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Libertäre Parlamentarismuskritik

Essenz der Anarchie?

| Bernd Drücke

Die vielen schwarzen, fünfzackigen Sterne auf rot leuchtendem Grund machen das Cover von „Essenz der Anarchie“ zu einem Hingucker. Und wer das Vorwort des Herausgebers liest, bekommt schon nach wenigen Zeilen Appetit auf mehr.

Der Wiener Wirtschaftsprofessor Gerhard Senft erzählt dort die Geschichte eines kuriosen Falls von Tierquälerei:

„In der burgenländischen Gemeinde Andau hatte ein Brieftaubenzüchter einigen Exemplaren seines Federviehs, derer er offenbar überdrüssig geworden war, den Hals umgedreht, sie in einen Sack gesteckt und in einen Container entsorgt. Rund die Hälfte der Tiere überlebte allerdings die Tortur und konnte gerettet werden. Ein Tierfreund nahm sich der Vögel an und ließ sie nach entsprechender Pflege frei – worauf die Tauben prompt wieder zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurückflogen.

Ein vergleichbares Phänomen lässt sich in den etablierten Demokratien immer wieder in Wahlzeiten beobachten. Eine nicht unerhebliche Zahl von Wählern, die in den vorangegangenen Legislaturperioden durch die Aktivitäten der von ihnen bevorzugten Parteien irritiert waren, neigt dazu, trotzdem bei ihrer ursprünglichen Präferenz zu bleiben.“ (S. 6)

Ein fabelhafter Auftakt!

Zu kritisieren ist aber, dass Gerhard Senft in seinem Vorwort Max Stirner, den philosophischen Prediger des Egoismus, zum „Vordenker des Anarchismus“ (S. 13) und den republikanischen Schriftsteller William Godwin als „den ersten Theoretiker des Anarchismus“ (S. 17) adelt.

Natürlich haben viele AnarchistInnen Theoriefragmente von diesen beiden Philosophen übernommen, und es finden sich in den Schriften von Godwin und Stirner auch libertäre Tendenzen. Aber weder Godwin (1) noch Stirner haben sich je selbst als Anarchisten bezeichnet. Im Gegenteil, diese Selbstbezeichnung haben sie strikt abgelehnt. Was soll also diese in „individualanarchistischen“ Kreisen übliche Eingemeindung von Leuten, die sich nicht mehr dagegen wehren können?

Auch die zentrale These des Herausgebers, „Die unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Anarchismus kennen einen gemeinsamen Angriffspunkt: den Parlamentarismus“, ist fragwürdig.

AnarchistInnen lehnen jegliche Form von Herrschaft ab, nicht nur die parlamentarische. Sie wollen weder regieren noch regiert werden, auch nicht von Mehrheiten, sondern die Entscheidungen selbstbestimmt mit anderen fällen. Ihr Ziel ist die freie Gesellschaft. Der Parlamentarismus wird von Libertären nicht deshalb kritisiert, weil in ihm zuviel, sondern weil in diesem System zu wenig frei diskutiert wird.

Der „Hauptfeind“ des Anarchismus war und ist nicht der Parlamentarismus, sondern der Faschismus.

In Spanien hat sich 1936 gezeigt, dass AnarchistInnen sehr wohl zwischen parlamentarischer Demokratie und faschistischer Diktatur unterscheiden können. Und dass sie in Zeiten eines faschistischen Putschversuchs eine Republik gegen eine Diktatur verteidigen.

Gerhard Senft hat neun, allesamt vor 1946 geschriebene Artikel aus der facettenreichen Geschichte des Anarchismus zusammengestellt. Die Auswahl reicht von relativ bekannten Texten von Louise Michel, Pjotr Kropotkin, Erich Mühsam, Pierre Ramus und Rudolf Rocker bis hin zu lange schon in staubigen Archiven verborgenen Beiträgen von Elisée Reclus, Robert Bodansky, Raphael Friedberg und Helmut Rüdiger. Jeder Artikel wird durch Kurzbiographien der entsprechenden AutorInnen eingeleitet, so dass die Leserinnen und Leser die Texte historisch einordnen können und gleichzeitig angeregt werden, sich weitere Bücher zum Thema zu Gemüte zu führen.

Die Qualität der Artikel ist so unterschiedlich wie die AutorInnen.

Durchgängig wird aus libertärer Perspektive unter anderem der Parlamentarismus analysiert und kritisiert.

Ein unangenehm aufstoßender, antiquierter Volksbegriff, inklusive Verklärung des „Deutschtums“, findet sich in dem 1904 geschriebenen und eher schnarchigen „Parlamentarismus und Generalstreik“-Text von Raphael Friedeberg: „… das deutsche Volk ist schon seit langem eins der Kulturvölker, das deutsche Volk hat schon vor Jahrhunderten revolutionäres Bewusstsein gehabt …“ (S. 85)

Igitt, was für ein Schmarren!

Angereichert mit vielen heute noch aktuellen Weisheiten sind die Texte von Rocker, Mühsam, Ramus und Rüdiger. Mitreißend und wohltuend pathetisch sind die Agitationsschriften der Pariser KommunardInnen Elisée Reclus und Louise Michel aus den 1880er Jahren.

Reclus: „Mancher wird behaupten, dass es Sozialisten und Sozialisten gebe. Dem Anschein nach gibt es deren auch verschiedene Arten, doch das ist eigentlich nur Täuschung. In Wahrheit bestehen nur zwei entgegengesetzte Prinzipien: das der Regierung und dasjenige der Anarchie, das der Autorität und das der Freiheit.“ (S. 71)

Michel: „Ich sah unsere Genossen am Werk, und nach und nach kam ich zu der Überzeugung, dass selbst die Redlichsten, könnten sie Macht ausüben, den Schurken ähnlich würden, die sie einst bekämpften. Ich sah die Unmöglichkeit, dass sich Freiheit mit einer wie auch immer gearteten Macht vereinbaren lässt (…) So wie die Macht hart, egoistisch und grausam macht, so erniedrigt Sklaverei, und nur die Anarchie kann vollbringen, dass der Mensch frei und glücklich lebt.“ (S. 55)

Alle Beiträge dieses Sammelbandes sind lesenswert, und so bietet er insgesamt eine wichtige Ergänzung zum immer noch aktuellen Graswurzelrevolution-Sonderheft zur Kritik der Parlamentarischen Demokratie (2).

(1) Siehe dazu: Thomas Wagner: Der radikale Republikaner als anarchistischer Klassiker. Eine Würdigung des Schriftstellers William Godwin anlässlich seines 250. Geburtstages, in: GWR 306, Februar 2006, S. 14 f.

(2) Sonderheft zur Kritik der Parlamentarischen Demokratie "Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben!", GWR 146/47/48, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, Juni 1994

Gerhard Senft (Hg.): Essenz der Anarchie. Die Parlamentarismuskritik des libertären Sozialismus, Promedia, Wien 2006, 173 Seiten, ISBN 3-853712533, 12,90 Euro