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Rebellion in Oaxaca

"Wir, die einfachen Leute, nehmen unser Schicksal jetzt in die eigenen Hände"

| Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A.

Mexiko. Im südlichen Bundesstaat Oaxaca geht der Widerstand verschiedener Bevölkerungsteile gegen das repressive und korrupte Regime der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) weiter.

Nach über sieben Jahrzehnten der Ausbeutung, Vetternwirtschaft und der brutalen Unterdrückung sind die Menschen in Oaxaca nicht mehr bereit, das bisherige politische System in ihrem Bundesstaat weiter zu ertragen.

Ein großer Teil der oppositionellen Bevölkerung leistet seit langer Zeit zivilen Widerstand oder sichert unter großen Entbehrungen und Gefahren das eigene Überleben. Nicht zuletzt diese langjährigen Erfahrungen im politischen Kampf ermöglichen den entschlossenen Widerstand, der aktuell in einer zuvor ungekannten Geschlossenheit durchgeführt wird: Über 300 soziale und politische Organisationen verschiedener Gesellschaftssektoren (ArbeiterInnen, BäuerInnen, GewerkschafterInnen, Hausfrauen, Indígenas, KleinhändlerInnen, LehrerInnen, linke AktivistInnen, StudentInnen u.v.a.) haben sich im Sommer 2006 in der „Versammlung der Bevölkerung von Oaxaca“ (APPO) zusammengeschlossen, um den seit 2004 amtierenden Gouverneur Ulises Ruiz von der PRI zum Rücktritt zu zwingen.

Die Gründe der Rebellion

Ulises Ruiz gilt als Despot, der für mehr als 40 politische Morde verantwortlich sein soll und das überwiegend indigen geprägte Bundesland, das als eines der ärmsten Mexikos gilt, nur noch mit Hilfe der Kaziken (lokale Machthaber), der ökonomischen Eliten und der rechtskonservativen Bundesregierung Mexikos unter seiner Herrschaft halten kann.

Doch der – sogar für Südmexiko – ungewohnt gewalttätige Einsatz von Polizeitruppen gegen Zehntausende friedlich streikende LehrerInnen im Juni 2006 im Zentrum der Hauptstadt Oaxaca-Stadt führte zu einer schnellen Solidarisierung enormer Bevölkerungsteile. Die DemonstrantInnen forderten den Abzug der Polizei und errichteten zeitweilig über 1.000 Barrikaden. Es gelang ihnen, den „Status Quo“ erheblich zu sabotieren. Zahlreiche Regierungsgebäude wurden besetzt und die Funktionäre vertrieben. Der Nachschub für Regierungsinstitutionen und ihre Repressionsorgane wurde verhindert, die Versorgung der Bevölkerung hingegen wurde von den AktivistInnen unter solidarischer Mithilfe der jeweiligen Nachbarschaften erfolgreich aufrecht erhalten.

Die offizielle Regierung von Oaxaca verliert seitdem Schritt für Schritt ihre ehemals fast absolute Herrschaft über den Bundesstaat. Sie scheut daher nicht davor zurück, ihre illegalen Pistoleros gegen die AktivistInnen einzusetzen.

Neben dem Rücktritt von Ruiz, einem Ende der staatlichen und paramilitärischen Repression, der Bestrafung der Folterer und Mörder sowie der Freilassung ihrer politischen Gefangenen fordert die APPO Investitionen in Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung und weitere Infrastruktur zugunsten der marginalisierten Bevölkerung.

Doch inzwischen reichen die Forderungen deutlich weiter: Seit Monaten analysiert die Bewegung um die APPO die auf extremer Ungleichheit basierenden Defizite der bisherigen Gesellschaftsstruktur. Über ihre Minimalforderungen hinaus will die APPO neue, linksgerichtete und basisorientierte politische Strukturen durchsetzen, um grundsätzliche und dauerhafte Veränderungen zu etablieren. In vielen mexikanischen Medien geht folglich ein Gespenst um, die „Commune von Oaxaca“… Die großen Medien diffamieren und hetzen gegen die APPO, die unabhängigen Medien berichten dagegen mit großem Respekt und Enthusiasmus.

Dialog, Repression und Widerstand

Über mehrere Wochen verhandelten provisorische Sprecher der APPO vergeblich mit dem mexikanischen Innenministerium, um über eine Anerkennung der „Unregierbarkeit“ von Oaxaca eine legale Absetzung des verhassten Gouverneurs zu erreichen. Doch weil die Partei der Nationalen Aktion (PAN), die mit Felipe Calderón den zukünftigen Präsidenten Mexikos (wahrscheinlich durch eine Wahlfälschung) stellt, in beiden Abgeordnetenhäusern vom Wohlwollen der PRI anhängig ist, scheint es auch zukünftig abwegig, aus dieser Richtung eine rationale Entscheidung erwarten zu können. Auch die Gouverneure der sozialdemokratischen PRD konnten sich im obligatorischen Korpsgeist der politischen Klasse nicht dazu durchringen, eine Absetzung von Ulises Ruiz zu verlangen.

Erneute Repression…

Am 27. Oktober 2006 schossen Ruiz‘ Paramilitärs an einigen Barrikaden gezielt auf Angehörige der APPO. Es gab mehrere Tote, darunter war der aus den USA stammende Journalist Brad Will vom unabhängigen Medienzentrum Indymedia New York. Er wurde beim Filmen tödlich getroffen. Für den Mord werden Polizisten und PRI-Kader verantwortlich gemacht, die zivil gekleidet die Straßen unter Beschuss nahmen.

Zwei Tage später begann die daraufhin vom PAN-Präsidenten und Ex-Coca-Cola-Manager Vicente Fox entsandte „Präventive Bundespolizei“ (PFP), die von DemonstrantInnen besetzte Stadt brutal zu räumen. Die PFP sollte – unter dem zynischen Vorwand des „getöteten Journalisten aus den USA“ – die „Sicherheit“ im Bundesstaat wieder herstellen. Wiederum wurden mehrere AktivstInnen der APPO getötet und Dutzende verletzt. Festgenommenen DemonstrantInnen wurde gedroht, dass sie „verschwinden“ oder aus Helikoptern abgeworfen würden.

… erneuter Widerstand

Am 2. November 2006 versuchte die Bundespolizei, die von Barrikaden weiträumig abgesperrte Universität zu stürmen, in der sich das Radio der Bewegung bis heute befindet und sendet.

Doch weil die Bewegung über Unterstützung in der Bevölkerung verfügt, scheiterte der Versuch der PFP, obwohl Bundespolizisten massive Gewalt wie Tränengasgranaten aus der Luft, Wasserwerfer, Räumpanzer und sogar Schusswaffen einsetzten. Flankiert wurde der Angriff durch Paramilitärs von Gouverneur Ruiz – die Schüsse waren über die Sendekabine von Radio Universidad deutlich zu hören.

Den APPO-AktivistInnen gelang es durch unermüdlichen Barrikadenbau und den Einsatz von Steinen und Molotow-Cocktails, das Eindringen der Staatsmacht in den inneren Universitätsbereich zu verhindern. Immer wieder rief das APPO-nahe Radio Universidad dazu auf, keine direkte Gewalt gegen Personen einzusetzen und nicht mit scharfen Waffen auf die Provokationen zu reagieren.

Unterstützung erhielt die Bewegung in dieser Situation auch von Professor Neri, dem Rektor der Universität, der einen Einmarsch der PFP entschieden zurückwies, da die Universitäten in Mexiko einen Autonomie-Status genießen. Die PFP zog sich schließlich zurück und ist zur Zeit nur in einigen Stadtteilen präsent.

Ist die Regierung gefallen?

„Ya cayó!“ („Er ist bereits gefallen!“) lautet seit Monaten die gemeinsame Losung der Bewegung, die eine tatsächliche Legitimität besitzt, denn viele Regierungsstellen wurden und werden von der Bewegung – zumindest temporär – geschlossen.

Tausende Frauen besetzten im Sommer den regierungsnahen TV-Sender und machten einige Tage selbst ihr Programm, bevor ihre Arbeit sabotiert wurde. Mehrere Radiosender wurden ebenfalls zeitweise übernommen.

Bis heute werden über den Sender der Universität die AktivistInnen zu Besonnenheit aufgerufen, immer wieder kann vor marodierenden Paramilitärs gewarnt werden, und jeden Tag können die Menschen frei und unzensiert ihre Meinung zum Konflikt live äußern.

Unsichere Zukunft

Auf ihrem konstituierenden Kongress vom 11. und 12. November wählte die APPO einen Rat, in dem über 200 Delegierte zukünftig die Interessen ihrer jeweiligen Region vertreten sollen. Es wurde beschlossen, den Widerstand weiterzuführen, bis Ruiz abdankt. Weiter wird diskutiert, längerfristig mit allen Gruppen der APPO und weiteren Organisationen eine neue Verfassung für Oaxaca und eine neue Form der basisdemokratischen Selbstregierung zu erarbeiten.

Trotz der großen Rückendeckung der APPO ist die Zukunft sehr unsicher. Fast täglich gibt es wichtige neue Nachrichten. Die Einschätzungen auch kenntnisreicher MitstreiterInnen und BeobachterInnen liegen dabei nicht immer nah beieinander.

Eine Gefahr für die Bewegung ist die blanke Repression, denn es stellt sich die Frage, ob die mexikanischen Eliten einen für sie gefährlichen „Präzedenzfall“ – ein wirklich demokratisches Oaxaca – dulden werden, denn in Mexiko brodelt es überall.

Eine weitere Gefahr ist die Korruption und Integration von Führungspersonen der Protestbewegung durch die politische Klasse, wie es in Mexiko schon so oft geschehen ist.

Wichtig ist auch die Solidarität inner- und außerhalb von Mexiko. An vielen Orten der Welt gab es bereits Protestkundgebungen gegen den Staatsterror, die sich mit den Forderungen der APPO solidarisierten. In Mexiko selbst ist die Unterstützung durch soziale Bewegungen groß. Auch die von der Zapatistischen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) Mitte 2005 angestoßene „Andere Kampagne“, die mittlerweile über 1.000 Organisationen umfasst und in ganz Mexiko friedlich für eine neue antikapitalistische Verfassung „von unten für unten“ kämpft, hat sich mit der APPO solidarisiert – zumal einige Organisationen der APPO gleichzeitig in der „Anderen Kampagne“ organisiert sind.

Die Rebellion in Oaxaca zählt zusammen mit dem Aufstand der EZLN von 1994 zu den bedeutendsten sozialen Revolten der letzten Jahrzehnte. Auch wenn sich die politische Klasse halten sollte, werden die Menschen weiterhin Widerstand leisten, denn die AktivistInnen haben erfahren, was sie erreichen können, wenn sie gemeinsam vorgehen.

Eine Bäuerin, die über Radio Universidad weltweit per Internet zu hören war, brachte es während der Polizeiattacke Anfang November auf den Punkt: „Wir, die einfachen Leute, nehmen unser Schicksal jetzt in die eigenen Hände.“

Weitere Infos

www.chiapas.ch (deutsch)
www.asambleapopulardeoaxaca.com (Seite der APPO, spanisch, von dort auch Links zur Radio Universidad)
www.chiapas.indymedia.org (span.)