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Vom Wert der Töchter

Frank Schirrmacher unterbreitet und unterschreitet das "Minimum"

| Ewart Reder

Frank Schirrmacher: Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft, Karl Blessing Verlag, München 2006, ISBN 3-89667-291-6, 16 Euro

Ein Gespenst geht um in den Köpfen. Von Europäern wird es eher als von Südamerikanern diskutiert, leidenschaftlicher in Seniorenzirkeln als in Schulklassen, ausgiebiger im FAZ-Feuilleton als im Internet. Es heißt Familie. Frank Schirrmacher, der FAZ-Herausgeber, ist mit seinem Buch „Minimum“ einer der neueren Stichwortgeber.

Um es gleich zu sagen: Das Buch ist ein Ärgernis. Oder wer kann anders als sich ärgern, wenn ihm die kulturelle Weichenstellung für kommende fünfhundert Jahre an einem Fall erläutert wird, der sich 1846 irgendwo hoch in den mit Bergen gesegneten USA zugetragen hat. Am Donner-Pass, wo einige Dutzend Siedler einschneiten und nur wenige sich aus der unstrittigen Kalamität wieder befreien konnten, sieht Schirrmacher die Familie als Siegermacht, als Versuchsergebnis und Naturgesetz zugleich übrig bleiben. Hatten doch die Überlebenden Familie, so das stark vereinfachte, noch stärker vereinfachende Fazit – und die weniger Glücklichen nicht.

Was aber waren das für Clans? Wurden die jungen, unverheirateten Männer vielleicht nicht freiwillig, sondern von den Familienältesten gezwungenermaßen beim Bäume Fällen und Wege Räumen verschlissen? Weder diese simplen Fragen beantwortet Schirrmacher noch die viel drängendere, allersimpelste: Was hat der Donner-Paß 1846 mit der Bundesrepublik 2006 zu tun? Sollen wir glauben, dass die gegenwärtigen Probleme dieses Landes direkt in einen vorzivilisatorischen Überlebenskampf münden?

Ja, wir sollen. Die Lage ist ungefähr so wie am 9. Mai 1945, erfahren wir. „Auch heute muss sich Deutschland um den Wiederaufbau bemühen.“ Was sind Worte wert, die in einen solchen Bedeutungsspagat gezwungen werden? Dass sich Familien in der nachkriegsdeutschen Krise weit schneller auflösten, als sie neu entstanden, der Autor schreibt es zwar, nimmt sich aber selbst nicht ernst. Sein Deutungsraster ist ein Darwinismus, den er schon im Biologiebuch nicht verstanden hat (Männer „sterben deshalb früher als Frauen, weil sie über die Millionen Jahre der Evolutionsgeschichte unzählige, unnatürliche Tode gestorben sind“). Familien überleben, wenn es eng wird. Einzelmenschen nicht. So einfach ist das, und an den Darwinismus glaubt schließlich jeder heute. Ob man denselben missversteht, ob er für soziologische Fragestellungen zuständig ist, ob er im 19. Jahrhundert mit der „Gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ des Anarchisten Pjotr Kropotkin ein biologisches Konkurrenzmodell hatte, das desto interessanter wird, je irriger und zugleich Menschen verachtender die Blüten des Darwinismus austreiben, alles egal. Für Schirrmacher bietet den Selektionsvorteil in höchster Not die Familie. Nach seiner am eisigen Donner-Pass entwickelten Logik könnte er uns freilich auch den Kannibalismus empfehlen.

Erwünscht sind aber vor allem politische Folgerungen, die zu ziehen sind. Der Sozialstaat hat seine Bürger getäuscht. Er kann nicht, was er zu können behauptete. Dass ihn nicht Willy Brandt, sondern Bismarck erfand, dass sich die Arbeiterbewegung ursprünglich selbst und nicht über den Umweg Staat versichern wollte, dass die Dellen in den Sozialkassen keine demografischen, sondern beschäftigungsökonomische sind, muss der Leser selbst wissen. Erfahren tut er es hier so wenig wie, dass Sozialstaaten nicht absterben (was ja auch marxismusverdächtig wäre), sondern von ihren Regierungen abgeschafft werden. Dieser Autor kann nicht einmal rechnen, er glaubt, dass sich spät geborene Kinder und spät gebärende Eltern länger um ihre Nachbargenerationen kümmern müssen als Menschen, die früher mit beidem dran sind.

Genug. Es ist ein ärgerliches Buch, ein Machwerk geradezu und sollte zwei Dinge lehren: Nicht alles, was lange und breit diskutiert wird, entspringt auch nur durchschnittlichem Nachdenken. Und: Der Konservativismus in Europa ist schon seit Langem zu Unrecht verdächtig, noch irgendwelche Werte zu besitzen. Frank Schirrmacher offenbart die Geisteshaltung, an der Familien wie andere Formen von Zusammenhalt und Solidarität zerbrechen müssen. „Mit den Familien schwindet der Altruismus“, behauptet er.

Umgekehrt ist es. Für Schirrmacher besteht der Sinn von Familie darin, das Überleben der Egoisten zu sichern. Man kann auch deutlicher werden: Frauen sollen die Kinder durchbringen und die Männer mit unterkriechen lassen. Für Männer „ist es wichtig, diejenigen zu kennen und sich mit ihnen gut zu stellen, die im Stande sind, Familien oder andere Netzwerke zu bilden“. Gemeint sind die Frauen, wir haben es geahnt. Die „Urgewalt“ Familie ist auf einmal recht heutig, sprich wirtschaftlich, eine „Überlebensfabrik“, in der „Überlebensmaschinen“ (Frauen) den „emotionalen Rohstoff“, die „Ressource Altruismus“, in eine „moralische Ökonomie“ einspeisen.

Genug davon? Noch eben diese Details: Der „Wert einer Tochter“ steigt gegenüber dem eines Sohns, seit die Tochter die „Rolle des Brotverdieners“ ebenso beherrscht wie „die des Betreuers“. Töchter sind die „Spezialistentruppe“ im Daseinskampf. Großmütter immerhin noch „Lebensmittel“ für ihre Enkel. Danke, Ende. Ekelhaft.