welt, 6.3.06)
„Graswurzelrevolution, die Monatszeitung für Misanthrophen und Fortschrittsmuffel, ist da!“ (GWR-Anzeige in der jW)
Die jW versteht sich in ihrer Inlandsberichterstattung als Korrektiv zum angepassten halblinken Mainstream der Linkspartei/PDS und unterstützt diesen dort, wo er ausnahmsweise soziale Positionen vertritt.
Eine enge Zusammenarbeit mit marxistischen Foren wie der Kommunistischen Plattform ist da angesagt. Es fällt auf, dass unproduktive Auseinandersetzungen zwischen WASG und Linkspartei insbesondere um konkurrierende Parlamentskandidaturen in den letzten Monaten immer größeren Raum einnehmen. Das bringt die sozialen Bewegungen nicht weiter, sondern lenkt ab von wichtigeren Aktivitäten und dringend notwendigen direkten Aktionen.
Darüber hinaus bietet die jW in der Auslandsberichterstattung StreiterInnen für den untergegangenen Staatssozialismus reichlich Platz. Anhand mehrerer Themenfelder zeigen wir für uns unannehmbare autoritäre Tendenzen und Inhalte in der Berichterstattung der jungen Welt auf.
Seit dem Ende des Staatssozialismus ab 1989 in den Ländern des Ostblocks beschäftigt sich die jW mit einer Analyse des Scheiterns der kommunistischen Parteien. Sie nennt diesen Untergang „Eigentumsumsturz“ zurück zum Kapitalismus. Alle gesellschaftlichen Kräfte, die jenen Umsturz zu be- oder verhindern trachteten oder trachten, stehen daher für die jW auf der richtigen Seite. Und hier kommt Lukaschenko, der autokratische Staatspräsident von Weißrussland/Belarus ins Spiel, proudly presented by jW. Erst im letzten März wurde er von den WeißrussInnen wieder gewählt, angeblich mit einer beachtlichen Prozentzahl der Stimmen über der 80 %-Grenze. Unzählige Artikel widmet die jW ihrem Liebling Lukaschenko, zumeist von Werner Pirker geschrieben.
Belarus als anti-neoliberale Alternative
Pirker hat Belarus vor der letzten Präsidentschaftswahl besucht und in einem langen, detaillierten Beitrag (2) seine Eindrücke geschildert. Danach hätte die Lukaschenko-Administration seit 1993 erfolgreich verhindert, dass es einen Ausverkauf von Staatseigentum gab; gleichfalls gäbe es regelmäßig Löhne, Gehälter und Renten. Pirker vergleicht diese sozialen Tatbestände mit denjenigen in den Nachbarrepubliken. So erklärt er, wieso die Opposition gegen Lukaschenko keine breite soziale Basis habe. Er gesteht zu, dass Lukaschenko autoritäre Züge als Präsident habe. Hoch erfreut weist Pirker aber auf die wirtschaftliche Dynamik und die angebliche soziale Ausgeglichenheit in der Gesellschaft hin. Deshalb sei sein System auch eine praktizierte Alternative zum Neoliberalismus. Und diese Alternative ist für die jW so alternativlos, dass sie mit beinahe allen Mitteln verteidigt werden muss.
So schreibt Pirker Ende März (3) über den Polizeieinsatz in Minsk gegen Oppositionelle:
„Der Polizeieinsatz gegen die nicht zugelassene Demonstration mag brachial gewesen sein.
Doch wenn das der Rundumschlag einer wildgewordenen Staatsmacht gewesen sein soll, was sind dann die Kesselschlachten, die von den Ordnungskräften in westlichen Metropolen den Globalisierungsgegnern geliefert werden?“
Gleichfalls wird im Vorfeld der Wahl auch der BSV Ziel einer Attacke (4): „Ausgebildet für den Graswurzelkampf werden die ‚gewaltfreien Aktivisten‘ unter anderem vom ‚Bund für soziale Verteidigung e.V.‘ mit Sitz in Minden. Die Gruppe versteht sich als Teil der deutschen Friedensbewegung und leitet in aller Unschuld EU-Gelder an die Umstürzler in Minsk weiter. Ihr binationales Trainingsprogramm ‚Zivilcourage für Menschenrechte‘ an diesem Wochenende wird von der deutschen Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ mit einem fünfstelligen Betrag gefördert.“
In der Graswurzelrevolution Nr. 306 hat Thomas S. Eiselberg differenziert zu den Aktivitäten verschiedener „gewaltfreier Revolutionäre“ in Osteuropa und Zentralasien Stellung genommen und betont, dass es sicherlich keine Graswurzel-Revolution ist, wenn diese sich darauf beschränkt, die politischen Herrschaftseliten nur auszuwechseln: „Gewaltfreie Aktion wird so vom gesellschaftlichen Ziel einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung getrennt, für andere Zwecke (nationale Interessen) eingesetzt. Der Begriff der gewaltfreien Revolution kommt so auf den Hund.“ Den Versuch der jW, libertäre Revolutionäre („Graswurzelkampf“) in einen Topf mit US-gesponserten Oppositionellen zu werfen, haben wir durch unsere eigenen Aussagen widerlegt.
Wo die jW auf der einen Seite richtiger Weise die Medienmacht von z.B. Berlusconi kritisiert, drückt sie auf der Seite der osteuropäischen Republiken beide Augen zu.
Fakt ist, dass es in Belarus keine freien Medien gibt.
Aber dies kann alles hinter einem weiteren, letztlich entscheidenden Aspekt zurücktreten, der geopolitischen Analyse. Sylvester 2005 (5) blickt Pirker auf das Jahr zurück und stellt fest: „Strategisches Ziel aller bunten Revolutionen ist die Einnahme Moskaus.“ Pirker analysiert die Entwicklungen in der Ukraine, Usbekistan, Georgien, Kirgisien und meint, dass der Griff nach Moskau durch die „weltmarktbeherrschenden Kräfte“ immer bedrohlicher werde. Von daher hat er volles Verständnis für die Maßnahme der russischen Administration, Nichtregierungsorganisationen unter behördliche Aufsicht zu stellen. Nicht nur in den europäischen Ex-Ostblock-Ländern sieht die jW etwas Positives, Sozialistisches. Die Ergebnisse des letzten Volkskongresses in China beschreibt Rainer Rupp (6) unter dem Titel: „Linksruck in China … Sozialistische Werte wiederentdeckt.“
Es bedarf schon einer (un)gehörigen Portion Wegschauens, um in der VR China heutzutage auch nur Ansätze für sozialistische Werte zu entdecken. In einem Beitrag in der FR führt Karl Grobe (7) aus: „Eine südchinesische Tageszeitung rechnete dieser Tage aus, dass es in China derzeit 236.000 Dollar-Millionäre gebe. Sie hätte eine weitere Zahl hinzufügen können: Diese Reichen verfügen über persönliche Einkommen, die fast tausendmal höher sind als die der ärmsten zehn Prozent. Und erstmals seit 1979 nimmt die Zahl der absolut Armen wieder zu. Als arm gilt, wer weniger als 70 Euro verdient – im Jahr. Das sind derzeit 29 Millionen Chinesen.“
Die jW ließ im Januar 2006 (8) auch Herwig Lerouge, Mitglied des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Belgiens (PTB) und Leiter ihrer Forschungsabteilung, zu Wort kommen.
Die PTB ist eines der letzten Überbleibsel der maoistischen Parteien in Westeuropa und hat 1989 folglich die blutige Niederschlagung auf dem Tienanmen-Platz in Peking in ihrer Zeitung „solidair“ verteidigt.
Verharmlosung der Katastrophe von Tschernobyl
Genau drei Wochen vor dem 20. Tschernobyljahrestag veröffentlichte die jW auf ihrer Wissenschaft- & Umweltseite den Artikel „Atomkraft? Ja, bitte“. Es war keine Satire. Rückwärtsgewandte „Misanthropen und Fortschrittsmuffel“ – „geistig gelähmt“ und argwöhnisch gegenüber den technologischen Errungenschaften der Menschheit – verkümmerten diesem Artikel zufolge voll „Demut vor der Artenvielfalt“ in einer „latenten Weltuntergangsstimmung“ dahin, obwohl „in Deutschland noch kein einziger Mensch Opfer eines Reaktorunfalls wurde, sehr wohl aber beispielsweise allein 2005 vier Menschen bei der Explosion einer Biogasanlage starben“.
In einem zweiten Artikel werden die verharmlosenden Tschernobyl-Opferzahlen der Atomkraft-Lobbyorganisationen IAEO mitsamt ähnlich lautenden Regierungserklärungen ernsthaft als seriöse Informationsquelle genannt. Dies ist eine unverschämte Verhöhnung der Strahlenopfer. Auch wenn später anderslautende Berichte von atomkritischen Organisationen abgedruckt wurden, so ist festzuhalten, dass kein Aufschrei des Entsetzens über diese Zumutung zu vernehmen war.
Warum gingen diese beiden Artikel bei den LeserInnen der jW kommentarlos durch?
Wurde eine ganze Seite Atompropaganda von ihnen einfach übersehen? An einer unüberschaubaren Artikelfülle kann es nicht gelegen haben.
Ist die bisherige atomkraftkritische Berichterstattung zum unverbindlichen, schmückenden Beiwerk im linken Potpourri verkommen? Interessiert das Thema in der jW gerade mal ein gutes Dutzend atomkritischer ÖffentlichkeitsarbeiterInnen?
War unser angenommenes Interesse der jW-LeserInnenschaft an kritischer Berichterstattung über Atomkraft nur eine Illusion? Denn diese diskutiert offensichtlich lieber seitenlang die Probleme der marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis in allen Einzelheiten. Ist dann die jW noch der richtige Ort, atomkritische Gegenöffentlichkeit herzustellen, wenn sowieso wurscht ist, was zu diesem Thema in dieser Zeitung steht? Eine potentielle Zielgruppe für aktivierbare AtomkraftgegnerInnen hätte sich sicher anders verhalten.
„Anarchistische und syndikalistische Elemente“
Als Historiker und zugleich Chronist der Roten Hilfe e.V. wirft jW-Autor Nick Brauns 85 Jahre nach dem Niedermetzeln des libertär-sozialistischen Kronstadter Matrosenaufstandes in der Sowjetunion einen Blick auf die damaligen Ereignisse. (9) Dabei kommt er zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es für die Bolschewiki und die junge Sowjetrepublik keine Alternative zur gewaltsamen Beendigung des Aufbegehrens gegeben habe.
Brauns versteigt sich zu folgender Analyse der sozialen Struktur des Aufstands: „Da der – von den Bolschewiki vorher als Artilleriefachmann eingesetzte – ehemalige zaristische General Koslowski auf Seiten der Aufständischen aktiv war, hieß es, hinter dem Aufstand stünden die Weißgardisten. In Wirklichkeit dominierten anarchistische und syndikalistische Elemente.“
Auch heute noch Anarchisten und Syndikalisten abwertend als „Elemente“ zu bezeichnen, deutet auf Lernunfähigkeit hin.
Er pflichtet Trotzki bei, der in der Niederschlagung eine „tragische Notwendigkeit“ gesehen hatte. Denn im Kern geht es um „die Beibehaltung und Straffung der politischen Macht der Bolschewiki“ zu Ungunsten der freien Räte. Solche tragischen Notwendigkeiten sollte es in den folgenden Jahrzehnten noch viele geben. Wenn an ihnen von Nick Brauns und dem ihm nahestehenden politischen Lager beharrlich festgehalten wird, so wissen wir, was uns vielleicht eines Tages erwartet: „Sorry, da ihr Konterrevolutionäre seid, müssen wir euch leider alle umbringen!“
Es ist gut, dass Brauns seine Rechtfertigung für die brutale Unterdrückung anderer sozialistischer Strömungen mit Bezug auf eine historische Situation noch einmal betont. Vielleicht hatten einige von uns die Illusion, dass eine Aufarbeitung der staatssozialistischen Periode und ein Umdenken in bestimmten marxistischen Gruppen stattgefunden hätte.
Aber wie verträgt sich die Haltung des vielschreibenden jW-Autors mit dem Anspruch der jW, eine „linkspluralististische“ Zeitung zu sein, wo hier nachträglich die physische Auslöschung eines Teils der linken Strömungen gerechtfertigt wird?
Fakt ist, dass angesichts eingeschränkter Möglichkeiten, in bürgerlichen Medien zu Wort zu kommen, viele Libertäre (und Bürgerinitiativen) froh sind, auch mal einen Artikel in der jW unterbringen zu können, um das eigene Anliegen bekannt zu machen. Das ist einerseits verständlich. Aber fühlen sie sich in diesem Umfeld gut aufgehoben?
Die jetzige unbefriedigende Situation sollte zu verstärkten Überlegungen führen, wie eine stärker libertär ausgerichtete Presse mit höheren Auflagenzahlen weiterentwickelt werden könnte.
Die jW bietet einerseits einer bestimmten Strömung des rückwärtsgewandten Staatssozialismus ein bevorzugtes Forum, andererseits schafft es die Zeitung aber auch, darüber hinausgehende Kreise anzusprechen. Ob das in Zukunft so bleiben wird, ist eine spannende Frage. Die für uns wichtigere lautet aber anders: Wie entwickeln sich unsere libertären Medien weiter und was tun wir dafür?
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(1) Die von Franz Neumann in seinem Beitrag Anarchismus zum Handbuch der politischen Theorien, Baden-Baden 1974, verwendete Unterscheidung zwischen einem 'libertären' und einem 'autoritären' Sozialismus halten wir für hilfreich und verwenden sie in diesem Beitrag. Dabei ist klar, dass autoritär und Sozialismus ein Widerspruch in sich sind.
(2) jW vom 8.4.06 (Die administrativen Ressourcen) und vom 10.4.06 (Sa Belarus - für Belorußland)
(3) jW vom 27.3.06: Machtprobe in Belarus
(4) jW vom 18.2.06: Umsturzhilfe Ost für Belarus
(5) jW vom 31.12.05: Rußland im Zangengriff
(6) jW vom 15.3.06: Linksruck in China
(7) FR vom 18.10.04: China: Zwischen Reichtum und Armut
(8) jW vom 25.1.06: Klassenkampf von oben
(9) jW vo