Manche Bücher sind so aktuell, dass niemand zugeben mag, sie gelesen zu haben. In Seminarräumen, Diskussionszirkeln und vor allem in der Presse sonnt man sich gern im Lichte "persönlich erworbenen Wissens". Man verströmt noch einmal den Hauch der jüngsten Abenteuerreise (nach Madrid, Paris oder Barcelona), erzählt von dunklen Gassen, rauchigen Kellern und windigen Landstraßen und übergeht geflissentlich, dass man, um derart informiert zu sein, gar nicht den Sprung in die große weite Welt hat wagen müssen. Der Gang zum nächsten Buchladen tat's auch.
Ein solches Schicksal hätte fast auch das lesenswerte Buch von Walther L. Bernecker und Sören Brinkmann, Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006 (Verlag Graswurzelrevolution 2006) ereilt, das pünktlich zum 70. Jahrestag des Spanischen Bürgerkriegs auf dem deutschen Buchmarkt erschien. In nahezu jeder großen Tageszeitung, die sich zur aktuellen Kontroverse in Spanien um die Geschichte von Bürgerkrieg und Francozeit äußern wollte, wurde ausgiebig aus diesem Werk zitiert. Erwähnt aber wurde es – wenn überhaupt – nur unter ferner liefen; irgendwo in einem traurigen Nebensatz am Ende des Artikels, in Gesellschaft anderer, nicht minder verhackstückter Titelopfer.
Die Arbeit von Bernecker und Brinkmann hat Besseres verdient.
Kampf der Erinnerungen ist nicht so sehr Ergebnis aktueller Forschung der Autoren in Spanien. Das Buch ist eher ein Forschungsspiegel, in dem Bernecker und Brinkmann Erkenntnisse der aktuellen spanischen und internationalen Geschichtswissenschaft zusammenführen und einem größeren Publikum zugänglich machen. Es steht damit in der guten Tradition (vor allem) Walther L. Berneckers bisheriger Veröffentlichungen, der sich wie kaum ein anderer Verdienste darum erworben hat, die neuere spanische Geschichte in Deutschland bekannt zu machen.
Allerdings schleichen sich auf diese Weise auch Fehler ein, für die nicht Bernecker oder Brinkmann, sondern die Verfasser ihrer spanischen Quellen verantwortlich sind: etwa, wenn Bernecker unter Rückgriff auf ein Werk des spanischen Historikers Julián Casanova einen Satz aus der Erklärung des spanischen Episkopats von 1971 als Beleg dafür heranzieht, dass die Kirche sich für ihre unrühmliche Rolle in Bürgerkrieg und Francozeit entschuldigt habe.
Casanova zitiert das vieldiskutierte, nie wirklich verabschiedete Dokument unvollständig und teilweise falsch, wie ein Vergleich mit Veröffentlichungen des katalanischen Kirchenhistorikers Hilari Raguer beweist.
Die kritische Anteilnahme bei der Lektüre wird durch solche Unschärfen nur größer – sie sind in Kampf der Erinnerungen selten genug.
Walther L. Bernecker zeichnet verantwortlich für den ersten Teil des Buches.
Er umfasst die Zeit von der Ausrufung der II. Republik (1931) bis zum Tod Francos (1975) und bereitet gleichsam den Boden, die aktuelle Auseinandersetzung um die historische Erinnerung in Spanien besser zu verstehen.
Wenn Bernecker von den auslösenden Faktoren des Bürgerkriegs handelt, von der innenpolitischen Entwicklung in beiden Zonen, vom militärischen Verlauf des Kriegs oder der Beteiligung Deutschlands, Italiens und der Sowjetunion, ist nahezu jeder Satz ein Destillat – das Ergebnis jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema. Es dürfte schwer fallen, im deutschen Sprachraum Knapperes und Präziseres zu finden.
Erfreulich, wenn auch wenig überraschend, ist Berneckers ausführliche, kritische Würdigung der sozialen Revolution und der Rolle der Anarchistinnen und Anarchisten, die er differenziert zur Sprache bringt. Im heutigen Spanien ist die Erinnerung an die Revolution bestenfalls eine Randerscheinung. Ihre Sachwalter sind eine tief zerstrittene CNT und einige unkonventionelle Geister aus den Korridoren der Universitäten, die sich – nicht zuletzt – um die hervorragende Fundación de Estudios Libertarios Anselmo Lorenzo (‚Stiftung für Libertäre Studien Anselmo Lorenzo‘) scharen.
Die Revolution hat keine Lobby, und die etablierte Fachhistorie überlässt sie gerne den anarchistischen Gruppen und Grüppchen zum Spielen.
Der Vorwurf, die revolutionären Ereignisse der Jahre 1936 und 1937 würden ein weiteres Mal „verdrängt“, kann mit Blick auf die öffentliche Diskussion in Spanien durchaus erhoben werden. Das Buch von Bernecker und Brinkmann trifft er nicht.
Berneckers Hauptaugenmerk liegt auf dem Problem der historischen Erinnerung an Republik und Bürgerkrieg bis 1975: der Erinnerungspolitik des Franco-Staates. Der Rolle und Funktion zentraler „Erinnerungsorte“ (Pierre Nora) des Franquismus, etwa dem Alcázar von Toledo oder dem „Tal der Gefallenen“ bei Madrid, widmet er ein ganzes Kapitel. Gelegentlich eingefügte Fotographien und Illustrationen lassen das Gesagte plastisch werden. Bernecker behandelt die Allgegenwart Francos im öffentlichen Raum, seine Verherrlichung in Literatur, Film und bildender Kunst, den Einfluss der Medien und den herrschaftslegitimierenden Diskurs der Geschichtswissenschaften. All dies geschieht knapp, klar, fundiert und war in dieser Prägnanz auf Deutsch bisher noch nicht zu lesen.
Vor einer kniffligeren Aufgabe stand Berneckers Kollege Sören Brinkmann: Er behandelt im zweiten Teil des Buches die turbulenten Jahre der transición (1975-1980), des keineswegs gewaltlosen Übergangs von der Diktatur zur parlamentarischen Demokratie, und den ihr folgenden öffentlichen Umgang bzw. Nicht-Umgang mit der jüngsten Vergangenheit des Landes. Es spricht für Brinkmanns intellektuellen Mut, dass er sich an ein Thema wagt, zu dem in Spanien gegenwärtig praktisch jeder gängige Konsens in Forschung und öffentlicher Meinung aufgekündigt wird – und die Diskussion dauert an. Es ist deshalb etwas enttäuschend, dass Brinkmann das „Versprechen“ des Untertitels, den „Kampf der Erinnerungen“ bis ins Jahr 2006 nachzuvollziehen, nicht einlösen kann. Gerade einmal vier Seiten widmet er den aktuellen, spektakulären Ereignissen in Spanien, rund um geöffnete Massengräber, rechtsextreme Bestsellerautoren und politisches Gezerre zwischen Partido Popular, Bürgerinitiativen und regierenden Sozialisten.
Noch ärgerlicher sind einige sachliche Fehler, die dem sonst so gründlichen Brinkmann auf den letzten Seiten unterlaufen und die der Hispanist Walter Haubrich in einer Rezension für die FAZ seinem jungen Kollegen bereits um die Ohren geschlagen hat. Nun sollte es einem professionellen Hispanisten tatsächlich nicht passieren, spanische Regionen zu verwechseln, und zu einigen politischen Ereignissen der jüngsten Zeit – etwa der Großdemonstration von Salamanca im vergangenen Jahr – scheint Brinkmann nicht ausreichend informiert zu sein. Die wissenschaftliche Qualität seiner sonstigen Ausführungen schmälert dies aber keineswegs. Und gerade dort, wo Brinkmann durchaus diskussionsbedürftige Ansichten zur spanischen Erinnerungspolitik vertritt, ist sein Text anregend und voller interessanter Fakten.
Es ehrt den Verlag Graswurzelrevolution, dass er mit der Veröffentlichung von Kampf der Erinnerungen wissenschaftlicher Qualität den Vorrang vor politischer Gesinnungsfestigkeit eingeräumt hat. Denn weder Bernecker noch Brinkmann lassen Zweifel daran, dass für sie die repräsentative Demokratie ein anzustrebendes und zu erhaltendes System gesellschaftlichen Miteinanders ist. Ein solches (indirektes) Bekenntnis zum Status Quo hat in Deutschland sicher einen anderen Klang als in Spanien, wo die Diskussion um die Verfassung von 1978 durch die erweiterten Autonomierechte der Regionen wieder einmal voll entbrannt ist. Ob man deshalb aber gleich ein Wutgeheul anstimmen muss, wie es in der libertären Presse hier und da zu hören war, darf bezweifelt werden. Thema des Buches ist solcherlei politisches Flaggenschwenken ohnehin nicht.
Kampf der Erinnerungen verdient einen Stammplatz im Bücherschrank aller Spanien-interessierten Leserinnen und Leser – möglichst weit vorne und auf Augenhöhe, damit man leicht nachblättern kann. Sowohl als Einführung in die Materie als auch als Kompendium und Grundlage wissenschaftlicher Diskussion ist dieses Buch gelungen.
Walther L. Bernecker / Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936 -2006, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006, 378 Seiten, ISBN 3-939045-02-0, 20,50 Euro
Anmerkungen
Martin Baxmeyer ist (mit Bernd Drücke und Luz Kerkeling) Herausgeber von "Abel Paz und die Spanische Revolution" (Edition AV, Frankfurt/M. 2004). Zurzeit schreibt er seine Dissertation über die anarchistische Literatur des Spanischen Bürgerkriegs.