soziales

Die Abseitsfalle müssen wir noch üben

Ver.di-Streik im selbst verschuldeten Defensivdilemma

| Mag Wompel

Zunächst einmal vorweg: Eine einheitliche bundesweite Bewertung der Ergebnisse der Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst in den Ländern und Kommunen (1) wird es an dieser Stelle nicht geben. Dies ist kein Streik von mir, sondern es ist einfach gar nicht möglich, und genau diese Schwierigkeit kann als Ausdruck und Ergebnis der Differenzierung zugleich bewertet werden.

Ausdruck, weil ver.di zuvor zahlreichen Aufweichungen des Flächentarifs in diesem Bereich zugestimmt hatte (z.B. Spartentarifverträge, von der Einführung einer neuen Niedriglohngruppe und weiterer Flexibilisierung der Arbeitszeiten ganz zu schweigen), und auch, weil der Tarifverbund von Bund, Ländern und Gemeinden nicht mehr existiert. Ergebnis, weil ver.di nun - dadurch in der Kampfkraft geschwächt - weiteren Differenzierungen zustimmen musste. Es war nun mal eine "Offensive in der Defensive", und ihr Ziel war keine Verbesserung, sondern Abwehr von Verschlechterungen. Der Versuch der Abseitsfalle also, der oft unterlaufen wurde.

Die erneuten Differenzierungen mindern nun das Hauptargument der Gewerkschaft zur Bejubelung des Erreichten. „Flächentarif erhalten“ – welchen Flächentarif?

Differenzierungen des Lohns und der Arbeitszeit nach Alter, Einkommen, Familienstatus, Berufs- und Belastungsgruppen, Arbeitsort … Allerdings muss der Fairness halber erwähnt werden, dass z.B. der Metalltarif der IG Metall längst dem berühmten Schweizer Käse gleicht, und dies ohne erkennbare Not, denn diese Gewerkschaft umjubelt gerade erneute Differenzierungen als das beste Ergebnis, das ohne zu streiken zu haben sei. Auch hier streiken deutsche Gewerkschaften nur, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Und dies trotz formulierter breiter Streikbereitschaft, denn die KollegInnen haben einfach die Schnauze voll. Zu offensichtlich sind die Diskrepanzen zwischen explodierenden Gewinnen, Renditen und Managergehältern auf der einen und erpresster Verelendungsspirale auf der anderen Seite. ver.di hat wenigstens gestreikt und dies überraschend ausdauernd.

Wir werden es wohl nie erfahren, mit welcher Strategie (2) ver.di in den Streik oder die Streiks gegangen ist. Hinsichtlich des Mobilisierungserfolges muss festgestellt werden: Am meisten überrascht war ver.di selbst und dies durchaus begründet.

Streik der „Unerfahrenen“ und „Nichtmobilisierbaren“

Stehen die alten Streikbastionen (Post, Bahn, ÖPNV, Müllabfuhr) kaum noch zur Verfügung, weil größtenteils ausgegliedert und privatisiert, müssen neue Streikfronten eröffnet werden, und zwar genau die, die selbst unter der Androhung von Privatisierung oder Fremdfirmeneinsatz stehen. In den Streik geschickt wurden also Beschäftigtengruppen, die es überwiegend zum ersten Mal in ihrem Leben taten und als nicht mobilisierbar galten (ver.di-O-Ton: „Frauen!“): Kitas, Pflegebereich, Verwaltungsbereiche der Städte etc.

So kam es – auch durch massiven Arbeitsplatzabbau in den letzten Jahren -, dass diesmal maximal 41.000 KollegInnen am selben Tag im Streik waren gegenüber 400.000 im letzten großen Streik der ÖTV im Jahre 1992. Die gewollten Auswirkungen des Streiks konnten nicht annährend erreicht werden. Dies muss nicht unbedingt von Nachteil sein, denn Massen sind längst kein Garant für den Erfolg. Wäre die Frage „Wen wollen wir mit dem Streik treffen“ früher aufgekommen, hätten Beispiele aus Frankreich zeigen können, wie einige Wenige unglaubliche Wirkung entfalten können. So im Kampf gegen Privatisierung der Elektrizitätswerke, als den entsprechenden Ausschussmitgliedern der Strom ab- und den Armen angeklemmt wurde. Wahre Streikeffizienz eines einzigen kompetenten Aktivisten an einer entscheidenden Stelle.

Die vorweggenommene und langfristig gepflegte Annahme mangelnder Mobilisierbarkeit selbst war kein Ergebnis gescheiterter Versuche der Organisierung, Bildungsarbeit, des Vertrauensleuteaufbaus oder früherer Streikeinbindung, sondern eher ein Vorurteil, das solche Versuche verhindert hat und/oder ihr Ausbleiben entschuldigen sollte. Doch auch Frauen in „Frauenberufen“ sind längst keine „Zuverdienerinnen“ mehr – mancher Gewerkschaftsfunktionär hat es vielleicht nun begriffen.

Auch rächt sich angesichts schwindender Großbetriebe – und das betrifft übrigens alle Gewerkschaften – die Unterlassungssünde, Streikerfahrungen, auch wenn es nur Warnstreiks sein sollten, regelmäßig und gleichmäßig auf alle Belegschaften zu verteilen und dieses existentiell wichtige Wissen zur Organisierung von Arbeitskämpfen zu tradieren. Im Gegenteil: Es mehrt sich die Zahl von Belegschaften, die noch nie im Leben gestreikt haben, während kampferprobte Generationen frühverrentet werden. Dabei liegen internationale Erfahrungen vor, nicht nur aus der US-amerikanischen Organisierungsdebatte, wie Arbeitskämpfe an Erfahrung und Mut der Belegschaftsmitglieder angepasst werden können. (3) In Deutschland warten sie jedoch erfolglos auf ihre Auswertung und Anwendung: „Im Länderbereich tritt noch deutlicher zu Tage, was auch im kommunalen Bereich einen auch materiellen Erfolg unmöglich gemacht hat: Die gewerkschaftlichen Organisations- und Tarifstrukturen wurden in den letzten zwanzig Jahren in keiner Weise auf die tiefgreifenden Umstrukturierungen der Branche Staat hin weiterentwickelt. Große Teile der Beschäftigten im Verwaltungsbereich, besonders eben bei den Ländern, haben keinerlei Streikerfahrung, weil die ArbeiterInnenbereiche (Müllabfuhr, Energieversorgung, Nahverkehr etc.) die Streiks getragen haben. Entsprechend unterentwickelt sind gewerkschaftliche Strukturen und Organisationsgrade. Die streiktragenden Bereiche sind jedoch großteils privatisiert und unterliegen längst anderen Tarifverträgen, oder sie stehen in einer Wettbewerbssituation, die es der Arbeitgeberseite einerseits ermöglicht, mit der Privatisierungsdrohung zu erpressen, ihr andererseits erleichtert, Streikbrechereinsätze zu organisieren.“ (4)

Streiken wofür?

Wer hätte gedacht, dass so viele so ausdauernd für die Übernahme eines Tarifvertrags (TVöD) (5) streiken, der eine eindeutige Verschlechterung gegenüber dem alten BAT darstellt?

Nun gehört zu den Tücken der bereits vorhandenen Differenzierung, dass selbst dieser Tarifvertrag für viele eine Verbesserung bzw. die Abwehr weiter gehender Verschlechterungen darstellt, und dies rettet ver.di etwas aus der Kritik. Aber nur etwas.

Natürlich sind es Spekulationen, allerdings wichtige für die künftige Strategiedebatte, nämlich ob die Mobilisierung und die externe Unterstützung der Streiks höher gewesen wären, wenn nicht ein Kompromiss in der Arbeitszeitverlängerung, sondern die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung das offizielle Ziel gewesen wäre. Viele KollegInnen hätten nach Jahren des Personalabbaus und der Arbeitsverdichtung gerne auch Fragen der Qualität der Arbeitsbedingungen ins Spiel gebracht. Dies war nicht nur unerwünscht, sondern angeblich seitens der Gewerkschaftsführungen ausdrücklich verboten: „(…) in Stuttgart, dem Epizentrum der Streikbewegung, können die streikenden ArbeiterInnen weitgehend selber entscheiden, wann und wie lange sie streiken. Sie dürfen aber nicht darüber mitbestimmen, wofür sie streiken. Von der Ver.di-Führung gab es ein ganz klares Verbot, Arbeitszeitverkürzung zu fordern (etwas, das in der gewerkschaftlichen Logik selber völlig normal gewesen wäre: Wenn man 38,5 Stunden abschließen will, muss man mehr gefordert haben, sonst hat man ja keine Verhandlungsmasse). Die Ver.di-Spitze hatte sich von Anfang an auf die ‚Verteidigung der 38,5 Stunden‘ fixiert, womit klar war, dass dann am Ende ein Kompromiss um die 39 rauskommen würde. Eine Forderung nach 38 Stunden o.ä. hätte nach Aussagen vieler Aktiven viel mehr Leute mobilisieren können (…)“ (6)

Dass dennoch Tausende wochenlang dem Druck der Arbeitgeber, der Medien und selbst vieler KollegInnen widerstanden haben und dies im Wissen, am Ende Einkommensverluste und Verschlechterungen hinzunehmen, deutet auf ein breites und grundsätzliches Bedürfnis, Widerstand und Würde zu zeigen. Dies hätte stärker und politischer aufgenommen werden können, wäre es nicht ein Streik in der selbst erwählten Defensive gewesen.

Fusionierte Gewerkschaft, zersplitterte Interessen. Oder: Solidarität – knappes Gut

Die Aufgabe von Gewerkschaften besteht in der Minderung der Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander. ver.di hoffte, durch die Fusion – neben Einspareffekten – diese Funktion besser erfüllen zu können. Diese Streiks haben aber gezeigt, dass dies selbst innerhalb eines Fachbereiches unerreichbar ist bzw. unversucht blieb. Obwohl Kommunalangestellte und Landesangestellte den gleichen Kampf führten – wenn auch mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen -, gab es kaum Unterstützungsaktionen und keine bekannten Versuche, diese zentral zu initiieren. Die selbstverschuldete Schwäche des geringen Organisierungsgrades der Landesangestellten ist seit Jahren bekannt und wurde nicht angegangen – dennoch mussten ausgerechnet diese die Bürde der ebenfalls selbstverschuldeten Verhandlungssünde der Meistbegünstigungsklausel im TVöD tragen, die sich hiermit als Bumerang erwies und daher erst recht zu Unterstützungsaktionen hätte führen müssen.

Wer wundert sich da, dass ver.di nicht in der Lage war, unter ihren Fachbereichen Solidarität zu organisieren? Dabei steht das Thema Arbeitszeitverlängerung u.a. im Handel ganz aktuell auf der Tagesordnung.

Obwohl die Öffentlichen Arbeitgeber ver.di in der Frage der Arbeitszeitverlängerung stellvertretend für alle das Genick brechen wollten und diese Auseinandersetzung zum „Pilotkampf für die Privatwirtschaft“ erklärt haben, fehlte die Unterstützung von anderen Gewerkschaften.

Auch die der IG Metall in Baden-Württemberg, obwohl hier zeitgleich die Streichung der „Steinkühlerpause“ abgewehrt werden sollte.

Zwar gab es bei den erfreulichen Aktionen zivilen Ungehorsams (z.B. Blockade der Müllverbrennungsanlage in Stuttgart) teilweise individuelle Unterstützung durch IG-Metaller und andere GewerkschaftlerInnen, aber vereinzelt: „Enttäuschend war auch die geringe Bereitschaft der IGM, sich auf punktuelle Bündelungen der Streiks einzulassen, die den verdi-Streik politisch gestärkt und dem IGM-Streik, bei dem es mit der Steinkühlerpause ja u.a. auch um ein arbeitszeitpolitisches Thema ging, sicher nicht geschadet hätte(7), so Werner Sauerborn (ver.di BaWü). Und Bernd Riexinger (ver.di Stuttgart) fasst diese frustrierende Erfahrung wie folgt zusammen: „Wir hatten zwar Redner der IGM auf unseren Kundgebungen, und bei der Blockade der Müllabfuhr halfen viele KollegInnen anderer Gewerkschaften, aber gemeinsame Aktionen gab es praktisch keine, von einer gemeinsamen Streikplanung einmal ganz abgesehen. Wir hatten den Eindruck, dass dies von großen Teilen der IGM nicht unbedingt gewollt war, wobei die IGM-Spitze sich sogar eindeutig dafür ausgesprochen hatte. Aber selbst unsere eigenen Fachbereiche außerhalb des ÖD haben keine große und sichtbar Solidarität gezeigt.(8)

Hier stellt sich die Frage, welche Funktion der Dachverband DGB erfüllt, dessen Erhalt uns immer wieder so viele Kompromisse kostet …

Eine weitere gewerkschaftsübergreifende Sünde hat bei dieser Tarifauseinandersetzung mit nie gewesener Stärke und gezielter Strategie zugeschlagen: der Einsatz von Streikbrechern aus privatisierten Betrieben und v.a. durch Sklavenhändler, wie die Zeitarbeitswirtschaft nach wie vor bezeichnet werden muss.

Unter anderem die FAZ berichtete in der Ausgabe vom 16.2.06 (9) darüber, wie der Streik von ver.di im öffentlichen Dienst an einigen Orten durch den Einsatz von LeiharbeiterInnen und 1-Euro-ZwangsjobberInnen unterlaufen wurde. So heißt es in diesem Artikel: „(…) In Freiburg konnte Broglin den Streik der Angestellten in den Kommunen wirkungsvoll außer Kraft setzen, weil das privatisierte Entsorgungsunternehmen – die Stadt Freiburg hat nur noch einen Anteil von 53 Prozent – schon länger mit Zeitarbeitsfirmen zusammenarbeitet. So ersetzte Broglin die knapp 60 streikenden Arbeiter durch 100 Leiharbeitskräfte, und von der gewerkschaftlichen Macht war in der ökologisch vorbildlichen Universitätsstadt nichts zu spüren. (…) Die städtische Klinik in Stuttgart und das Müllentsorgungsunternehmen in Karlsruhe setzen Leiharbeitskräfte ein. In der Stadt Kernen im Remstal versucht die Verwaltung, mit Zeitarbeitskräften den Betrieb in den Kindergärten aufrechtzuerhalten. In Ulm sollen sogar Ein-Euro-Arbeitskräfte von der Stadt zum Leeren der Mülltonnen eingeteilt worden sein. (…) Verdi hat errechnet, daß in Baden-Württemberg insgesamt etwa 800 Leiharbeiter und 100 Ein-Euro-Arbeitskräfte beschäftigt werden, um den Streik zu stören (…)

LeiharbeitnehmerInnen und 1-Euro-JobberInnen (10) wurden aber auch aus anderen Bundesländern gemeldet. In der „direkten aktion“ hieß es in dem Artikel „Der Streik kehrt zurück“ (11) dazu: „Erstens können sie [die Streiks] nicht länger als institutionalisierte Rituale funktionieren. Streik wird zum ernsthaften Machtkampf. Die ArbeiterInnen werden nach Punkten suchen, an denen sie empfindliche Verkettungen der Produktion treffen können. (…) In solchen kleinen und isoliert bleibenden Streiks ist es längst üblich geworden, dass der Unternehmer die kämpfenden ArbeiterInnen durch systematischen Streikbruch ausbremst, um ihnen ihre Ohnmacht zu demonstrieren.“

Diese Ohnmacht ist in den meisten Fällen real, aber selbstverschuldet. Abgesehen davon, dass auch die StreikbrecherInnen potentiell organisierbare Gewerkschaftsmitglieder sind, hätten die Sklavenhändler nie aus der Schmuddelecke, in die sie gehören, herausgeholt werden dürfen und durch Niedrigstlohntarife geadelt und vor dem „equal pay“ bewahrt werden dürfen. (12) Diese Sünde wurde bei den Ein-Euro-Jobs (13) wiederholt. Wo bleibt der Widerstand gegen diese Entrechtung und dieses staatlich subventionierte Lohndumping? Wo bleiben die juristischen Klagen gegen die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze durch diesen Arbeitszwang und gegen den widerrechtlichen Einsatz als Streikbrecher?

Gerade Streiks im öffentlichen Dienst waren bisher oftmals nur Rituale, nun wurden sie von der öffentlichen Hand als Vorreiter der Prekarisierung einseitig aufgekündigt. Der gezielte Einsatz von Streikbrechern zeigt, dass sich auch hier die Frage stellt, wie sich überhaupt Macht entwickeln lässt – so wie die NGG im Fall von Gate Gourmet (14) scheint auch ver.di auf diese Frage zur Zeit keine Antwort zu haben. Damit wird offensichtlich, dass Streiks wieder zu sozialen Bewegungen werden müssen, in denen die durchaus noch vorhandene Macht der ArbeiterInnen wirkungsvoll eingesetzt wird, denn in allen Arbeitskämpfen der letzten Zeit waren es betriebs- und gewerkschaftsexterne UnterstützerInnen, die Blockaden errichteten und Streikbrechereinsatz verhinderten.

Öffentlicher Dienst für welche Öffentlichkeit?

Hoffentlich nicht jetzt erst hat ver.di gemerkt, dass Streiks im Öffentlichen Dienst nicht so einfach zu führen sind, wie z.B. in der Metallindustrie. Nicht nur, weil dort noch relativ einfach die Massen heraus und wieder hinein gepfiffen werden können, sondern v.a. wegen der meist direkten Betroffenheit der BürgerInnen (KundInnen), um deren Verständnis und Unterstützung eigentlich geworben werden sollte. Dies gilt umso mehr, wenn die Streikenden sich einer einheitlichen Front der bürgerlichen Medien gegenüber sehen.

Natürlich gibt es, z.B. in Krankenhäusern, Notdienstvereinbarungen. Doch besteht das Problem, dass sie einerseits nicht zu weit gehen sollen, wenn sich der Streik bemerkbar machen soll, und dass sie andererseits z.B. an den Unikliniken erfolgreich von den Arbeitgebern benutzt wurden, um den Streik zu unterlaufen.

Auf diese Probleme (und auf nachlassende Mobilisierung nach einigen Wochen des erfolglosen Streiks) sollte in Stuttgart die flexible Streiktaktik reagieren, (15) die die Belastungen für die Kunden auf einige, für die Arbeitgeber überraschende Tage reduzieren sollte. Man fühlt sich etwas an den rollierenden Spar-Streik der IG Metall erinnert.

Auf die Idee, dass Streiks den Arbeitgeber und nicht die Kunden treffen sollten, ist man (v.a. in BaWü) erst spät und m.E. unzureichend gekommen. Und auf den Rückgriff auf die (im LabourNet Germany seit längerem leidenschaftlich verbreiteten (16)) internationalen Erfahrungen mit sozial angepassten Streikmaßnahmen leider gar nicht.

Wie in Frankreich, als nur die Arbeitgeberpost liegen blieb und die Erwerbslosen-Checks ausgetragen wurden, hätte man den Müll nur in reichen Vierteln liegen lassen können (oder gar dorthin karren?). Wie in den Niederlanden – wo allein die Androhung, an einem Samstag keine Zugfahrscheine zu kontrollieren, für eine 6 %ige Lohnerhöhung reichte – oder wie in Frankreich und Großbritannien – wo der Personennahverkehr zwar rollte, aber unentgeltlich – hätten Verwaltungsangestellte auf die Gebühren für die Passausstellung oder Klinikangestellte auf die Erfassung der Versicherungskarte verzichten können, anstatt wichtige Funktionen für die BürgerInnen einfach zu verweigern.

Dies sind nur einige Beispiele, wie die Dienstleistung aufrecht erhalten wird und zugleich die Richtigen trifft. Diese Beispiele könnten und sollten unsere Fantasie anregen, wie ein sinnvoller und solidarischer Öffentlicher Dienst aussehen könnte und wie zugleich die Solidarität der „Kunden“ gewahrt bleibt. Selbst mit größter Fantasie fällt mir nicht ein, wie man Kitas sozialverträglich bestreiken kann, um zu verhindern, dass ausgerechnet lohnabhängige KollegInnen ihren Jahresurlaub verbrauchen müssen, während reiche Eltern keine Probleme haben dürften, für Ersatz zu sorgen. Doch auch für solche Fälle gibt es internationale Beispiele von erfolgreichen „Nicht-Streiks“. (17)

Doch auch die ergänzende Reaktion auf die Erkenntnis, dass Arbeitskämpfe im Öffentlichen Dienst stärker als in anderen Bereichen von der öffentlichen Meinung der als Kunden betroffenen Bevölkerung abhängen, kam zu schwach, zu spät und selbst das nur in einigen Bereichen. Gemeint ist die v.a. in BaWü durchgeführte Kampagne „Karin fehlt“ per Flyer und Kinospots, Prominenten-Unterstützung und Anzeigenkampagnen. In Stuttgart gab es schon länger Aufklärungskampagnen über die Bedeutung des nicht privatisierten Öffentlichen Dienstes und auch der Arbeitsbedingungen der dort tätigen KollegInnen für die Bevölkerung. Ganz sicher ist, dass darauf die stärkste und längste Unterstützung seitens der Bevölkerung bundesweit basiert. Doch muss betont werden, dass diese Kampagne bundesweit ein vom persönlichen Engagement einiger Funktionäre abhängiger Einzelfall blieb und schon gar nicht zentral und lang im Vorfeld konzipiert wurde.

Ich hatte eine solche breite Kampagne seitens ver.di angemahnt (18) – als Abwehr der Privatisierungsbestrebungen, des massiven Personalabbaus der öffentlichen Träger und der damit verbundenen Qualitätseinbussen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen wie Leistungen gegenüber dem Kunden.

Wer möchte denn z.B. nach einem Unfall von einem Arzt operiert werden, der seit 20 Stunden auf den Beinen ist?

Eine Kampagne für eine breite und kostenfreie öffentliche Infrastruktur samt vorbildlichen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten hätte gute Aussichten auf breite Unterstützung der Bevölkerung, die längst die Auswirkungen des Personalabbaus und der Sparpolitik merkt. Allerdings wäre eine solche Kampagne nur glaubwürdig, wenn man einerseits auf die teilweise durchaus berechtigte Kritik der Bevölkerung am Öffentlichen Dienst (samt der berühmt-berüchtigten Beamten-Witze) einginge und andererseits bereit wäre, auf gesellschaftlich fragwürdige Arbeitsplätze (Verfassungsschutz, Sozialschnüffler, einige „KollegInnen“ der Ausländerbehörden, nur um die wichtigsten zu nennen) einzugehen und zu verzichten – auch wenn es (potenzielle) ver.di-KollegInnen betrifft.

Aber was will mensch erwarten von einer Gewerkschaft, die die Abschaffung des BAT als „das größte Tarifprojekt der Geschichte“ (Bsirske) mit Verschlechterungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen für Millionen Beschäftigte selbst eigenen Funktionären gegenüber jahrelang in Geheimverhandlungen betrieb? (19)

Geheimverhandlungen waren es auch beim TVöD/TVL: „Ein großes Manko ist auch die mangelnde bundesweite Koordination. Die Streikenden kommen sich häufig verloren vor, weil sie nicht wissen und auch nicht von ver.di informiert werden, wer noch alles streikt. Es gehört eigentlich zum Handwerkszeug, dass die Moral gestärkt wird, wenn die Streikenden in eine ‚Gesamtbewegung‘ eingebettet sind. Eine Bewusstseinskampagne muss auch deutlich machen, dass es inzwischen nicht mehr alleine um Arbeitszeitverlängerung und Absenkung von Sonderzahlungen geht, sondern um die Frage, ob wir überhaupt noch Tarifverträge abschließen können, die nicht dem Diktat der Arbeitgeber folgen. Ohne eine bessere bundesweite Koordination und Strategie ist diese Auseinandersetzung kaum zu gewinnen.“ (20)

Fazit: Lernen und Vorbeugen!

Angesichts dieser leider schon gewohnten Streikführung von oben und angesichts der Geheimverhandlungen ist es erfreulich, wie breit in diesen Streikwochen gewerkschaftliche Demokratie von unten geübt wurde. V.a. in BaWü gab es immerhin tägliche Streikversammlungen, wöchentliche, zusammenführende Aktionstage, die hoffen lassen und von den AktivistInnen wie folgt beschrieben werden: „Die Streikenden haben sich gegenseitig unterstützt und bei ihren Aktionen besucht. Das ging selten vom Apparat aus, der hat das zuweilen nicht mal mitgekriegt. Was dabei an Diskussionen,

Auseinandersetzungen und Kennenlernen von anderen Standpunkten gelaufen ist, lässt sich durchaus als Sprung im politischen Bewusstsein bezeichnen. Die Streikversammlungen haben sich zum Entscheidungsgremium entwickelt (das über alles entscheidet – außer über die Ziele des Streiks). Gemeinsame Diskussionen in großer Runde über die eigene Situation als Lohnabhängige/r, den gemeinsamen Kampf und den künftigen Weg sind in der BRD was Neues.(21)

Es ist eine erfrischende Abweichung von den üblichen Ritualen der Stellvertreter-Tarifverhandlungen, bei denen die Gewerkschaftsmitglieder lediglich als Mobilisierungsmasse an- und abgepfiffen werden: „Ein Gewerkschaftsstreik ist kein wilder Streik. Ein gewerkschaftlich organisierter Streik unterscheidet sich erstmal gar nicht so sehr von der Lohnarbeit: Die ArbeiterInnen müssen zu bestimmten Zeiten erscheinen, damit sie bezahlt werden. Sie müssen ständig warten – dass was passiert, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen, auf den richtigen Zeitpunkt für die Demo, auf den Ausgang von Spitzenverhandlungen (…)“ (22)

Die nun beobachteten Ansätze einer Demokratisierung der Streikbewegung – wenn schon nicht hinsichtlich der Streikziele, so doch immerhin hinsichtlich der Streikaktionen – mag daran liegen, dass die Streikenden selbst die angesprochene strategische Lücke der Streikleitung ausfüllen mussten. Dennoch eröffnete diese Lücke Freiräume für eine hoffnungsvolle Politisierung unter den StreikaktivistInnen, die eine wertvolle Erfahrung darstellt.

Um die eingangs angesprochene Überraschung der ver.di-Führung aufzugreifen: Man fängt selten einen Streik an, wenn die Gewerkschaft nicht dazu aufruft und ihn nicht vorbereitet, sicherlich. Mobilisiert für einen derart langen und aufopferungsvollen Streik hat ver.di kaum, und die aktiven KollegInnen haben ihn daher zwar wegen, aber (zumal angesichts der Streikziele) kaum für ver.di geführt. Sie hatten einfach die Schnauze voll und das Gefühl, sich endlich nicht alles gefallen lassen zu dürfen. Und diesen durchaus politischen und politisierbaren Streik haben sie trotz ver.di geführt.

Daraus kann und sollte ver.di lernen.

Die nächste Möglichkeit, einen besseren Streik zu führen, steht im Öffentlichen Dienst bereits fest: 2008.

Bei aller zu erhoffenden Lernbereitschaft der ver.di-Strategen dürfen die aktiven und von ver.di unbeabsichtigt „aktivierten“ Gewerkschaftsmitglieder eine wichtige Erfahrung aus dieser Streikbewegung nicht vergessen: „Und ein ganz wichtiger Punkt, der leicht übersehen wird: Gewerkschaftliche Streiks dürfen nie Spaß machen, beim Flugiverteilen muss man immer betonen, dass man nur gezwungenermaßen streikt und nichts lieber täte als morgen wieder zu arbeiten. Große Lüge! Streiken macht auch Spaß, ist auf jeden Fall besser als arbeiten. Auf Demos lernt man nette Leute kennen, man erlebt die KollegInnen mal ganz anders (dazu gehört natürlich auch, dass man einige KollegInnen von ihrer negativen Seite kennenlernt, z.B. als Streikbrecher…), hat Spaß bei gemeinsamen Regelverletzungen, erlebt ne Ahnung davon, wie stark man gemeinsam tatsächlich sein könnte (…)“ (23)

(1) Lange galten für die fast 5 Millionen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst einheitliche Tarifverträge, v.a. der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT). Seit Oktober 2005 gilt für Beschäftigte beim Bund und bei den Kommunen der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD), für die Bundesländer galt bis jetzt der BAT. Durch Kündigungen der Arbeitszeitregelungen können seit April 2004 Neueingestellte 40 und mehr Stunden/Woche arbeiten. Hessen und Berlin sind aus der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) ausgestiegen, und weitere Länder drohen damit. Siehe dazu die Dokumentationen im LabourNet Germany:

Tarifrunde 2006 Öffentlicher Dienst der Kommunen
www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarif06/kommunen.html

Tarifrunde 05/06 Öffentlicher Dienst der Länder
www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarif05/laender.html

(2) Siehe dazu die Strategiedebatte zum ver.di-Streik im Öffentlichen Dienst 2006 im LabourNet: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarifpolitik/oeddebatte.html

(3) Siehe dazu im LabourNet: Internationale Erfahrungen der Gewerkschaftsbewegung: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/international.html

(4) Werner Sauerborn in: ver.di goes FLUPO. Tarifergebnis und Streikerfahrungen im Öffentlichen Dienst - eine Auswertung mit Bernd Riexinger und Werner Sauerborn, erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/06. www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarifpolitik/sauerriex.html

(5) Ab 2007 werden Weihnachts- und Urlaubsgeld in einer Sonderzahlung zusammengefasst und teilweise an "Leistung" gebunden. Zweitens enthält der TVöD sogenannte Arbeitszeitkorridore, so dass viele Überstunden-, Schicht- und Feiertagszuschläge wegfallen. Drittens enthält der TVöD eine Meistbegünstigungsklausel, die besagt: Wenn die beteiligten Gewerkschaften mit auch nur einem Bundesland eine für die Arbeitgeber günstigere Regelung beim Lohn, bei den Sonderzahlungen oder der Arbeitszeit vereinbaren, gilt dies als nicht-widerrufbares Angebot an alle Arbeitgeber.

(6) Aus: Streikende nicht in Sicht? Artikel aus Wildcat Nr. 76 vom Frühjahr 2006 www.wildcat-www.de/wildcat/76/w76_streik_oed.htm

(7) Werner Sauerborn in: ver.di goes FLUPO, a.a.O.

(8) Bernd Riexinger in: ver.di goes FLUPO, a.a.O.

(9) In der Öko-Stadt Freiburg stinkt der Müll nicht. Die Arbeitgeber stören die Streikstrategie von Verdi mit Leiharbeitern. Artikel von Rüdiger Soldt in der FAZ vom 16.2.2006

(10) Siehe Ein-Euro-Jobber als "freiwillige" Streikbrecher im LabourNet: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarif06/streikbrecher.html

(11) Siehe www.fau.org/fau_medien/da/DA_173/da173.pdf

(12) Siehe dazu im LabourNet: Tarifverhandlungen zur Leiharbeit: www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/psa/verhandel.html

(13) Zu 1-Euro-Jobs siehe die Dokumentation im LabourNet Germany: www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/niedriglohn.html

(14) Siehe die Dokumentation des Streiks bei Gate Gourmet in Düsseldorf im LabourNet: www.labournet.de/branchen/dienstleistung/gast/ggduess.html

(15) FLUPO für flexibel, unberechenbar, politisch. Siehe dazu ver.di goes FLUPO, a.a.O., und auch: Neue Arbeitskampfformen bei ver.di? Special im LabourNet Germany: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/tarif06/verdineu.html

(16) Siehe neue Kampfformen der Gewerkschaftsbewegung im LabourNet Germany: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/kampform.html und z.B. Wompel, M. (2004): Streiken, aber richtig. Die Gewerkschaften müssen ihre Kämpfe zu gesellschaftlichen machen. In: junge Welt vom 29.05.2004

(17) Siehe "Unstrike" bei Starbucks, dokumentiert im LabourNet unter: www.labournet.de/internationales/kanada/starbucks.html

(18) z.B. Wompel, M. (2004): Öffentlich heißt, es gehört uns. Arbeitszeiten, Tarifverträge, Gehälter: Was im öffentlichen Dienst geschieht, geht alle an. In: junge Welt vom 15.05.2004

(19) Wompel, M. (2005): Sind wir denn blöd? Der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bedeutet nicht nur eine dramatische Verschlechterung gegenüber dem alten BAT. Er wird uns auch noch als "Jahrhundertreform" verkauft. In: junge Welt vom 12.02.2005

(20) Bernd Riexinger in: ver.di goes FLUPO, a.a.O.

(21) Aus: Streikende nicht in Sicht?, a.a.O. www.wildcat-www.de/wildcat/76/w76_streik_oed.htm

(22) Aus: Streikende nicht in Sicht?, a.a.O.

(23) Aus: Streikende nicht in Sicht?, a.a.O.