La Rosa de Foc, die Feuerrose - seit Barcelona im Jahre 1908 diesen Beinamen erhielt, gilt die katalanische Metropole als heimliche Hauptstadt des Anarchismus. Damals brannten Klöster, Ämter, Kasernen, und die Welt horchte auf. 34 Jahre später, vor genau 70 Jahren, initiierten hier die mächtigen anarchistischen Gewerkschaften eine soziale Revolution, die der staunenden Welt bewies, dass Anarchie tatsächlich funktioniert.
Aber jenseits von Aufständen, Gewerkschaften und Revolutionen schlug der Puls des Anarchismus in Barcelona seit jeher auch immer ganz unspektakulär im Alltag der Menschendieser Stadt: Kultur und Volksbildung, Stadtteilkomitees und Genossenschaften, freie Schulen und Lebensmittel-Kooperativen, Theater, Verlage, Freidenkertum, Ausflüge in die Natur und Nudismus - all das und etliches mehr bildete praktisch den Humus für die Anarchie. Das Geheimnis ihrer enormen Popularität. Das Reservoir, aus dem sie immer wieder neue Kraft schöpfte.
In der Rosa del Foc läuft mir ein Mann mittleren Alters in die Arme, stutzt, lacht: „He, was machst du denn hier?“ fragt er. Es dürfte 15 Jahre her sein, seit er uns in Neustadt besucht hatte, um das Projekt A aus der Nähe kennen zu lernen… Er umarmt mich, wir plaudern. Agustín arbeitet jetzt bei Virus, einem sehr rührigen anarchistischen Verlag, und brachte gerade ein Paket Bücher für Carmen vorbei. Carmen, eine resolute Frau in den Fünfzigern, ist die „gute Seele“ von Rosa del Foc – dem gut sortieren und geschmackvoll eingerichteten anarchistischen Buchladen in der Altstadt, in dem nicht nur Anarchisten ihre Bücher kaufen. Der Laden, der auch Produkte von libertären Kooperativen anbietet, steht dem undogmatischeren Flügel der CNT nahe (vgl. GWR 311) und unterhält auch ein Ateneo – jene typisch spanische Variante eines politisierenden Kulturclubs, irgendwo angesiedelt zwischen Bibliothek, Freidenkertreff und Volkshochschule.
Agustín will viel von mir wissen und ich von ihm. Wir reden über die Initiativen, die damals in Barcelona vom Projekt-A-Fieber befallen waren; fast alle existieren noch, die meisten haben sich gut entwickelt, und die Projektidee stehe nach wie vor hoch im Kurs.
El Proyecto A
Das war eigentlich das Letzte, was ich erwartet hatte. Nach der Krise des Projekts in Deutschland (vgl. GWR 304) waren die Kontakte zu anderen Ländern langsam eingeschlafen, und irgendwie hatte ich geglaubt, denen müsste es genauso ergangen sein wie uns…
Aber schon am ersten Tag in Barcelona bin ich eines Besseren belehrt worden: Unser erster Besuch gilt Trèvol. Meine Lebensgefährtin und ich samt Kindern fallen reisemüde in die Räume dieser fast schon legendären Genossenschaft ein, die den einzigen ökologischen Fahrrad-Kurierdienst Kataloniens unterhält und zu den eifrigsten Pionieren des Proyecto A in Barcelona gehört. Unser alter amigo Chavi Palos, seinerzeit ebenfalls oft gesehener Gast in Neustadt, empfängt uns mit offenen Armen – und der Einladung zu einem veritablen „Bankett“, das schon für diesen Abend, eigens „zu unseren Ehren“, arrangiert ist…
Auch Trèvol war seit meinem letzten Besuch umgezogen: größere Räume, bessere Geschäfte, weiterer Aktionsradius – und immer noch eine selbstverwaltete Kooperative ohne Chefs, dafür aber jetzt auch mit den ersten Elektro-Lieferwagen in der Branche – wofür sie sogar einen Umweltpreis erhalten haben.
Und auch immer noch stark engagiert als Vorreiter der libertären Selbstverwaltungsidee innerhalb der traditionellen spanischen Kooperative-Bewegung. Erst kürzlich wurden sie in den nationalen Vorstand gewählt.
Auch die tolle Festa de l’Autogestió gibt es noch, das Fest der Selbstverwaltung, beliebter Ort zum Feiern, Kennen Lernen und Vernetzen für die vielen selbstverwalteten Betriebe der Stadt.
Das „Bankett“ gerät dementsprechend zu einer Mischung aus nostalgischer Rückschau und optimistischer Zukunftsvision: noch mehr bekannte Gesichter, die ich zuletzt vor 10 Jahren in Neustadt oder Barcelona gesehen hatte, Umarmungen, Trinksprüche, feuchte Augen hier und da. Aber auch ganz junge Frauen und Männer voller Elan und frischer Ideen – eine ganz neue Generation in offensichtlichem Einklang mit den Carrozas, wie in Spanien „die Alten“ genannt werden.
Meine Tischnachbarinnen, wohl noch keine 20 Jahre alt, erklären mir voller Begeisterung die Idee von Xarxa, dem „Netz“, und ebenso begeistert redet der inzwischen ergraute Ferrán auf mich ein, damit ich auch alles schön begreife. Dass Xarxa nämlich mit seinen Ideen von solidarischer Ökonomie und gegenseitiger Hilfe ganz auf der Linie von Projekt A liege und in den verschiedenen Stadtteilen entsprechende Initiativen miteinander vernetze.
Ich müsse mir das unbedingt ansehen, meint Ferrán, und lädt mich für übermorgen zu einer Tour durch sein Barrio ein, den Stadtteil Sants.
Lebendige Gegengesellschaft
Auch Ferrán Aguiló hatte uns in Neustadt besucht und ist seither nicht müde geworden, das Projekt A zu propagieren und wo immer möglich umzusetzen. Er arbeitet bei Mon Verd, der „Grünen Welt“, einem ideenreichen Vertrieb und auch Hersteller ökologischer Produkte, die im „alternativen Barcelona“ überall zu finden sind. Er erwartet mich mit einem riesenhaften anarchotouristischen Programm, von dem wir am Ende nicht einmal die Hälfte schaffen.
Sants, so erklärt er mir, ist eines jener typischen barceloneser Barrios mit langer libertärer Tradition; einer Art kämpferischer und autonomistischer Gegengesellschaft, deren Wurzeln weit über 100 Jahre zurückreichen, bis hin in die frühe Arbeiterbewegung, den Antiklerikalismus, die Genossenschaftsbewegung. Die Alltagssolidarität hat selbst die langen Jahre der Franco-Diktatur überlebt, an ihr knüpften die Libertären vor über 20 Jahren wieder an.
Er gibt mir La Burxa, das professionell gemachte Stadtteilblatt, das von der basisdemokratischen Asamblea de Barrio, einer Art Stadtteilrat, herausgegeben wird. In Rotationsdruck und hoher Auflage, finanziert durch Anzeigen sympathisierender Kleinfirmen und linker Projekte – und überall im Viertel verteilt und gern gelesen. Mit einer in Deutschland kaum vorstellbaren inhaltlichen Toleranz: von den linken katalanischen Separatisten über die Gewerkschaften bis hin zu Anarchopunks und Hausbesetzern – mit einer in Wort und Bild klar erkennbaren Dominanz libertärer Ideen.
Vielfalt ohne Dogma
Unser nächster Besuch gilt Malea, einem kleinen Lädchen namens „Unkraut“, über dem Herboristería steht, Kräuterladen. Hier wollen wir einkehren. Ich assoziiere moralinsauren deutschen Ökofundamentalismus und stelle mich auf Kamillentee ein. Stattdessen erwartet uns die sympathische Symbiose aus ökologischem Bewusstsein und spanischer Lebensart, halb Bioladen, halb Bar. Kräuter, Tees und viele gute Bio-Produkte von Mon Verd für ein gesundes Leben in selbstverständlichem Einklang mit einer Bar, an der es auch Martini und Cognac gibt. Sohn Moritz kriegt ein Bier, Tochter Nora eine Limo, Freundin Ute ihren Kräutertee und ich nach einem kleinen tinto einen echten argentinischen Mate, stilvoll aus der Bombilla. Wie erfrischend undogmatisch! Ich bin entzückt.
Etwas später werde ich ein wenig verlegen. Denn unsere jungen Gastgeberinnen, Maria und Milena, zücken plötzlich eine stark abgegriffene Fotokopie einer Fotokopie: El Proyecto A, ein 15 Jahre alter Reader auf spanisch, der, so sagen sie, hier noch überall zirkuliere und von den jungen Leuten begeistert gelesen und engagiert diskutiert werde. Auch sie haben sich bei ihrem Laden davon inspirieren lassen: Doppelprojekt Bar/Kräuter, Kinderbetreuung, Mittagstisch, politische Infotheke, Treffpunkt. Malea sei kein Gutmensch-Ghetto, sondern ein beliebter Ort für Jung und Alt aus der gesamten Nachbarschaft.
Sie selbst seien so etwas wie die zweite Generation des Projekts in Barcelona (und das könne ich ruhig wörtlich nehmen, denn Milena ist tatsächlich die Tochter von Ferrán). Als sie dann beginnen, aus dem Proyecto halbe Passagen zu rezitieren, fürchte ich fast, sie würden mich um ein Autogramm bitten, aber so weit kommt es dann doch nicht.
Denn wir werden schon in La Ciutat Invisible erwartet, der „unsichtbaren Stadt“, einem weiteren Projekt gleich um die Ecke, das ebenfalls zum Dunstkreis des Proyecto A zählt und – mit Malea und etlichen weiteren – in loser Kooperation vernetzt und verbandelt ist.
Ciutat Invisible ist ein freundlicher, moderner Laden, der auf den ersten Blick wie eine Boutique wirkt. Auf den zweiten Blick entdeckt man hinter Silberschmuck, Mützen und den wunderschön designten Subversiv-T-Shirts aus eigener Produktion auch Anarcho-Buttons, Bücher, Infos, Zeitungen, Flugblätter und politische Aufrufe. Hernán, Mitte zwanzig, führt uns durch alle Räume und erklärt: Früher trafen sich hier nur die Opas aus dem Viertel; die kommen auch immer noch, aber seit die jungen Leute das Lokal in kollektiver Leitung übernommen hätten, kommen Leute jeden Alters und aller Schichten. In der Tat: Der Laden ist rappelvoll. Kein Wunder, bietet er doch neben dem Buch- und Warenverkauf auch ein Internet-Café, ein Archiv zur Stadtteilgeschichte nebst Bibliothek, eine DVD-Produktion, eine kleine Bar und Computerkurse.
Die nächste Station ist eine Kneipe, in der die katalanischen Separatisten verkehren (von denen es auch eine anarchistische Fraktion geben soll). An den Wänden Fahnen und Bilder von IRA- und ETA-Märtyrern – hier wird Militanz zur Schau gestellt. Junge Frauen sortieren riesige Haufen roter Nelken, die morgen, auf der Fiesta San Jordi, dem höchsten katalanischen Feiertag, traditionellerweise verkauft werden. Und Ferrán zählt derweil auf, was es sonst noch alles gibt, was wir aber nicht mehr besuchen können (weil Milena mir nämlich jetzt das besetzte Haus zeigen will, in dem sie lebt).
Also, zum Beispiel mehrere Dutzend Ateneos, zehn davon spezifisch libertär, zum Teil mit anarchistischen Bibliotheken und Archiven, Kneipen. Fünf anarchophil-autonome Radiosender. Den berühmten Infoladen El Lokal in der Calle Hospital. Das Cinema Rebelde und die Pimpam Films mit Videoclub, -verleih und eigenen Produktionen. Die Lebensmittelkooperative Germinal mit vier Läden in Sants, Vallès, Sarria und Gracia. Die Fahrradaktivisten von Amigos de la Bici und Biciclot. Und natürlich die besetzten Häuser, zu denen wir anschließend gehen wollen.
Ich verliere ein wenig den Überblick; mir wird klar, ich müsste eigentlich noch ein, zwei Wochen dranhängen… Und doch – das kann noch nicht alles gewesen sein, allenfalls eine Auswahl von Ferráns Favoriten. Denn die Agenda Libertaria 2006, der handliche Anarcho-Taschenkalender, führt alleine für Barcelona 73 unabhängige libertäre Initiativen auf – wohlgemerkt ohne die zahlreichen gewerkschaftlichen Organisationen: Zeitungen und Aktionsgruppen, Frauen-, Lesben- und Schwulenzirkel, Buch-, Musik- und Comicverlage, Ökogruppen und Bands, bis hin zu Naturisten, Antiprohibitionisten und der Liga für die Freiheit des Impfens. Und über all dem schwebt, sozusagen als der Kitt der politischen Gegenkultur, das, was früher in Deutschland „Alternativpresse“ hieß. Aber auch hier keineswegs irgendwelche selbstgebastelten Szeneblättchen, sondern eine Vielfalt von richtig dicken, professionell und aufwändig gemachten links-undogmatischen Wochenblättern, teils gratis, teils kommerziell, in denen auch der Anarchismus jederzeit ohne Probleme eine wohlwollende öffentliche Plattform findet. Eines davon, die Directa, kam gerade mit ihrer ersten Nummer auf den Markt und wartete im Lager von Trèvol auf ihre Auslieferung.
Hausbesetzung de luxe
Wenig später stehen wir in einer ehemaligen katholischen Kapelle und staunen: Edle Täfelungen und Barocksäulen mit goldenen Kapitellen, aber aus den romanischen Bilderrahmen grinsen uns antiklerikale Teufelchen an… Wir befinden uns in Can Vies, einem besetzten Haus am Rande von Sants, in dem einst ein Bahnarbeiter-Heim untergebracht war, natürlich mit Hauskapelle, wie zu Francos Zeiten üblich. Heute dient sie für Meetings, Versammlungen, Konferenzen.
Auch die Anarchogewerkschaft CGT hält hier gelegentlich Tagungen ab. Und hier wohnt auch Milena, zusammen mit einem Dutzend junger Leute in einer Art Kommune. Alle zwei Wochen treffen sich Bewohner und Unterstützer zum Plenum; entschieden wird nach dem Konsensprinzip und, wenn das nicht klappt, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Im Vorderhaus gibt es eine Bar mit Infotheke, hier treffen sich auch Nachbarschafts- und Initiativgruppen, die beispielsweise gegen Globalisierung, Neoliberalismus und die Weltbank mobilisieren. Und natürlich gegen den Bau einer neuen ICE-Trasse, die mitten durch das Haus hindurchführen soll. Milena hat Zweifel, ob sie den Abriss verhindern können – aber noch wird gekämpft.
Can Vies ist unter den acht besetzten Häusern Barcelonas eher eine „kleine Hausnummer“ – dafür aber ein wunderschönes altes Gebäude mit Charme und gemütlichem Ambiente. Die Bewegung der Okupas, wie hier die Squatters heißen, begann in Barcelona in den 90er Jahren. Ab 2001, berichtet Milena, nahm die Bewegung an sozialer Breite zu – unter anderem als Folge der neoliberalen Prekarisierung. Seither leben Menschen jeden Alters und verschiedener sozialer Herkunft in den besetzten Häusern, ideologische Dogmen und politische Vereinnahmungsversuche hätten seitdem stark abgenommen. Durch einige Eigentümlichkeiten des katalanischen Rechts bleiben die Besetzer relativ unbehelligt, vorausgesetzt, sie können die ersten Tage ohne Räumung überstehen und nachweisen, dass der Besitzer das Gebäude vernachlässigt hat.
Auf diese Weise kam die Hausbesetzerbewegung sogar zu einer echten De-Luxe-Immobilie in bester Villenlage direkt unter Barcelonas Hausberg Tibidabo: eine aufgegebene Kaserne der verhassten Polizeitruppe Guardia Civil: mit reichem Baumbestand, schattigem Innenhof und sogar einigen Äckern im Umland.
Dort wird jetzt Bio-Gemüse angebaut – ein geradezu musterhaftes Beispiel für eine gelungene libertäre Resozialisierung.
Anmerkungen
Teil 1 dieses Artikels erschien im Sommer 2006 in der GWR 311.
Die ausführliche Reportage von Horst Stowasser einschließlich der Interviews erscheint in Kürze unter dem Titel "Anti-Aging für die Anarchie - Das libertäre Barcelona 70 Jahre nach der Spanischen Revolution" im Verlag Edition AV.