Im Frühjahr 1988 wurde in Frankfurt am Main der Verlag Edition AV gegründet, damals noch unter dem Namen "Edition AV 88". Die Graswurzelrevolution gratuliert herzlich zum 18. Geburtstag und präsentiert ein Interview mit den VerlegerInnen Andreas W. Hohmann (geboren 1968 in Bad Homburg), Dieter Johannes (geboren 1949 in Braunschweig) und Julia Hohmann (geboren 1981 in Wiesbaden und seit drei Jahren beim Verlag).
Graswurzelrevolution (GWR): Was habt Ihr gemacht, bevor Ihr den Verlag gegründet habt?
Andreas W. Hohmann: Wenn man von der Gründung redet, muss man erst mal von dem Projekt „Edition AV“ reden. Dass der Verlag mal ein reiner Verlag werden wird, hatten wir uns damals nicht vorgestellt. Und vor 18 Jahren? Da war ich zwanzig. Ich hatte mich gerade als Anarchist entdeckt. Nach einigen Irrungen und Wirrungen, nach Literatur und Erfahrung.
Mit zwanzig hab ich gedacht, dass mir die Welt gehört. Was hast du denn mit zwanzig gemacht?
Dieter Johannes: Ich hatte damals eine Krise. Alkohol, Atelier abgebrannt, Sponti-Bewegung in Frankfurt überlebt. Und dann war da eigentlich nichts, da ich mich in der Neuen Sozialen Bewegung nicht so zurechtgefunden habe. In erster Linie habe ich von Gelegenheitsarbeiten gelebt.
Julia Hohmann: Vor 18 Jahren saß ich wahrscheinlich mal wieder auf der Eselsbank.
GWR: Wie kam es zur Gründung Eures Verlags? Und wie seid ihr auf den Namen „AV 88“ gekommen?
Andreas W. Hohmann: Das ist eine längere Geschichte. Durch Zufall haben sich ein paar Kreative in einer Kneipe getroffen. Da jeder politisch engagiert war und jeder eine kreative Ader hatte, haben wir eine „anarchistische“ Künstlergruppe gegründet. Richtig mit Konzept, Theorie und vielen Idealen. Zu diesem Projekt sollte auch die Gründung einer Kommune gehören. Das war 1987.
Über Dieter bin ich auch zu dieser Gruppe gestoßen. Ich war zwar kein Künstler, aber da ich damals ein Volontariat machte, habe ich die PR-Arbeit für die Künstlergruppe übernommen. Dazu gehörten auch die Bibliophilen Buchausgaben, die man ja kennt. Eine anarchistische Kunstzeitschrift wollten wir auch herausbringen.
Damals hatte die Gruppe keinen Namen. Zu dieser Zeit hatten wir nur ein gemeinsames Atelier. Wir waren viel zu sehr mit dem Alltag und der Realisierung des Projektes beschäftigt. Wir haben uns nur einmal an einem Wettbewerb beteiligt. Der Gewinn war eine große Ausstellung mit allem drum und dran. Und den haben wir gewonnen. Das war im März 1988, und jetzt brauchten wir einen Namen.
Jetzt sollte Dieter weiter erzählen, da er schuld an unserem Namen ist. Er lüftet jetzt ein Geheimnis.
Dieter Johannes: Wir fühlten uns als „die Avantgarde“. So kamen wir auf die Idee, uns Avantgarde 88 zu nennen. 88 wegen des Gründungsjahrs.
Die Namensfindung hat natürlich ein paar Flaschen Wein gedauert. Als wir den Namen endlich hatten, sollte ich auf einem Betttuch den Namen mit einer Sprühdose schreiben.
Natürlich war ich ziemlich betrunken und hatte meine Feinmotorik nicht mehr so unter Kontrolle. Auf jeden Fall war nach dem „V“ das Betttuch zu Ende. Ich habe dann einfach noch die 88 in das „V“ gesprüht – und fertig war der Name.
GWR: Wann und warum habt Ihr den Namen geändert?
Andreas W. Hohmann: Dazu müssen wir erst einmal erklären, warum der Verlag übrig geblieben ist. Bis 1996 war alles, was wir gemacht haben, das „Projekt AV 88“, bestehend aus der „Künstlergruppe AV 88“ und der „Edition AV 88“. Die Künstlergruppe ist, wie das bei vielen linken Projekten der Fall ist, irgendwann auseinander gebrochen.
Das hatte unterschiedliche Gründe. Alle hatten ja mein Alter. Dieter war sozusagen unser Senior, der einzige, der ein Studium (Bildhauerei) hinter sich hatte. Wir haben in der Zeit studiert, unterschiedliche Interessen haben sich aufgetan, bei einigen hat sich auch die politische Einstellung geändert. 1996 waren nur noch Dieter und ich übrig. Zu zweit wollten wir uns nicht „Künstlergruppe“ nennen. So blieb nur noch die „Edition AV 88“ übrig. Die haben wir dann in einen Verlag umgewandelt. Und ab da haben wir dann auch angefangen, Bücher zu machen. In erster Linie das, was wir für richtig und interessant fanden.
Dieter Johannes: … und viele Bibliophile Buchausgaben, mit denen wir dann 1996 auf unserer ersten Buchmesse waren.
Andreas W. Hohmann: Die Buchstabenkombination „88“ ist in Verruf geraten, weil sie von Nazis seit den 1990er Jahren als vermeintliches Symbol für „Heil Hitler“ (H, der achte Buchstabe des Alphabets) missbraucht und entwendet wird.
Obwohl unter unseren Flyern, Prospekten und Veröffentlichungen nie „Edition AV 88“ stand, sondern immer auch der Zusatz „gegründet 1988“, hatten wir mal eine Antifa-Gruppe vor unserer Tür.
Dieter Johannes: Das war schon verrückt. Andreas und ich waren in Frankfurt ja auch in vielen links-politischen Zusammenhängen engagiert, auch in einer Autonomen Antifagruppe, und dann stehen da junge Leute vor unserer Haustür, schauen nicht in unsere Prospekte und wollten uns verprügeln, weil sie nur das „88“ gesehen haben.
Andreas W. Hohmann: Um jedes Missverständnis zu vermeiden, haben wir das „88“ dann gestrichen und aus „AV“ ein „Anarchistischer Verlag“ gemacht.
Dieter Johannes: Trotzdem haben wir uns 1988 gegründet.
GWR: Ihr versteht Euch als Anarchisten. Was bedeutet das für Euch? Und was ist für Euch ein „Anarchistischer Verlag“?
Andreas W. Hohmann: Das sind gleich zwei Fragen! Warum verstehe ich mich als Anarchist? Ich möchte hier keine lange politische Debatte heraufbeschwören. Mit ein paar Sätzen ist das nicht gesagt. Es ist ja nicht so, dass du morgens aufstehst und sagst: „Das ist es!“ Es war ein langer Weg. Auch als ich mich schon der anarchistischen Theorie genähert hatte. Um es einmal mit einem Titel von Horst Stowasser zu sagen, und er ist einer der vielen Menschen, warum ich immer noch Anarchist bin, ich wünsche mir ein Leben ohne Chef und Staat.
Selbstorganisation, Dezentralisierung, Herrschaftslosigkeit und Freiheit, ohne die Freiheit von anderen zu beschneiden.
Das finde ich wunderbar, da möchte ich hin.
Julia Hohmann: Solange ist es noch nicht her, als ich das erste Mal das Wort „Anarchie“ hörte. Da mich aber die Idee des Anarchismus schon längere Zeit beschäftigte – selbst zu denken, als alles nachzuplappern -, ohne das Wort Anarchismus je gehört zu haben, fiel es mir nicht schwer, dem auch einen Namen zu geben. Und selbstständiges Denken und Handeln in einer Welt mit Staaten ist kaum möglich. Deshalb war und ist für mich die Lösung einfach.
Dieter Johannes: Irgendwann hat mich das ganze politische Weltbild angekotzt. Wenn ich an die 68er denke, wie die ihren „Marsch durch die Institutionen“ begonnen haben, Parteien gründeten, aber ein paar Demos früher noch den Staat abschaffen wollten, habe ich mir gedacht: „Jetzt erst recht! Ich bleib dabei!“ Als Künstler war ich Anarchist, habe mich an keine Ordnung gehalten. Ich bin kein Theoretiker. Aber dass der Staat über mich bestimmt, das stinkt mir. Und wenn was stinkt, muss man es auf den Kompost werfen. Wie man merkt, jobbe ich seit zwanzig Jahren auch als Gärtner.
Andreas W. Hohmann: Als „Anarchistischer Verlag“ machen wir das, was wir wollen. Das heißt, wir machen die Bücher, die wir für wichtig halten. Egal, ob Philosophie, Geschichte, Literatur oder Poesie. Als „Anarchistischer Verlag“ schauen wir nicht so sehr darauf, ob ein Buch „wirtschaftlich“ interessant ist, sondern ob es wichtig ist. Natürlich ist das Buch für die Autorinnen und Autoren immer wichtig. Hier machen wir das so, dass wir alle ein Manuskript lesen, was manchmal dauert, da wir wirklich fast alles lesen, und dann diskutieren wir darüber. Wir fragen auch schon mal andere.
Manchmal ist es so, dass ein Buch mich nicht vom Hocker reißt, wir uns aber unsicher sind, dann geben wir das Manuskript weiter. Da kann es schon passieren, dass wir uns anstecken lassen. Häufig ist es auch so, dass uns unsere Autorinnen und Autoren von einem Projekt erzählen, dann kann es schon mal vorkommen, dass wir uns für etwas begeistern, was wir noch gar nicht gelesen haben.
Als „Anarchistischer Verlag“ sollte man nie vergessen, dass ein Verleger das wenigste macht. Die meiste Arbeit haben die Autorinnen und Autoren.
Wir vertreten das nur, was die machen.
GWR: Was wollt Ihr als Verlag politisch erreichen?
Andreas W. Hohmann: Viele Leute sind kreativ. Haben wichtige Dinge zu sagen. Ob als Roman oder als Sachbuch. Wenn wir uns mal die Medienmacht anschauen – und speziell den Buchmarkt -, dann stellen wir fest, dass 70 Prozent der Bücher von drei Konzernen produziert werden. Dann kommen jetzt die großen Buchketten. Die nehmen nur die Bücher von den großen Verlagen. Die wollen Geld verdienen. Egal mit was. Viele unserer Bücher würden wahrscheinlich bei keinem anderen Verlag erscheinen. Wir, so wie die anderen Bücher unserer Kolleginnen und Kollegen, repräsentieren noch ein Stück Meinungsvielfalt.
Julia Hohmann: Für mich ist immer der anarchistische Ansatz in den Büchern wichtig. Das heißt jetzt nicht, dass alle unsere Bücher voll mit anarchistischer Theorie oder alle unsere Autoren überzeugte Anarchos sind. Natürlich sind unsere Autorinnen und Autoren alle politisch links eingestellt, aber mit einem historischen Roman kann die Idee des Anarchismus auch unpolitische Menschen erreichen. Vielleicht können wir ja Menschen überzeugen.
GWR: Wo liegen Eure Schwerpunkte?
Julia Hohmann: Schwerpunkte haben wir nicht, weil wir Anarchisten sind.
Dieter Johannes: Hauptsache, sie sind wichtig.
GWR: Welche Reaktionen habt Ihr auf Eure Bücher erhalten?
Dieter Johannes: Unterschiedliche. Jedes Buch ist anders.
Andreas W. Hohmann: Ich würde sagen, vielschichtige. Natürlich machen wir Fehler. Wir sind keine professionellen Verleger. Dass der Verlag mal so wird, wie er jetzt ist, war nicht abzusehen. Aber wir machen Bücher. Mal mit Fehlern, die sie uns um die Ohren hauen, aber es kommt auch auf den Inhalt an. Wir sind zwar jetzt 18 Jahre, aber wir lernen immer noch. Und wollen auch noch viel lernen.
Julia Hohmann: Die Begeisterung der Buchhändler ist groß, wenn ich ihnen unsere Vielfalt präsentiere.
GWR: Arbeitet Ihr im Moment an neuen Büchern?
Julia Hohmann: Immer! Lily Zográfou „Beruf: Porni [Hure]“.
Dieter Johannes: Ja! Von Rubén Trejo „Magonismus: Utopie und Praxis in der Mexikanischen Revolution“.
Andreas W. Hohmann: Gerade haben wir Michel Ragon „Das Gedächtnis der Besiegten“ gemacht und: Cornelius Castoriadis „Autonomie oder Babarei“ (mehr Bände kommen noch), aus der Reihe Widerständige Frauen: „Denken hat kein Geschlecht. Mary Wollstonecraft“ von Sulamith Sparre.
Julia Hohmann: Das neue Buch von Gwendolyn von Ambesser dürfen wir nicht vergessen. „Schaubudenzauber. Geschichte und Geschichte eines legendären Kabaretts“.
Dieter Johannes: Horst Stowasser macht auch noch ein Buch: „Anti-Aging für die Anarchie? Das libertäre Barcelona, 70 Jahre nach der Spanischen Revolution“.
GWR: Gibt es so etwas wie eine „anarchistische Verlagsethik“? Eine eigene Verlagsphilosophie?
Andreas W. Hohmann: Wir haben von Anfang an eine eigene Philosophie für unseren Verlag gehabt. Diese begreifen wir auch als unsere „Ethik“ (großes Wort). Die wichtigsten Prinzipien sind: Wir verramschen und makulieren nicht. Wenn ein Buch von uns verlegt wird, halten wir es auch lieferbar. Egal wie der wirtschaftliche Erfolg ist. Das machen wir aus Respekt gegenüber den Autorinnen und Autoren. Wenn wir uns daran nicht halten, gehen die Rechte sofort wieder an diese zurück. Das ist aber noch nie passiert. Und alle Entscheidungen, die wir treffen, passieren immer im Konsens mit der Autorin oder dem Autoren.
Julia Hohmann: Das Konsensprinzip steht sogar im Autorenvertrag.
GWR: Warum seid Ihr aus der Metropole Frankfurt ins verschlafene Lich umgezogen?
Dieter Johannes: Wir hatten schon immer vor: zusammen leben und arbeiten.
Julia Hohmann: In Frankfurt hatten wir drei Wohnungen und ein Büro. Da zusammen zu leben, kann man nicht finanzieren. Lich dagegen war finanziell möglich. Außerdem ist die ganze Atmosphäre hier schön. Wir haben viel Platz.
Andreas W. Hohmann: Lich liegt im Herzen der Natur. Und hat mit uns jetzt sogar eine eigene FAU-Ortsgruppe.
GWR: Wovon lebt Ihr?
Alle: Nicht vom Verlag. Den betreiben wir ehrenamtlich.
Julia Hohmann: Ich studiere und jobbe im Großbaumarkt.
Andreas W. Hohmann: Ich arbeite als freiberuflicher Deutschlehrer (DfA).
Dieter Johannes: Ich arbeite meistens als Gärtner.
GWR: Viele Menschen ziehen sich nach ein paar Jahren politischen Engagements wieder „ins Private“ zurück. Was lässt Euch schon so lange weitermachen?
Julia Hohmann: Ich fange doch gerade erst an!
Andreas W. Hohmann: Ich würde sagen, die Autorinnen und Autoren. Die kommen immer mit neuen Projekten. Stecken uns an, und dann machen wir weiter.
Dieter Johannes: Ich will das, was ich träume, auch verwirklichen.
GWR: Wie habt Ihr „burn-outs“ verhindert bzw. wie seid Ihr damit umgegangen, um weitermachen zu können?
Wo holt Ihr Euch Unterstützung und neue Energien?
Alle: Für burn-outs hatten wir bis jetzt noch keine Zeit.
Dieter Johannes: Es gibt immer Leute, die sehen, was wir machen, und wollen uns unterstützen. Viele helfen mit.
Andreas W Hohmann: Wir sind nicht der Verlag. Der Verlag besteht aus allen, die hier mitmachen, dazu gehören auch Jürgen, Michael, Ralf, Viola und viele andere, die sich bei uns engagieren.
Manchmal sind wir nur eine Plattform, wo ein Buch gemacht wird. Ich kann dann immer nur Danke sagen.
GWR: Wenn Ihr zurückblickt, gibt es etwas, wo Ihr im Nachhinein sagen würdet, das waren Fehler?
Andreas W. Hohmann: Wir machen immer Fehler. Privat, mit dem Verlag. Bekanntlich lernt man daraus.
Dieter Johannes: Frag mal unsere Kritiker. Die wissen das besser als wir.
GWR: Eure größten Erfolge, einmal politisch, einmal privat?
Julia Hohmann: Privat natürlich meine Tochter Anna. Und politisch, dem Verlag anzugehören und dadurch viel zu lernen. Speziell auch von den Autorinnen und Autoren. Danke euch!
Andreas W. Hohmann: Privat: Meine Tochter. Politisch: Ich bin immer noch Anarchist.
Und nach 18 Jahren – trotz aller Schwierigkeiten – der Verlag ist auch noch da.
Dieter Johannes: Politisch wie auch privat würde ich sagen, dass die Autorinnen und Autoren zu uns halten, wir einen so engen Kontakt haben, sowie die Unterstützung von so vielen Leuten – Anarchisten oder keine Anarchisten – finde ich super. Freut mich immer wieder.
GWR: Wie schätzt Ihr die derzeitige libertäre Bewegung ein?
Julia Hohmann: Das kann ich nach so kurzer Zeit noch nicht.
Andreas W. Hohmann: Der Anarchismus hat es in Deutschland sehr schwer. Aber ich finde immer gute Ansätze, die mich freuen. Ich kenne jetzt so viele Menschen in der libertären Bewegung, und täglich kommen neue dazu. Um mal ehrlich zu sein: Ich lebe vom Prinzip Hoffnung. Die libertäre Bewegung wird wachsen!
Dieter Johannes: Sollte sich weniger streiten. Dann wird sie auch stärker.
GWR: Gibt es eine Botschaft, die Ihr immer schon mal loswerden wolltet?
Julia Hohmann: Bei sich selbst und in der eigenen Umgebung anfangen, den Anarchismus zu leben. „So wie man von anderen Menschen behandelt werden möchte, sollte man sie auch behandeln.“
Andreas W. Hohmann: „Ja. Anarchismus!“ Habe ich mir mal von dir ausgeliehen.
Dieter Johannes: Nicht immer träumen, anfangen.
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