anarchismus / feminismus

Emma Goldman – Anarchistin und Pädagogin

Revolutionäre Kosmopolitin

| Ulrich Klemm

"Red Emma", wie Emma Goldman (1869- 1940) in den USA von der Presse genannt wurde, ist nicht nur eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen der USA im frühen 20. Jahrhundert, sie zählt auch zu den bedeutendsten Anarchistinnen der Neuzeit.

Als „Anarchafeministin“ prägte sie zusammen mit anderen Anarchistinnen wie etwa der Amerikanerin und Zeitgenossin Voltairine des Cleyre (1866-1912), der gebürtigen Ukrainerin Milly Witkop-Rocker (1877-1955) oder der Französin Louise Michel (1830-1905) libertäre Positionen für den Feminismus des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus – und dieser Aspekt ihres Lebens ist in Deutschland noch wenig diskutiert – engagierte sie sich auch sehr für eine libertäre Schulbewegung und gründete 1909 zusammen mit Alexander Berkman (1870-1936) und Leonard Abbott die Francisco Ferrer Association, die wichtigste libertäre Organisation zur Verbreitung des rationalistischen Schulmodells des Spaniers Francisco Ferrer (1859-1909) in den USA im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts (vgl. Ferrer 03).

Diese beiden Aspekte ihres Lebens – Emma Goldman als Anarchistin und als Bildungspolitikerin – stehen im Mittelpunkt der folgenden Skizze zu dieser bemerkenswerten Frau. Von ihren über 70 Lebensjahren waren zwei Drittel geprägt durch einen ständigen politischen Kampf gegen Unterdrückung und Gewalt und für Gleichheit, Freiheit und Würde des Menschen. Dieser Kampf und ihre Vision eines libertären und kosmopolitischen Humanismus führten sie durch Nordamerika, Europa und Russland und machten sie zu einer herausragenden politischen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Sie kannte John Reed, Jack London und Henry Miller, sie korrespondierte mit Bertrand Russel, Aldous Huxley und Rudolf Rocker, sie „kämpfte“ mit John Most, Alexander Berkman, Voltairine des Cleyre und stand an der Seite von CNT-FAI-KämpferInnen während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939), sie lebte revolutionär und kosmopolitisch. Sie kämpfte für den Achtstundentag, für Geburtenkontrolle, für die Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung, für Pressefreiheit, gegen Postzensur, für die „Freie Liebe“ und die Gleichberechtigung der Frauen. Sie wurde in diesem Sinne zur libertären Ikone des Anarchismus und zählt zu jenen revolutionären Frauen des 20. Jahrhundert, die ihm das nachhaltige Profil der Emanzipation gaben.

Emma Goldman – Quellen und Rezeption

Die Quellen zu Emma Goldmans Leben sind vielfältig. Neben zahlreichen Aufsätzen und Traktaten hinterlässt Goldman vor allem eine umfangreiche Autobiographie, die erstmals 1931 in New York erschien und in der ersten deutschen Übersetzung von 1978 drei Bände mit insgesamt 1171 Seiten umfasst (Goldman 1978). Sie zählt nicht nur zu den herausragenden Autobiographien des Feminismus im 20. Jahrhundert, sondern auch zu den bemerkenswertesten Lebenszeugnissen von Libertären und ist vergleichbar mit den großen Memoiren von Rudolf Rocker (1974) und Peter Kropotkin (1969). Eine weitere wichtige Quelle zu ihrer politischen Orientierung ist die von ihr herausgegebenen Zeitschrift Mother Earth (Goldman 1969), die von 1906 bis 1917 erschien und zu einem zentralen Sprachrohr ihres Anarchismus wurde. Ihre enttäuschenden Erfahrungen im russischen Exil 1919 bis 1921 verarbeitete sie in der Schrift Die Ursachen des Niedergangs der Russischen Revolution (Goldman 1922). Eine bemerkenswerte Biographie stammt von Candace Falk, die auf zufällig gefundenen Briefen in einem Gitarrengeschäft 1975 beruhen und das Liebesverhältnis zwischen Ben Reitman, einem acht Jahre jüngeren Arzt, und Goldman dokumentieren (Falk 1987). Dieser erotische Briefwechsel gilt als wichtige Ergänzung ihrer Autobiographie und beschreibt die gleichsam „private“ Emma Goldman.

In Deutschland erschienen ihre Schriften in den 1920er und 1930er Jahren vor allem im Verlag Der Syndikalist (Berlin) – der zentrale Verlag der deutschen Anarchosyndikalisten -, der ihre Abrechnung mit dem Sowjetischen System nach der Oktoberrevolution 1922 mit einem Vorwort von Rudolf Rocker veröffentlichte. Nach 1945 ist es im deutschsprachigen Raum bis heute der anarchistische Karin Kramer Verlag (Berlin), der Emma Goldman wieder zugänglich machte. Er veröffentlichte Ende der 1960er Jahre – zu diesem Zeitpunkt „firmierte“ er noch unter dem Namen Underground Press L. – erstmals wieder in einer Reprintausgabe Goldmans Analyse der Russischen Revolution (Goldman 1968 und 1970), 1977 eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel Das Tragische an der Emanzipation der Frau (Goldman 1977) und schließlich die dreibändige deutsche Erstübersetzung ihrer Autobiographie (Goldman 1978(a)). Die deutsche Übersetzung der Biographie von Candace Falk, Liebe und Anarchie, erschien 1987.

Kurze Hinweise mit Textausschnitten aus Aufsätzen erscheinen ab Ende der 1960er Jahre in verschiedenen Quellenbänden zum Anarchismus. Von Erwin Oberländer wird Goldman dabei zusammen mit John Most, Peter Kropotkin und Elisée Reclus in den Kontext des Kommunistischen Anarchismus gestellt (Oberländer (Hg.) 1972, S. 282-291) und in dem Sammelband von Helmut Ahrens, Hans-Jürgen Degen und Christoph Geist findet Goldman Platz als Vertreterin des anarchistischen Feminismus (Ahrens/Degen/Geist (Hg.) 1980, S. 155-158). Erstmals wieder erwähnt in einem akademisch orientierten Sammelband über den Anarchismus wird Goldman von dem Soziologen Otthein Rammstedt 1969 (Rammstedt 1969, S. 121-125) und mit einer deutschen Erstübersetzung aus Mother Earth über den Patriotismus taucht Goldman in dem Sammelband von Achim von Borries und Ingeborg Brandies 1970 auf (von Borries/Brandies 1970, S. 151-162).

Daneben erschienen in den späten 1970er und frühern 1980er Jahren eine Reihe von Broschüren mit deutschen Erstübersetzungen von Aufsätzen aus Mother Earth, die von Anarchistischen Vereinigungen herausgegeben wurden. Der Anarchistische Bund Berlin publizierte beispielsweise in seiner Heftreihe anarchistische texte im Libertad Verlag (Berlin) den Aufsatz Anarchismus seine wirkliche Bedeutung in einer ersten Auflage von 2000 Exemplaren 1978 und in einer zweiten Auflage 1981 nochmals mit 3000 Exemplaren (Goldman 1978(b)). Ebenso veröffentlichte die Anarchistische Vereinigung Norddeutschland Ende der 1970er Jahre und in einer zweiten Auflage 1983 erstmals vier Aufsätze in einer deutschen Übersetzung im Ems-Kopp Verlag (Meppen/Ems) in einer Gesamtauflage von ca. 2000 Exemplaren (Goldman 1983).

Rezeptionsgeschichtlich kann damit vermutet werden, dass Goldman erst ab Ende der 1970er Jahre wieder in Deutschland verstärkt rezipiert wurde. Diese Diskussion fand nahezu ausschließlich in der damaligen anarchistischen Bewegung statt, die zu diesem Zeitpunkt im Kontext der Post-Alternativ-Bewegung angesiedelt war. Rezeptionsgeschichtliche Spuren in der Frauenbewegung bzw. -forschung finden sich dagegen selten. Von einer systematischen und anhaltenden Diskussion über Goldman kann im deutschen Sprachraum nicht gesprochen werden. Sowohl im politikwissenschaftlichen Diskurs als auch im Szene-Diskurs des deutschen Anarchismus ist man in den letzten 30 Jahren nicht über eine verkürzte ideen- und biographiegeschichtliche Beschreibung ihres Lebens hinausgekommen. In dem jüngst erschienenen Einführungsband in den Anarchismus von Hans-Jürgen Degen und Jochen Knoblauch (Degen/Knoblauch 2006) wiederholen sich die Statements und Einschätzungen aus den 1970er Jahren zu ihrer Bedeutung für den modernen Anarchismus. Was ansteht, ist eine systematische Analyse ihrer Vorstellungen von „Freier Liebe“, Familie und Geschlecht, ihrer pädagogischen und bildungspolitischen Vorstellungen sowie ihrer Vorstellungen von Gewalt und Militarismus.

„Wie ich mein Leben lebte“

Diese sinngemäße deutsche Übersetzung des Titels ihrer selbstbewussten und -kritischen Autobiographie, „Living my Life“ (1931), beschreibt mit einem Satz die Qualität ihres politischen Lebens: Sie lebte ein Leben nach ihren Vorstellungen und gegen vorherrschende Regeln. Die Antwort auf die Frage, ob ihr Leben dabei „erfolgreich“ war, fällt ebenso schwer wie leicht. Aus dem Blickwinkel emanzipatorischer und revolutionärer Politik betrachtet, sind Erfolg und Scheitern die Zwillinge desselben gesellschaftlichen Handels. Eine Trennung fällt schwer, denn erfolgreich kann nur sein, was auch scheitern kann und darf. So gesehen war Goldman erfolgreich und scheiterte dabei zugleich.

Sie wurde in am 27. Juni 1869 in Kovno, Russland/Litauen, als Tochter eines jüdisch-russischen Ehepaares geboren und verbrachte ihre Kindheit in Kurland und Königsberg. 1882 zog sie mit ihren Eltern nach Petersburg, von wo aus sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Helene 1886 als Siebzehnjährige aus dem bürgerlichen Elternhaus „ausbrach“ und in die USA übersiedelte. In New Haven und Rochester erlebte sie als Textilarbeiterin proletarische Lebensverhältnisse und begann ihre politische Sozialisation und Personalisation in der Arbeiterbewegung. Es ist die Zeit der Arbeiterkämpfe in den USA. Für den 1. Mai 1886 wird von den Gewerkschaften zum Generalstreik für den Achtstundentag ausgerufen und am 4. Mai 1886 wird erstmalig in den USA in Chicago auf dem Heumarkt („Haymarket“) eine Bombe bei einer Arbeiterdemonstration geworfen, die mehrere Polizisten tötete (vgl. Karasek (Hg) 1975; Nuhn 1992). Dies führte zur Verhaftung von acht Anarchisten, davon sechs deutsche Einwanderer, von denen fünf zum Tode verurteilt wurden. Bereits wenige Jahre später stand fest, dass es sich bei den Verhafteten und Verurteilten um einen Justizirrtum handelte, der mehr oder weniger bewusst politisch inszeniert wurde.

Dieses „Haymarket-Massaker“ und die Hinrichtung von vier Anarchisten am 11. November 1887 – einer der Verurteilten, Louis Lingg, beging mit einer Patrone, die er im Mund zündete, vorher Selbstmord – politisierte und radikalisierte weite Teile der amerikanischen ArbeiterInnenbewegung. Unter dem Eindruck dieses Justizmordes und der ArbeiterInnenkämpfte wurde die junge Emma Goldman zur militanten Anarchistin. Zwei Jahre später, 1889, lernte sie in New York, wo sie nun lebte, den ehemaligen deutschen Sozialdemokraten und jetzigen Anarchisten, Johann Most, kennen, der mit seiner Zeitschrift Freiheit zum Wortführer des damaligen militanten Anarchismus in den USA wurde. in diesem Zeitraum beginnt auch die lebenslange Freundschaft zu Alexander Berkman, der ebenfalls aus Russland in die USA emigrierte, dort zum Anarchisten wurde und gemeinsam bis zu seinem Freitod 1936 an der Seite Goldmans politisch – oftmals in ihrem Schatten – wirkte und bis heute zu einem der herausragenden Anarchisten aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zählt (vgl. Berkman 1927, 1982). Am 23. Juli 1892 schoss Berkman den Industriellen Henry Clay Frick, der für ein Massaker an streikenden Stahlarbeitern und die Vertreibung aus ihren Häusern verantwortlich gemacht wurde, mit mehreren Pistolenschüssen nieder. Dieses Attentat wurde gemeinsam von Goldman und Berkman geplant. Berkman wurde verhaftet und zu 21 Jahren Kerker verurteilt, wurde aber vorzeitig nach 14 Jahren im Mai 1906 wieder entlassen (seine Gefängniserinnerungen erschienen 1912 in New York und 1927 in Berlin auf Deutsch). Goldman tauchte erstmals unter. In den folgenden 1890er Jahren entwickelte sich Goldman immer mehr zu einer profilierten Rednerin der sozialrevolutionären und anarchistischen Bewegung in den USA und wurde in diesem Zusammenhang auch immer wieder verhaftet und zu Kerker verurteilt. Ab Mitte der 1890er Jahre besucht sie zu Vortragsreisen zunehmend Europa (England, Frankreich, Schweiz, Österreich) – sie spricht englisch, deutsch und russisch – und entwickelt sich auch hier zu einer wortgewaltigen Agitatorin der ArbeiterInnen- und Frauenbewegung.

Als der aus Polen stammende anarchistische Einzeltäter Leon Czoigocz 1901 in Buffalo den amerikanischen Präsidenten McKinley erschoss, wurde auch Goldman, die dieses Attentat ablehnte und nichts damit zu tun hatte, verhaftet. In dem nach diesem Mord einsetzenden Klima der Radikalenverfolgung in den USA arbeitete Goldman von 1901 bis 1903 als Pflegerin und Näherin unter falschem Namen („Miss Smith“) und zog sich aus der politischen Arbeit zurück.

Zusammen mit Berkman, der 1906 aus dem Gefängnis entlassen wurde, gründet sie in diesem Jahr ihre Monatszeitschrift Mother Earth, die bis zu ihrer Abschiebung in die UdSSR 1917 zum wichtigsten Organ der anarchistischen Bewegung in den USA wurde. Sie wurde wieder zur „öffentlichen“ Person, trat als politische Rednerin in Erscheinung und unternahm zahlreiche Vortragstouren in den USA und in Europa, wo sie u.a. 1917 als Delegierte am Zweiten Anarchistenkongress in Amsterdam mitwirkt. In den USA wird sie immer wieder verhaftet, verhört und eingesperrt. In diesen Zeitraum fällt auch ihr pädagogisches und bildungspolitisches Interesse. Sie engagierte sich ab etwa 1909 zusammen mit anderen AnarchistInnen für eine libertäre Alternativschulbewegung im Anschluss an die Ermordung des spanischen Reformpädagogen Franciso Ferrer 1909 und inspirierte eine Schulreformbewegung mit zahlreichen Ferrer-Schulgründungen in der Folgezeit (Klemm 2004).

Das vielleicht interessanteste biographische Dokument ihres ereignisreichen und bewegten Lebens ist der erotische Briefwechsel aus diesem Zeitraum mit dem Arzt Ben Reitman, der 1974 zufällig entdeckt und von Candace Falk in einer Biographie verarbeitet wurde (Falk 1984). Diese dort dokumentierte leidenschaftliche Beziehung zu Ben Reitman, der in den USA auch als „König der Hobos“ (Tippelbrüder) bekannt wurde, dauerte von 1908 bis 1917 und spielt in Goldmans privatem wie auch politischem Leben eine zentrale Rolle. Sie schreibt selbst: „Wenn unser Briefwechsel je veröffentlicht werden sollte, würde die Welt schlechthin entsetzt sein, dass ich, die verwegene Emma Goldman, die überzeugte Revolutionärin, die Frau, die alle Gesetze und Konventionen spottet, sich so hilflos wie ein Schiffswrack auf einem wütenden Ozean gebärdet“ (in: Falk 1989, S. 11). Goldman, die das Ideal der „Freien Liebe“ propagierte, wird, so Falk, hier zur „Sklavin ihrer Leidenschaft“ (ebd. S. 13).

Seit Ausbruch des I. Weltkrieges engagiert sie sich als aktive Antimilitaristin und gründet zusammen mit Berkman die „No Conscription League“, die 1917 verboten wird. Berkman und Goldman werden in diesem Jahr wegen „antimilitaristischer Umtriebe“ verhaftet und kommen für zwei Jahre ins Gefängnis. 1919 findet die Deportation zusammen mit anderen russischstämmigen AnarchistInnen in die UdSSR statt. Die Begeisterung für dieses „gelobte“ Land war bei den anarchistischen SozialrevolutionärInnen zu diesem Zeitpunkt zunächst noch groß. Die Ernüchterung über die repressive und totalitäre Politik kam jedoch alsbald. Nach der Niederschlagung der Kronstadter Matrosen-Rebellion von 1921 und der Zerschlagung der ukrainisch-anarchistischen Freiheitsbestrebungen von Nestor Machno, verlassen Goldman und Berkman die UdSSR 1921 und gehen zunächst nach Berlin. 1922 erscheint im deutschen Verlag Der Syndikalist ihre Abrechnung mit dem Sowjetischen Regime unter dem Titel Die Ursachen des Niedergangs der Russischen Revolution mit einem Vorwort ihres Freundes Rudolf Rocker (Goldman 1922). Sie heiratet formal den Minenarbeiter James Colton aus Wales, um die britische Staatsbürgerschaft zu bekommen und unternimmt wieder zahlreiche Vortragsreisen durch Europa und Kanada. Ihr langjähriger Freund und politischer Weggefährte, Alexander Berkman, lebt verarmt und staatenlos in Frankreich, erkrankt an einem Krebsleiden und begeht am 27. Juni 1936 Selbstmord. Für Goldman, die mehrmals verheiratet war und über einen großen männlichen Bekanntenkreis verfügte, war Berkman vermutlich der wichtigste (politische) Mensch in ihrem Leben gewesen. Das Duo Goldman-Berkman, die beide aus russisch-jüdischen Familien stammten, beide in den 1880er Jahren in die USA auswanderten und beide dort über den Deutschen Johann Most und die „Haymarket- Tragödie“ politisiert wurden, zählt zu den wichtigsten „Motoren“ der anarchistischen Bewegung in Nordamerika und Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die letzten Jahre ihres Lebens engagierte sie sich mit aller Kraft für die AnarchistInnen im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939). Sie stirbt am 14. Mai 1940 im Alter von siebzig Jahren nach einem Schlaganfall auf einer Vortragsreise in Toronto und wurde in Chicago, dem Ort der dramatischen Arbeiterkämpfe in den späten 1880er Jahren, beigesetzt. Überblicken wir heute das Leben Goldmans, dann können wir ihrem Freund und Biographen Rudolf Rocker zustimmen, der 1922 im Vorwort zu ihrer Schrift über die Russische Revolution schrieb: „Unter den propagandistischen Vertretern der modernen anarchistischen Bewegung ist Emma Goldman zweifellos eine der hervorragendsten und eigenartigsten Persönlichkeiten – ein groß angelegter Charakter“ (Rocker 1922, S. 3).

Emma Goldman und die Ferrer-Bewegung in den USA

Goldman zählt zusammen mit Leonhard Abbott, Alexander Berkman und Voltairine de Cleyre zu jenem Kreis von AnarchistInnen in den USA, die unmittelbar nach dem Tod des spanischen Reformpädagogen Francisco Ferrer eine Ferrer-Schulbewegung initiierten.

Goldman interessierte sich bereits einige Jahre zuvor für anarchistische Schulprojekte und besuchte 1900 den anarchistischen Lehrer Paul Robin in seiner Waisenhaus-Schule in Cempuis in Frankreich und 1907, auch in Frankreich, die anarchistische Schule „La Ruche“ von Sébastian Faure (Goldman 1907), über die sie schrieb: „My visit to La Ruche was a valuable experience that made me realize how much could be done, even under the present system, in the way of libertarian education“ (zitiert nach Avrich 1980, S. 39). Faure gilt zusammen mit Francisco Ferrer und dem Franzosen Jean Robin zu den Klassikern einer libertären Reformpädagogik ab Ende des 19. Jahrhunderts, die die libertären Ideen von Gleichheit, Rationalität und Freiheit in pädagogische Modelle umsetzten (vgl. Grunder 1993, Klemm 2004). In ihrer Zeitschrift Mother Earth erscheinen von ihr (z.B. Goldman 1906, 1907, 1909) und von anderen pädagogisch orientierten Libertären (z.B. Abbott 1911, hier 1988) immer wieder Beiträge grundsätzlicher Art über das Wesen einer libertären Erziehung und Bildung und machten Mother Earth zu einem wichtigen Kommunikationsorgan libertärer Bildungs- und Erziehungsalternativen in den USA. Ein Aufsatz von Voltairine de Cleyre über Ferrer erschien in deutscher Übersetzung in der von Gustav Landauer herausgegeben Zeitschrift Der Sozialist 1914 in fünf Folgen (Cleyre 1914). Eine Reihe weiterer Beiträge aus Mother Earth von Goldman, Berkman und de Cleyre erschienen als Übersetzungen in Der Sozialist in der Zeit vor dem I. Weltkrieg.

Einen grundsätzlichen Beitrag zur Pädagogik Ferrers veröffentlichte Goldman in ihrem Essayband „Anarchism and other Essays“ (1911, hier 1969(a), S. 145-166).

Diese Ferrer-Schul-Bewegung in den USA trägt in den ersten Jahren die Handschrift Goldmans als Mitinitiatorin und dokumentiert ihr bildungspolitisches Engagement, das gleichrangig – wenn auch nicht so kontinuierlich – zu ihrem Engagement für die Gleichberechtigung der Frauen zu sehen ist. Die Bildungs- und Frauenpolitik haben bei Goldman denselben Ursprung im anarchistischen Denken von Freiheit und Gleichheit des Menschen. Obgleich Goldman nur selten im eigentlich pädagogischen Sinne mit Kindern tätig war, müssen wir sie im Kontext der libertären Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhundert diskutieren und als Repräsentantin der amerikanischen Alternativschulbewegung würdigen. Ein erster Ansatz hierzu im deutschsprachigen Diskurs erfolgte 1988 durch Hans-Ulrich Grunder in seiner Studie über weibliche Bildung (Grunder 1988).

Für Goldman sind es vor allem zwei pädagogische Elemente, die ihr libertäres Konzept definieren: Einmal der Emanzipationsgedanke in der Erziehung von Jungen und Mädchen und zweitens die Zwangsstrukturen der Schulen, die als Bildungsinstitution Herrschaft ausüben, wo Freiheit notwendig wäre: Schule als Ort des Drills und Erziehung als Instrument der Manipulation. Damit steht sie in der Tradition libertärer Pädagogen wie Faure, Robin und Ferrer, die eine rationale, ganzheitliche und koedukative Bildung anstreben.

Emma Goldman – eine „erfolgreiche“ Frau?

Das Prädikat „erfolgreich“ ist – und dies erscheint als Trivialität – relativ. In diesem Sinne ist Goldmans Leben „sowohl als auch“ erfolgreich. Erfolgreich aus dem Blickwinkel etablierter gesellschaftlicher Verhältnisse war sie als Anarchistin bestimmt nicht: Die „rote Emma“ war vorbestraft, des Landes verwiesen und wurde einmal als „gefährlichste Frau der USA“ bezeichnet. Sie war mehrmals verheiratet, pflegte die „freie Liebe“ und setzte sich für Schwangerschaftsunterbrechung ein.

Erfolgreich war sie auch nicht im traditionell-privaten Sinne: Sie hatte keine Familie mit Kindern und Enkeln, die sich um Mutter und Oma sorgten und sie lebte auch nicht mit einem „treu liebenden“ Ehemann „bis ans Ende des Lebens“ glücklich zusammen. Und auch im wirtschaftlichen Sinne war sie wenig erfolgreich: Sie hatte weder ein Vermögen noch ein Haus noch eine karriereorientierte Berufsbiographie oder Ausbildung. Sie lebte oft von der Hand in den Mund und befand sich einen Großteil ihres Lebens auf der Flucht, im Gefängnis, auf anstrengenden Vortragsreisen oder in der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Urlaub und Freizeit kannte sie nicht.

Was ist also das „Erfolgreiche“ in ihrem Leben? Sie war und ist erfolgreich im politisch-emanzipatorischen Sinne. Sie hat den herrschenden Verhältnissen auf die „Finger geklopft“.

Sie konnte sie zwar unmittelbar nicht verändern, sie hinterließ jedoch nachhaltige Spuren als Frauenrechtlerin, als Bildungspolitikerin und als Revolutionärin. Sie war jedoch keine Theoretikerin und hinterließ auch kein publizistisches „Lebenswerk“, das in die „Große Bibliothek des 20. Jahrhunderts“ eingeordnet werden könnte. Ihre Publikationen waren Kampf- und Agitationsschriften. Sie war eine Frau des Wortes, nicht der Schrift.

Sie konnte Menschen für die Freiheit „face to face“ begeistern, sie gab Menschen Mut, sich für ihre Belange gegenüber herrschenden Dritten zu wehren.

Wir spüren bei Goldman neben ihrem Mut aber auch so etwas wie Demut vor dem Leben und der Freiheit des Menschen. Sie litt vermutlich auch – und dies sehen wir besonders in ihren Liebesbriefen – unter der Dynamik und Erwartungshaltung ihrer Popularität. Ihre politische und kognitive Stärke und Disziplin machte sie einerseits erfolgreich und berühmt und andererseits verarmte ihre emotionale Seite. Als Pädagogin in einer vor ihr mitbegründeten Ferrer-Schule wäre sie vielleicht fehl am Platz gewesen. Die Fotos, die wir von ihr kennen, zeigen keine lachende Emma Goldman. Sie wirkte stets ernst, konzentriert und angespannt. Auf einem Foto von 1938 – zwei Jahre vor ihrem Tod – im Kreise spanischer CNT-FAI-Genossen während des spanischen Bürgerkrieges hinterlässt dieser ernste Gesichtsausdruck einen erschöpften und verbitterten Eindruck (vgl. Falk 1987, Foto Nr. 39/41). Ist dies der Preis einer „erfolgreichen“ Revolutionärin, die für Generationen von Männern und Frauen zum Vorbild wurde?

Goldman ist im 20. Jahrhundert zu einer Ikone des Widerstands gegen Unterdrückung und Tyrannei geworden.

Sie lebte ihr Leben stolz, aufrecht, mutig und demütig. Sie zählt zu den großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und verdient Beachtung als Frau und Revolutionärin.

Literatur

Abbott, L.: Das Ideal libertärer Erziehung. In: H. Baumann/U. Klemm (Hg.): Anarchismus und Schule. Werkstattbericht Pädagogik, Bd. 2. Grafenau-Döffingen 1988, S. 111-115; erstmals in: Mother Earth, Nr. 2/1911, S. 118-121

Avrich, P.: The Modern School Movement. Anarchism and Education in the United States. Princeton 1980

Ahrens, H./Degen, H.-J./Geist, Ch. (Hg.): "Tu was Du willst" Anarchismus - Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Berlin 1980, 2. Aufl. Berlin 1987

Berkman, A.: Die Tat. Gefängniserinnerungen eines Anarchisten. Berlin 1927, Frankfurt a.M. 1976 (erstmals New York 1912)

Berkman, A.: ABC des Anarchismus. Berlin 1982 (erstmals New York 1929)

Borries, A. von/Brandies, I. (Hg.): Anarchismus. Theorie/Kritik/Utopie. Frankfurt a.M. 1970

Blankertz, St.: Legitimität und Praxis. Öffentliche Erziehung als pädagogisches, soziales und ethisches Problem. Studien zur Relevanz und Systematik angelsächsischer Schulkritik. Wetzlar 1989

Cleyre, V. de: Francisco Ferrer. In: Der Sozialist, Nr. 17/1914, S. 133-135; Nr. 18/1914, S. 138-14; Nr. 19/1914, S. 148-150; Nr. 20/1914, S. 156-157; Nr. 21/1914, S. 164-166

Degen, H.-J./Knoblauch, J.: Anarchismus. Eine Einführung. Stuttgart 2006

Dennison, G.: Lernen und Freiheit. Aus der Praxis der First Street School. Frankfurt a.M. 1971 (erstmals engl. 1969)

Falk, C.: Liebe und Anarchie & Emma Goldman - Ein erotischer Briefwechsel. Eine Biographie. Berlin 1987 (erstmals New York 1984)

Goldman, E.: The Child and its enemies. In: Mother Earth, Nr. 2/1906, S. 7-14

Goldman, E: La Ruche. In: Mother Earth, Nr. 9/1907, S. 388-394

Goldman, E: F. Ferrer. In: Mother Earth, Nr. 9/1909, S. 275-278

Goldman, E: Die Ursachen des Niedergangs der Russischen Revolution. Mit einem Vorwort von Rudolf Rocker. Berlin 1922; Reprint unter dem Titel: Der Bolschewismus: Verstaatlichung der Revolution. Berlin 1968, veränderte Neuauflage 1970

Goldman, E.: Anarchism and other Essays. With a new Introduction by Richard Drinnon. New York 1969 (erstmals New York 1911)

Goldman, E: Francisco Ferrer and the Modern School. In: E. Goldman: Anarchism and other Essays. New York 1969(a), S. 145-166

Goldman, E: Das Tragische an der Emanzipation der Frau. Reihe: Frauen in der Revolution, Bd. 2. Berlin 1977

Goldman, E: "Living My Life". Gelebtes Leben. 3 Bde. Berlin 1978(a), 3. Aufl. Bd. 1 1988, 3. Aufl. Bd. 2 1990, 2. Aufl. Bd. 2 1990; erstmals engl.: Living my Life, New York: Alfred A. Knopf 1931, 2 Bde., 993 und XVI S. in Groß-Oktav

Goldman, E.: Anarchismus - seine wirkliche Bedeutung. Anarchistische Texte 11. Berlin 1978 (b), 2. Aufl. 1981

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Grunder, H.-U.: "Wir fordern alles". Weibliche Bildung im 19. Jahrhundert. Grafenau 1988

Grunder, H.-U.: Theorie und Praxis anarchistischer Erziehung. 2. überarbeitete Aufl. Grosshöchstetten und Bern 1993

Karasek, H. (Hg.): 1886. Haymarket. Die deutschen Anarchisten von Chicago. Berlin 1975

Klemm, U.: Francisco Ferrer. Ein libertärer Schulreformer im Kontext der Bildungsgeschichte. Hilterfingen 2004

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Nettlau, M.: Anarchisten und Syndikalisten - Teil 1. Geschichte der Anarchie. Band V. Vaduz 1984

Nuhn, H.: August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika. Opfer der Tragödie auf dem Chicagoer Haymarket 1886/87. Kassel 1992

Oberländer, E. (Hg.): Anarchismus. Olten 1972

Rammstedt, O. (Hg.): Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt. Köln/Opladen 1969

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Rocker, R.: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten. Frankfurt a.M. 1974

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Zum Autor

Prof. Dr. phil. Ulrich Klemm, Diplom-Pädagoge, Honorarprofessor für Erwachsenenbildung an der Uni Augsburg, Mitinhaber des Verlages Klemm & Oelschläger, 20 Jahre Fachbereichsleiter an der Ulmer Volkshochschule, derzeit Unternehmensberater im Gesundheitswesen.

Neuere Veröffentlichungen u.a. Leo Tolstoi - Libertäre Volksbildung (2004), Francisco Ferrer (2004), Lernen für die Eine Welt (2005), Freiheit & Anarchie. Eine Einführung in den Anarchismus (2005)