Es gehört zu Freud und Leid der großen Jahrestage, dass ein Tintenregen auf die Menschen niedergeht. Gute und nützliche Neuerscheinungen wechseln mit wieder aufgelegten Ladenhütern, Regale füllen sich mit Monographien und Einführungen, die selten wirklich Neues zum Thema bieten, und wenn es sich um ein politisches Ereignis handelt, wirft sich auch die Presse ins Getümmel.
Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, der sich im Juli dieses Jahres zum siebzigsten Mal jährte, war gewiss ein solches politisches Ereignis – umso mehr, als in Spanien die Auseinandersetzung um Beurteilung und Relevanz der jüngeren Geschichte an Schärfe zugenommen hat. Der Blick, den die deutsche Presse auf diese Auseinandersetzung wirft, ist allerdings oft scheeläugig.
Die liberale Wochenzeitung Die Zeit pflegt die gute Tradition, an Jahrestagen über Spanien dummes Zeug zu schreiben. 1996 bezog der Literaturwissenschaftler Fritz J. Raddatz von dem Hispanisten Günther Schmigalle eine publizistische Tracht Prügel für ein Dossier zum sechzigsten Jahrestag des Bürgerkriegs, in dem es vor Verdrehungen und Fehlern nur so wimmelte.
Heute tritt Werner A. Perger mit seinem Artikel „1936 – Spaniens Trauma“ (Zeit online, 17.7.2006) in die Fußstapfen des Meisters.
Nun könnte man sich ja vergnügt zurück lehnen, einen Kaffee einschenken und sich für ein paar Minuten dem Genuss erquicklichen Schwachsinns hingeben. Etwa, wenn Perger den sozialistischen Regierungspräsidenten Felipe González, der 1986 laut und deutlich verkünden ließ, der Bürgerkrieg sei „kein Ereignis, dessen man sich erinnern sollte“, einen „stillen Partner des ‚Vergessenspakts'“ nennt. Oder wenn er schreibt von dem demonstrativen Verständnis der konservativen Volkspartei Spaniens, Partido Popular (PP), für „franquistische Randalierer, die sich zusammenrotten, sobald irgendwo auf einem öffentlichen Platz eines der unzähligen Franco-Denkmäler abgeräumt werden soll (was bezeichnenderweise nur in den Nachtstunden geschieht)“. Das Denkmal, das vor Pergers geistigem Auge steht – sein Hinweis auf die „Nachtstunden“ verrät es – war ein wuchtiges Reiterstandbild, das bis zum 17. März 2005 die Plaza de San Juan de la Cruz in Madrid zierte. Es war das letzte seiner Art in der Hauptstadt. Als Arbeiter die Gurte befestigten, waren die „franquistischen Randalierer“ ein paar Anwohnerinnen und Anwohner, die ihren Hund Gassi führten. „Na endlich, sie schaffen Paco weg!“, rief ein junger Mann im Vorübergehen. Nachts hatte sich dann eine stattliche Anzahl Schaulustiger versammelt, um dem letzten Ritt des Caudillo zuzujubeln. Das Standbild wurde, recht unzeremoniell, auf einen nahen Schrottplatz gebracht.
Das ist natürlich weniger spannend als Pergers Geschichte von Horden geifernder Faschisten und Baukränen, die im Schutze der Dunkelheit von Dorf zu Dorf kriechen, um Statuen abzuernten. Denn auch im übrigen Spanien finden sich heute keineswegs „unzählige Franco-Denkmäler“. Man muss sie suchen. In Santander und einigen galizischen Städten bestand bis vor kurzem noch Aussicht auf Erfolg – so man denn mit einem Franco ohne Kopf, Arm, Bein oder in einem Kostüm aus allerlei bunten Farbspritzern zufrieden gewesen wäre.
Aber Perger dramatisiert die Situation in Spanien nicht ohne Grund. Er möchte warnen. Warnen vor der Wiederkehr unseliger politischer Meinungsverschiedenheiten, die in einer postmodernen, neoliberal geordneten Welt doch nichts als Schaden anrichten; warnen vor der „Polarisierung der spanischen Gesellschaft“; warnen vor den ewigen „Zwei Spanien“, die er – und mit ihm leider bis heute ein Teil der akademischen Zunft hierzulande – für so etwas wie eine Naturgegebenheit hält; und warnen vor einer mit linker Verbissenheit vorangetriebenen historischen Aufklärung, die nicht weiß, wann Schluss ist: „Im schlimmsten Falle könnte sich der tiefe historische Spalt der spanischen Gesellschaft zwischen einer – grob definiert – autoritären antiaufklärerischen Rechten und einer nicht minder autoritären anarchistischen Linken wieder öffnen.“ Lassen wir die „autoritäre anarchistische [sprich: antiautoritäre] Linke“ für den Moment beiseite.
Es kommt noch besser: Denn schließlich versteigt sich Perger zu einem Satz, der zum Motto taugen könnte für die Art und Weise, wie ein liberaler Geist im 21. Jahrhundert zurückzuschauen wünscht auf – Gott sei Dank – Vergangenes: „[…] Wer war damals schon ´unschuldig´?“
Es zeugt von Pergers (augenscheinlich) frommer Seele, dass er, ahnungsvoll und ahnungslos, in einem tagespolitischen Sachartikel die Frage nach der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradiese aufwirft. Hat sich der Weihrauch aber einmal verzogen, fragt man sich, was derart nivellierender Unsinn deutschen Leserinnen und Lesern an Informationen über Spanien zu vermitteln hat? Außer vielleicht die tröstliche Gewissheit, dass man heute endlich einig stehe wider den blutigen Irrsinn der Geschichte; in einem „geschichtsfreien Raum“ sozusagen.
Tatsächlich ist das Schreckbild einer spanischen Gesellschaft, in der sich aufs Neue Rechte und Linke als unversöhnliche Gegner am geöffneten Grabe gegenüberstehen, maßlos übertrieben. Viele Forderungen, wie sie in Spanien vor allem die Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (ARMH) [‚Bündnis für die Wiedergewinnung der historischen Erinnerung‘] stellt, sind in jeder Hinsicht sinnvoll und werden von vielen Spanierinnen und Spaniern gutgeheißen: Öffnung der anonymen Massengräber aus Bürgerkriegs- und Francozeit und ein menschenwürdiges Begräbnis der Gebeine nach den Wünschen der Angehörigen; ungehinderter Zugang zu bisher verschlossenen Archiven von Kirche und Militär, um Spuren weiterer Verschwundener aufnehmen zu können; Entschädigung der Angehörigen von Opfern der Repression; Rückgabe gestohlenen Eigentums; Demontage der Herrschaftszeichen Francos und eine öffentliche Anerkennung der II. Republik durch die Regierung (letzteres ist mittlerweile geschehen).
Anlässlich des Besuchs von Papst Benedikt XVI. in Valencia forderte die ARMH außerdem erneut eine öffentliche Entschuldigung der Kirche für deren wenig ruhmreiche Beteiligung an Kriegsgewalt und Unterdrückung. Im Bildungssektor drängt sie auf einen kritischeren Umgang mit der jüngeren Geschichte.
Keine dieser Forderungen stellt den politischen Status Quo, das bürgerlich-parlamentarische System der spanischen Demokratie (nach der Verfassung von 1978), in Frage.
Parteigebundene Initiativen wie der kommunistische Foro por la Memoria [‚Forum für die Erinnerung‘] rufen zwar gelegentlich nach einer „III. Republik“, ernst nimmt sie aber niemand. Als am 14. April 2006, zum 75. Jahrestag der Ausrufung der II. Republik, der Vorsitzende des parlamentarischen Linksbündnisses Izquierda Unida (IU), Gaspar Llamazares, auf einer öffentlichen Kundgebung ebenfalls die „III. Republik“ herbeisehnte, damit Spanien „in Sachen sozialer Gerechtigkeit und Demokratie“ vorankomme, hörten ihm gerade einmal ein paar hundert Menschen zu. Zum Vergleich: An der Demonstration gegen die Legalisierung der Homo-Ehe, die fast auf den Tag genau zwei Monate später stattfand, nahmen in Madrid nach Regierungsangaben 166.000 Menschen teil. Die Veranstalter wollten sogar 1.500.000 gezählt haben.
Spanien ist heute wahrlich weit entfernt von einem „revolutionären Linksschwenk“. Und das Prestige, das König Juan Carlos selbst bei Vertreterinnen und Vertretern der politischen Linken besitzt, dürfte auch die repräsentative Monarchie in Spanien noch ein Weilchen stabil halten.
Damit ist alles Gerede von einer „polarisierten Gesellschaft“ hinfällig. Denn tatsächlich „polarisiert“ in Spanien, wenn es um die Erinnerung geht, in erster Linie Partido Popular (PP). Die franquistische Reserve wird mobilisiert, um den sozialistischen Regierungspräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero vom Thron zu stürzen. Der Vorwand ist beliebig.
Als sich am 11. Juni 2005 ca. 30.000 Menschen (nicht 80.000, wie El Adelanto de Salamanca einen Tag später wissen wollte) auf der wunderschönen Plaza Mayor von Salamanca versammelten, ging es eigentlich um den Protest gegen die Rückgabe katalanischer Bestände des Archivo General de la Guerra Civil an die Generalitat von Barcelona. Nur: Man wäre durch die Lektüre der Spruchbänder nie darauf gekommen! „Zapatero vende Patrias“ [‚Zapatero verkauft Vaterländer‘] stand da zu lesen; oder „Zapatero anti-español“ [‚Zapatero Anti-Spanier‘]; Falange, die legale faschistische Partei Spaniens, hatte ein wallendes Bettlaken mit dem Spruch bemalt: „Zapatero: España ni se vende ni se regala“ [‚Zapatero! Spanien wird nicht verkauft und nicht verschenkt!‘]; auf einem einsamen Pappdeckel schaukelte: „Zapatero es un masón“ [‚Zapatero ist ein Freimaurer‘] vorüber; und immer wieder der Slogan, der das inoffizielle Motto der Veranstaltung hätte sein können: „Un archivo – una nación“ [‚Ein Archiv – eine Nation‘]. Als ein kleiner Junge an der Hand eines älteren Herren, augenscheinlich seines Großvaters, fragte, wogegen man demonstriere, antwortete dieser voller Verachtung: „Gegen die Katalanen!“
Salamancas Bürgermeister Julián Lanzarote (PP) hatte für die Veranstaltung großzügig den Stadtsäckel geplündert und einfach an alles gedacht. Eigens gemietete Busse sammelten die Anrainer aus umliegenden Dörfern zusammen. Aus zahllosen Lautsprechern schallte Kämpferisches in jeden Winkel der Stadt. Und das Wetter war auch noch gut.
Die Demonstration von Salamanca war ein Geisterballett, ein letztes Schaulaufen der nationalistischen Rechten, die Franco so lange gestützt hatte. Die „nationale Notlage“, die Partido Popular aus parteitaktischen Gründen bei jeder Gelegenheit herbeizetert, ist in Wahrheit nur zum Lachen. Und angesichts des hohen Altersdurchschnitts der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dürften sich Mariano Rajoy und seine Parteioberen ohnehin bald nach fitterem Fußvolk umschauen müssen. Sie sind bereits kräftig dabei.
Es stünde Presseleuten, die in einem Land ihr Geld verdienen, das sich nicht eben mit Ruhm bedeckt hat bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit, besser zu Gesicht, mit etwas mehr Sorgfalt und Respekt von den aktuellen Ereignissen in Spanien zu schreiben. Die Schärfe, mit der die Auseinandersetzung dort geführt wird, zeugt nicht zuletzt von der Ernsthaftigkeit und Offenheit, mit der man zu Werke geht. Die Arbeit von Bürgerinitiativen wie der ARMH hat das Gesicht Spaniens verändert. Wie weit diese Veränderung noch gehen wird, bleibt abzuwarten.
Gegen die elitäre, großstädtisch-akademische Rede von der Angleichung der Gegensätze oder gar vom „Ende der Geschichte“ steht ihre konkrete Arbeit im Kleinen, in den versprengten Dörfern der Provinz, wo zum Teil noch heute die Angst umgeht: „Ich glaube, dass es eine Katharsis bewirkt“, sagt der Gründer der ARMH, Emilio Silva Barrera (Jg. 1968), über die Arbeit auf dem Land: „Oder eine kleine Kulturrevolution, wenn Sie so wollen. Denn ein Dorf, das die Öffnung eines Massengrabs aus der Zeit des Bürgerkriegs erlebt hat, ist in der nächsten Woche nicht mehr das gleiche Dorf. Unter anderem deshalb, weil die Familien der Erschossenen wieder so etwas wie Vertrauen zum öffentlichen Leben fassen. […] Wenn Leute in den Dörfern sehen, wie ein Guardia Civil [berüchtigte militarisierte Polizei Spaniens] sich um ein Massengrab mit ‚Roten‘ aus dem Kriege kümmert, dann merken sie: Es hat sich etwas verändert.“
Aber es gibt wirklich keinen Grund, warum Werner A. Perger das wissen sollte.