70 jahre spanische revolution

Die „Affaire Polanco“

Anmerkungen zur Politik der Seligsprechung katholischer "Märtyrer des Spanischen Bürgerkriegs" durch den Vatikan

| Martin Baxmeyer

Am 11. März 2001 fand auf dem Petersplatz in Rom eine außergewöhnliche Veranstaltung statt: 233 Geistliche, die während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) ihr Leben verloren hatten, wurden von Papst Johannes Paul II. in einer feierlichen Zeremonie selig gesprochen - die größte "Massenseligsprechung" in der Geschichte der katholischen Kirche.

Zehntausende wohnten diesem Ereignis bei, darunter allein 25.000 Spanierinnen und Spanier. Spanische und katalanische Fahnen wurden geschwenkt, man sang religiöse Lieder, führende spanische Politiker und Vertreter des hohen Klerus waren zugegen. Entgegen sonstiger Gepflogenheiten waren keine Fotographien der Seligen aufgestellt worden. Statt dessen zierten 233 Großbuchstaben den Platz – „P“ für „Pace“ [‚Frieden‘] -, eingelassen vor einem Kreuz und umrandet von einem Lorbeerkranz: das Symbol des Märtyrers San Vicente, Schutzpatron der spanischen Stadt Valencia, denn 226 der 233 Seligen stammten aus dem Erzbistum in der Levante.

Die katholische Kirche Spaniens war glücklich – glücklich, aber nicht zufrieden. Bis heute sind in Rom 10.000 [!] Anträge auf Seligsprechung spanischer Geistlicher anhängig, die in den Jahren der Zweiten Republik (1931-1936) und des ihr folgenden Bürgerkriegs Opfer der „grausamsten Religionsverfolgung seit den Zeiten Neros“ geworden seien. So zumindest lautet die offizielle Lesart des konservativen spanischen Klerus, der sich bis heute hartnäckig weigert, die tiefe Verstrickung der katholischen Kirche in die blutigen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts in Spanien anzuerkennen.

Für Johannes Paul II. mag die Seligsprechung spanischer Geistlicher lediglich ein willkommener Beitrag zu seiner Politik der „Neuevangelisierung“ einer seiner Ansicht nach ins Heidentum zurückschlitternden Welt gewesen sein. Immerhin hatte noch nie ein Papst so viele Menschen zur „Ehre der Altäre“ erhoben wie er – die 233 „Neuen“ eingerechnet, waren es im März 2001 bereits 1.227. Für Spanien aber war die „Massenseligsprechung“ ein Politikum ersten Ranges und löste scharfe Kontroversen aus. War es doch, als habe der Stellvertreter Gottes auf Erden persönlich ein Machtwort gesprochen und durch diese Zeremonie endgültig jenen Recht gegeben, die den Spanischen Bürgerkrieg schon immer als „Kreuzzug“ gesehen hatten, in dem ein Heer selbstloser Streiter einer schuldlos in Todesnot geratenen Kirche zu Hilfe eilte.

„Hinter den christlichen Märtyrern stehen weder politische Banner noch Ideologien“, behauptet der katalanische Kirchenhistoriker Vicente Cárcel Ortí (Jg. 1940), „nur Glaube an Gott und Nächstenliebe. Sie haben keine Kriege geführt, zu keinen Kriegen aufgestachelt und sich nie in parteiische Kämpfe verwickelt. Sie waren Träger einer ewigen Botschaft von Frieden und Liebe, die unseren Glauben erleuchtet und unsere Hoffnung nährt.“

Die „Affaire Polanco“

Auch, wenn es dogmatische Kirchenapologeten wie Vicente Cárcel Ortí wenig kümmert, sieht die historische Wirklichkeit hinter den Seligsprechungen häufig anders aus. Die massenhaften Morde an Nonnen, Mönchen und Priestern in der republikanischen Zone gehören ohne Zweifel zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs. 7.114 Geistliche verloren dort bis 1939 ihr Leben: 12 Bischöfe, 4.184 weltliche Geistliche, 2.635 Mönche und 283 Nonnen. Die meisten von ihnen starben in den ersten Monaten des Krieges und der Revolution, viele sogar in den ersten Wochen. Die Gründe für diese kurze und spontane, grausame und oft willkürliche Verfolgung waren vielfältig. Sie mögen von gewalttätigem, politischem Übereifer bis zur persönlichen Rachsucht Einzelner gereicht haben. Fest steht allerdings, dass nicht wenige Geistliche in den Händen revolutionärer Milizen oder aufgebrachter Tagelöhner die Folgen der Jahrzehnte langen Politik ihrer Kirchenoberen brutal zu spüren bekam.

Denn die katholische Kirche Spaniens war alles andere als politisch neutral. Streng antirepublikanisch, hatte sich praktisch der gesamte hohe Klerus bei Ausbruch des Bürgerkriegs auf die Seite General Francos geschlagen. Einige fromme Kirchenmänner hatten eine sehr eigenwillige Vorstellung von jener „ewigen Botschaft von Frieden und Liebe“, deren Verkündigung ihnen Jahrzehnte später den Status der Seligkeit eintragen sollte.

Einer von ihnen war Monseñor Anselmo Polanco, Bischof von Teruel, der Hauptstadt der spanischen Provinz Bajo Aragón. Sein Tod ist ein bis heute nicht ganz geklärter kirchengeschichtlicher „Kriminalfall“.

Seine Seligsprechung dagegen ist ein Lehrstück vatikanischer Politik.

Ein Hirtenbrief mit Folgen

Anselmo Polanco y Fontecha (Jg. 1881) war einer der wenigen Augustiner innerhalb des spanischen Episkopats. Er hatte zunächst innerhalb seines Ordens Karriere gemacht und war, als er am 25. Februar 1935 als Bischof nach Aragón berufen wurde, für die Öffentlichkeit außerhalb seiner Heimatregion Castilla y León ein unbeschriebenes Blatt. Das sollte sich rasch ändern.

Unmittelbar vor den Februarwahlen des Jahres 1936, die mit einem Sieg der linken Volksfront endeten, verfasste Polanco einen flammenden Hirtenbrief, in dem bereits, wenn auch (noch) metaphorisch gemeint, all jene Topoi auftauchten, die die franquistische Propaganda der folgenden Jahre zur Rechtfertigung des Militärputsches und der brutalen Repression wieder und wieder herbeizitieren sollte: „Heute stehen nicht länger Regierungsformen zur Diskussion, die in diesem Land herrschen sollen, sondern etwas Grundlegendes und Substantielles für die Sache Gottes und Spaniens. Auf der einen Seite kämpfen die Verteidiger von Religion, Eigentum und Familie, auf der anderen die Vertreter des Unglaubens, des Marxismus und der freien Liebe. Dies sind die zwei verfeindeten Städte, von denen Augustinus spricht: die gegeneinander stehenden Kräfte von Gut und Böse. In diesem Feldzug, angesichts der Gefahr, der all jene Werte ausgesetzt sind, die die Völker erheben und wachsen lassen, angesichts der Gefahr für den materiellen Frieden selbst, der unverzichtbare Vorbedingung des Gemeinwohls ist, wäre es da zulässig, die Arme zu verschränken und die bequeme Haltung des unbeteiligten Zuschauers einzunehmen? Nein. […] Laßt uns auf das Schlachtfeld eilen und den Posten einnehmen, der uns zukommt. Gott will es so! Die Kirche und das Vaterland verlangen es!“

Anselmo Polanco im Krieg

Als sich im Sommer 1936 der Militärputsch zum Bürgerkrieg ausweitete, ließ Polanco seinen Worten Taten folgen. Er organisierte und finanzierte mit Hilfe eines bischöflichen Fonds eigenmächtig eine Guerillaeinheit, die über die wechselnden Fronten des Bajo Aragón in die republikanische Zone eindrang, um Sabotageakte zu verüben.

Der liberale Kirchenhistoriker Hilari Raguer nennt diese Einheit, in Anspielung auf die berüchtigten Mordkommandos, die der sozialistische Präsident Felipe González zwischen 1983 und 1987 illegal gegen Aktivisten der ETA in Frankreich aussenden ließ, sarkastisch „eine GAL avant la lettre“.

Bischof Polanco sah sich als Soldat im Krieg. Obwohl Teruel grausam umkämpft wurde, weigerte er sich, die Stadt zu verlassen. Er wolle die Kämpfer durch seine Anwesenheit bestärken. Als die Stadt am 8. Januar 1938 in republikanische Hände fiel, wurde Polanco verhaftet und mehrere Tage lang verhört – die Protokolle existieren noch. Eine der ersten Fragen, die man ihm stellte, war, ob er die Carta Colectiva unterzeichnet habe, jenes berüchtigte Schreiben des spanischen Episkopats, mit dem die katholischen Bischöfe der Welt 1937 aufgefordert worden waren, Franco zu unterstützen. Antwortete der Bischof mit „Ja“, hatte er praktisch sein eigenes Todesurteil gesprochen. Anselmo Polanco verkündete nicht nur mit Stolz, die Carta Colectiva „natürlich“ unterschrieben zu haben, sondern schickte noch zu, seiner Ansicht nach sei der Text „zu lasch“ formuliert gewesen. Außerdem hätte ein solches Schreiben viel früher verschickt werden müssen. Die Lebenserwartung des kämpferischen Bischofs sank auf Null.

Ein Angebot der Republik

Das wusste auch Indalecio Prieto, gemäßigter Sozialist und Verteidigungsminister der Republik. Er griff ein, um die sofortige Hinrichtung Anselmo Polancos zu verhindern – sicher nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern um das Verhältnis der republikanischen Regierung zur internationalen katholischen Öffentlichkeit und zum Vatikan nicht durch einen Bischofsmord noch weiter zu belasten. Anselmo Polanco wurde der Status eines „Kriegsgefangenen“ zugebilligt. Nach republikanischem Recht bedeutete dies, dass er bis zum Ende des Krieges unter Schutz stehen würde. Erst danach sollte ihm der Prozess gemacht werden.

Als diese Maßnahme bekannt gemacht wurde, erhielt Indalecio Prieto überraschend ein Telegramm: Drei baskische Geistliche, die jeder einen Glaubensbruder durch franquistische [!] Hinrichtungskommandos verloren hatten (der niedere baskische Klerus war wesentlich pro-republikanisch geblieben), beglückwünschten ihn und drückten ihre Hoffnung aus, die „noble Haltung der Republik“ möge auch „innerhalb der Kirche, der wir angehören“, positiv vermerkt werde. Ob Prieto nun wirklich „tief bewegt“ von diesem Telegramm war oder nicht, er war jedenfalls politischer Pragmatiker genug, die Chance zu erkennen, die sich der Republik in dieser Stunde bot. Er bemühte sich, die sofortige Freilassung Polancos zu erwirken. Der Ministerrat allerdings mochte einen politischen Todfeind nicht so einfach ziehen lassen. Er verlangte Garantien. Justizminister Manuel de Irujo, ein konservativ-katholischer Baske, ließ über den Erzbischof von Paris eine Botschaft an den Vatikan senden: Die spanische Republik sei bereit, Anselmo Polanco ohne weitere Bedingungen freizulassen, wenn Rom sich verpflichte, ihn nach Italien zu holen, und dafür sorge, dass Polanco sich dort mit politischen Äußerungen zurückhalte – zumindest bis zum Ende des Krieges.

Der Vatikan schweigt

Zur nicht geringen Bestürzung des Ministerrats reagierte der Vatikan auf dieses Angebot gar nicht. Auch, als Irujo das Angebot, diesmal direkt an das vatikanische Staatssekretariat Kardinal Pacellis, des späteren Papst Pius XII., adressiert, wiederholte, hüllte sich der Vatikan in Schweigen. Der liberale katalanische Kardinal Francesc Vidal i Barraquer, dem Franco die Rückkehr nach Spanien auf Lebenszeit verboten hatte und der in der Nähe von Lucca (Italien) im Exil lebte, wurde in Rom vorstellig. Alles vergebens: Das Angebot wurde nie angenommen.

Am 13. Februar 1939, als republikanische Truppen bereits in wilder Hast in Richtung Frankreich flüchteten, als endlose Flüchtlingskolonnen von deutschen und italienischen Kampffliegern ununterbrochen beschossen wurden, wurde Bischof Anselmo Polanco, gemeinsam mit 41 weiteren Gefangenen, in dem kleinen katalanischen Grenzort Pont de Molins erschossen. Die genauen Umstände seines Todes sind unklar.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Gefangenen, obwohl unter dem Schutz der Regierung stehend, Opfer einer berüchtigten Sondereinheit des kommunistischen General Líster wurden. Diese Sondereinheit hatte die Aufgabe, versprengte republikanische Soldaten aufzugreifen und als „Deserteure“ standrechtlich zu erschießen. Sie machte dabei allerdings keinen großen Unterschied, wen sie vor die Flinte bekam. Möglich auch, dass Soldaten die Gefangenen im allgemeinen Chaos der Flucht einfach als „lästigen Ballast“ liquidierten.

Am 11. August 1958 wurde in Rom ein Seligsprechungsverfahren für Anselmo Polanco eingeleitet. Am 1. Oktober 1995 sprach ihn Papst Johannes Paul II., gemeinsam mit fünf weiteren spanischen „Märtyrern“, feierlich selig. Sein Denkmal ziert heute einen Platz in Teruel. Dort steht er, in schlichtem Gewand, lächelnd und mit gütig ausgebreiteten Armen – eine Geste des Friedens, vermutlich.

Seliges Vergessen

Am 7. September 2001, kaum ein halbes Jahr nach der „Massenseligsprechung“ auf dem Petersplatz, sprach Johannes Paul II. noch einmal öffentlich von Anselmo Polanco: auf dem 180. Generalkapitel des Ordens des Heiligen Augustinus in Rom. „Euer Orden“, sagte er dort, „hat durch die Jahrhunderte eine lange Reihe von Heiligen gekannt. In jüngerer Zeit habe ich die Freude gehabt, weitere hinzuzufügen. Ist das nicht ein Zeichen spiritueller Vitalität, eine Ermutigung, ihrem Beispiel zu folgen? Möge das Zeugnis von Glaube und Barmherzigkeit eures Bruders Monseñor Anselmo Polanco, Bischof von Teruel, ermordet während der turbulenten Tage des Spanischen Bürgerkriegs, mitten im 20. Jahrhundert, Euch ein Beispiel sein. Seiner bischöflichen Aufgabe treu, gab er sein Leben mit Freude für die Seelen seiner Gläubigen.“

Die spanische Kirche hatte sich mit dem Antrag auf Seligsprechung Anselmo Polancos, gestellt noch unter der Herrschaft Francos, weit vorgewagt. Anträge auf Seligsprechung sind nicht nur langwierig, sondern für die antragstellenden Bistümer auch äußerst teure Verfahren, die keineswegs zwangsläufig zum Erfolg führen. Und nun: ein Guerilla-Kommandeur, ein rechtsextremer Brandredner, ein Kriegshetzer und Soldaten-Bischof als Seliger der Christenheit? Als Vorbild für spanische Gläubige? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Seligsprechung Anselmo Polancos für den konservativen katholischen Klerus ein Test war – ein Test, wie weit man gehen könne mit der Geschichtsklitterung zur Rolle der katholischen Kirche und des Vatikans im Spanischen Bürgerkrieg.

Denn natürlich war nicht jeder 1936 in Spanien getötete Geistliche ein Anselmo Polanco. Der offensichtliche – und bis heute andauernde – politische Erfolg seiner Seligsprechung jedoch machte gleichsam den Weg frei für die Seligsprechung weiterer spanischer „Märtyrer“, ohne dass allzu viele peinliche Fragen zu befürchten gewesen wären. Ohne einen „Seligen Anselmo“ hätte es – möglicherweise – nie eine „Massenseligsprechung“ gegeben. Und das „selige Vergessen“ geht weiter: Am 5. November 2005 hat Papst Benedikt XVI., obwohl stets ein Kritiker der massenhaften Seligsprechungen seines Vorgängers, sechs weitere spanische Geistliche zu Seligen erhoben. Es stimmt nachdenklich, dass die beiden Vorgänger Johannes Paul II., die Päpste Johannes XXIII. und Paul VI., sich stets geweigert hatten, der Seligsprechung spanischer „Märtyrer“ aus der Zeit des Bürgerkriegs zuzustimmen. Sie wollten, so sagten sie, keinen „politischen Unfrieden“ stiften.