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Der „Chávismus“

... oder die Kunst, das Schlimmste zu verhindern! Wie französische AnarchistInnen über Venezuela diskutieren

| Ch. R.

Wie zu Zeiten der Sowjetunion scheuen sich viele deutsche Linke und manchmal auch Libertäre, ihre eigenen Ansprüche an Herrschaftskritik, Antimilitarismus und freiheitlichen Sozialismus am konkreten Beispiel in die Praxis umzusetzen. Es braucht nur ein linker Caudillo wie Chávez daherzukommen, schon werden die eigenen Maßstäbe, die Lehren aus dem Scheitern des sowjetischen Staatssozialismus vergessen, feiert das Konzept der Verstaatlichung fröhliche Urständ', wird der Militarismus ausgeblendet und ist die Angst groß, radikale libertäre Kritik könne nur der Rechten dienen und nicht etwa dem Projekt, basisdemokratische, freiheitliche Zustände zu erkämpfen. Anders in der französischen anarchistischen Wochenzeitung "Le Monde libertaire", wo AnarchistInnen frei und ohne ideologische Scheuklappen diskutieren, zum Beispiel über den neuen Film von Dario Azzellini & Oliver Ressler: "5 Fabriken - Arbeiterkontrolle in Venezuela". (Red. Süd)

Der Besuch zweier venezolanischer Genossen in Paris war Anlass, Ende September 2006 in der „Passerelle“ eine öffentliche Diskussion über einen Dokumentarfilm („5 Fabriken – Arbeiterkontrolle in Venezuela“, 81 Min., in der BRD in Spanisch mit dt. Untertiteln erhältlich; A.d.Ü.) abzuhalten, der es ermöglichte, von der strikt ideologischen Konfrontation zur aktuellen Situation und zu den konkreten Bedingungen der Reproduktion des sozialen Lebens überzugehen.

A. ist ein entlassener Metallarbeiter, der heute von der „informellen Ökonomie“ lebt, und C. ist Lehrer in einem kleinen Provinzstädtchen; beide sind ehemalige Aktivisten der Bewegung der „nationalen Befreiung“, die sie heute kritisieren.

Im Gegensatz zur Mehrzahl der Mitglieder dieser Gruppen, die das „chavistische Projekt“ unterstützt haben, um heute dessen Kader auf lokaler und nationaler Ebene zu konstituieren, engagieren sich A. & C. in den Basiskämpfen. Sie vertreten eine Position des antiautoritären Sozialismus und betonen die Notwendigkeit der ArbeiterInnen-Autonomie.

Soziale Genealogie des Chavismus

Der Einladungstext zur Veranstaltung analysierte die jüngsten Entwicklungen in Venezuela in einem größeren, historischen Rahmen.

Die „30 Wirtschaftswunder-Jahre“ gab es nicht nur für die KapitalistInnen der „entwickelten Länder“, sondern auch in Lateinamerika: Im Anschluss an die keynesianische Politik der Staatsintervention kam es zu einer starken Industrialisierung und einer bedeutsamen ökonomischen und sozialen Modernisierung. Auch wenn die Landflucht mehr Menschen in die Städte trieb, als dort nach Arbeitskräften nachgefragt wurde, war die Perspektive des sozialen Aufstiegs nicht nur reine Illusion, und die Mittelschichten entwickelten sich schnell.

Die antiimperialistischen „nationalen Befreiungsbewegungen“ repräsentierten in gewisser Weise jene Strömungen, die von dieser Entwicklung profitieren – und sie eventuell vorantreiben – wollten, ohne sich jedoch den Bedingungen des US-dominierten Weltmarkts zu unterwerfen.

Der Niedergang des keynesianischen Modells, der sich auf weltweiter Ebene, aber regional in verschiedenen Ausprägungen vollzog, führte in Lateinamerika in den achtziger Jahren zur Schuldenkrise. Die darauf folgenden neoliberalen Politiken führten zu einer sozialen Blockade für die Menschen in den Slums und zu einer materiellen Verschlechterung der Lohnabhängigen und der Mittelklasse. Der Zusammenbruch des sowjetischen Blocks und die folgende Vereinheitlichung des kapitalistischen Marktes auf weltweitem Niveau verstärkten noch diese Tendenzen. Populistische Maßnahmen verschwanden, und die Krise weitete sich massiv auf die ausgebeuteten Klassen aus.

Zunächst sahen sich die politischen Kräfte, die sich auf die sowjetische Strategie gegen die nordamerikanische Dominanz gestützt hatten, geschwächt und brachen eine nach der anderen zusammen.

Die schlimmen sozialen Folgen der liberal-kapitalistischen „Erfahrungen“ mündeten in eine neue Phase von Aufständen und sozialen Explosionen, von denen die Revolte in Chiapas und die der argentinischen ArbeiterInnen die markantesten waren.

Aus dieser Entwicklung bezog eine neue Generation politischer Kräfte ihre zunehmende Macht, wobei sie ihren Populismus mit der Forderung mischte, zum Staatsinterventionismus auf sozialer Ebene zurückzukehren.

Das chavistische Projekt

C. kam auf der Veranstaltung in seinem kurzen Vortrag auf diese Entwicklung zurück, um dann konkreter auf den Sinn des „chavistischen Projekts“ zu sprechen zu kommen:

„In Venezuela waren die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durch einen zunehmenden Verfall des Vertrauens der Bevölkerung in die Institutionen charakterisiert. Das parlamentarische System hatte keine Antwort mehr auf die Forderungen und Wünsche der Gesellschaft.

Der Reichtum konzentrierte sich mehr und mehr in den Händen eines eingeschränkten Kreises von Ausbeutern, die auch die politische Macht in der Parlamentsregierung monopolisierten. Die Ölprofite – bedroht durch einen Niedergang der Ölpreise – waren zudem regelmäßiges Ziel von Plünderungen von Seiten der Bourgeoisie. So ist die Ausweitung der Korruption ein dominanter Charakterzug der zwei letzten Regierungen der vierten Republik Venezuelas geworden.

Im Februar 1989 hat eine Revolte von unten – die mehrere Tage dauerte – das Ausmaß an Unzufriedenheit an den Tag gebracht. Diese Revolte wurde blutig niedergeschlagen, und wir zählten Hunderte von Opfern.

Aber dieses Ereignis hat die Bourgeoisie dazu gezwungen, den Lohnforderungen und anderen Ansprüchen nachzugeben.

Außerdem ist sie zu notwendigen demokratischen Reformen gedrängt worden.

Doch einige Jahre später, 1996, versuchten die Regierung und die UnternehmerInnen mit der aktiven Unterstützung der Gewerkschaften und der Sozialistischen Partei einen neuen Schlag gegen die ArbeiterInnen, indem sie das Arbeitsrecht im Bereich der Sozialleistungen ändern wollten, was von den venezolanischen ArbeiterInnen seit jeher als wichtige soziale Errungenschaft angesehen worden war.

Die Rolle, die dabei der sozialistische Minister Petkoff spielte, wird uns allen im Gedächtnis bleiben.

Während dieser Zeit entstand innerhalb der Armee eine konspirative Gruppe, die durch die Themen des Nationalismus und Bolivarismus zusammengeschweißt wurde. Ihre Agitation befasste sich mit der Korruption und der Repression, aber sie thematisierte keineswegs die Ausbeutung der ArbeiterInnen.

Im Jahre 1992 machten zwei Versuche eines Militärputsches Hugo Chávez bekannt (Februar und November). Und sehr schnell wurde in ihm eine Persönlichkeit gesehen, die fähig war, auf die Unruhen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten eine Antwort zu geben: Wie kann das demokratische System gerettet werden? Wie kann die große Unzufriedenheit in der Bevölkerung gegenüber den Institutionen kanalisiert werden?

Einmal an der Regierung versteckte Chávez nicht seine Intentionen: ‚Ich bin hier, um das Schlimmste zu verhindern!‘

Bereits die ersten Maßnahmen seiner Regierung hatten die Reorganisation der demokratisch-kapitalistischen Institutionen zum Ziel. Die Konstituante von 1999 und, die Kirsche auf dem Kuchen, die ‚bolivarische Verfassung‘ sind zu den ’neuen‘ institutionellen Referenzen geworden, die einem Teil der Bourgeoisie die Hoffnung zurückgegeben haben und die eine Kontrolle der Kundgebungen, Aufstände und Unzufriedenheiten in der Bevölkerung ermöglichten.

Aber um das alles Wirklichkeit werden zu lassen, musste eine noch kühnere Politik durchgeführt werden, die auf Demagogie und Populismus basierte, auf einer radikalen Phraseologie und einem scheinbaren Hintanstellen persönlicher Ambitionen.

Der Retter musste erst in den Augen der Menschen als ‚Retter‘ gesehen werden. Chávez war der Mann für die Situation: Er kam aus dem Volk, war Mestize und Militär in einem. Wir dürfen nie vergessen, welches Gewicht der ‚Caudillismus‚ in der Geschichte Venezuelas hat.

Die Umsetzung eines Programms, das einen kleinen Teil der Ölprofite verteilen sollte, erforderte zwei Bedingungen:

Das Programm musste das Gefühl erzeugen, dass eine soziale Veränderung in Marsch gesetzt werden sollte; und der Staat, der nun ‚bolivarisch‘ genannt wurde, sollte als Entscheidungsträger erscheinen. Und auf diese Weise wurden die sozialen Programme angegangen – die so genannten ‚Missionen‘ – im Bereich der Erziehung, des Gesundheitswesens, der Beschäftigung, der Wohnungen und der Nahrungsmittelverteilung.

In all diesen Programmen wurden die Entscheidungen von oben nach unten gefällt; die Ansichten der betroffenen Individuen zählten nicht, außer wenn sie im Sinne der bereits getroffenen Entscheidungen waren. In diesem Sinne erscheint die ’neue‘ Demokratie wie ein Tropfen auf den heißen Stein der alten repräsentativen Demokratie.

In dieser famosen ‚bolivarischen Revolution‘ regeln die Arbeitslosigkeit, das geringe Lohnniveau und die Unsicherheit das Leben der Individuen. Der Alltag der venezolanischen ArbeiterInnen bewegt sich innerhalb eines konkreten Rahmens: einem Monatslohn von 170 Euro im besten Falle; 50 Prozent der Bevölkerung sind in ‚informellen Anstellungsverhältnissen‘ beschäftigt (was faktisch Prekarität in der Arbeit bedeutet) und leben unter der ständigen Bedrohung von Gangs und der Polizei. Zur gleichen Zeit steigt die Korruption weiter an; die neuen Schichten der sozialistischen ‚chavistischen‘ Bürokratie bereichern sich und verändern ihren Lebensstil, vor den Augen und mit Wissen der Bevölkerung.“

Der neue Film von Azzellini & Ressler und zwei Sichtweisen zum neuen Populismus

Für C. macht der Film (von Azzellini & Ressler; A.d.Ü.) „Werbung für eine vorgeblich soziale Bewegung, die den Aufbau einer neuen Art von Sozialismus zum Ziel hat. Aber was der Film tatsächlich zeigt, negiert gerade diese Tendenz. Kurioser Weise wird ein System der ‚Mitbestimmung‘ und der ‚Selbstbestimmung‘ außerhalb jeglicher Bewegung der ArbeiterInnen etabliert. Die SprecherInnen scheinen eine bestimmte Rede zu rezitieren, und die gezeigten Entscheidungen haben zum vorrangigen Ziel, den Produktionsablauf zu disziplinieren und zu verbessern. Wo also ist da die radikale Veränderung der Arbeitsbedingungen? Es ist selbstredend der Staat, der das Überleben dieser ‚Erfahrungen‘ in den verschuldeten Unternehmen organisiert und unterstützt, welche die Regierung aufgekauft hat.“

Die aktuellen Entwicklungen in Südamerika können auf zwei unterschiedliche Weisen analysiert werden. Die klassisch avantgardistische Sicht, die tief im politischen Denken verankert ist, besteht darauf, in den neuen populistischen Kräften das Auftauchen einer politischen antiimperialistischen Tendenz nach altem Muster (gegen den nordamerikanischen Kapitalismus gerichtet) zu sehen, die dazu fähig ist, die zunehmenden Massen der Enterbten in eine gerechtere Zukunft zu führen.

Auf der anderen Seite, auf der A. & C. stehen, können wir im Aufstieg dieser Populismen keineswegs den direkten Ausdruck der Revolten an der Basis sehen, sondern vielmehr eine politische Antwort, die versucht, diese Revolten auf das Terrain des Staates zu kanalisieren. Was bedeutet, dass diese neuen politischen Kräfte, von Chávez bis zu Lula, von Morales bis zu Correa, weniger der direkte Ausdruck einer Basisbewegung – sozusagen ihr „Sprachrohr“ – sind, sondern eher die bis dato letzte Erscheinungsform des alten politischen Regimes und seiner Institutionen. Eine Antwort auf die Revolten, die aufgrund der wachsenden Verarmung der lateinamerikanischen Gesellschaften entstanden sind.

Während der Pariser Diskussionsveranstaltung hat sich die erste Position nicht zu Wort gemeldet, auch wenn sich eine Person darüber erzürnte, dass wir das chavistische Projekt als eine Form der kapitalistischen Regierung betrachtet haben. Während sich die Mehrheit der Anwesenden darüber einig war, dass dieses Regime eine populistische und demagogische Dimension hat, so haben einige trotzdem betont, dass die neue Situation eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Ausgebeuteten und Marginalisierten mit sich gebracht habe. Im Gegensatz dazu haben andere, darunter die anwesenden venezolanischen Genossen, vorgebracht, was zähle, sei der politische Inhalt der Maßnahmen, der auf lange Sicht die Chancen einer emanzipatorischen sozialen Umwandlung bestimmen würde.

Es handelt sich hier um zwei verschiedene Denkweisen. Die eine zentriert sich um eine unmittelbare und taktische Auslegung der Situation; die andere setzt, ohne diese Verbesserung zu negieren, den Akzent auf die politischen Konsequenzen der autoritären und etatistischen Methode, die am Werke ist.

Eine Diskussionsteilnehmerin formulierte es so: Diese unmittelbaren materiellen Verbesserungen sind, sofern sie von einer Aktion des Staates geleitet werden, für die Zukunft keineswegs garantiert, sie bleiben fragil und abhängig von der Stabilität des Regimes.

Die venezolanischen Genossen haben die Tatsache betont, dass die soziale Agitation sehr lebendig bleibt und dass die direkten Aktionen zur Besetzung von Land und Wohnungen sowie Streiks ohne Unterbrechung aufeinander folgen; und dass diese Aktionen von ArbeiterInnen durchgeführt werden, die sich in ihrer Mehrzahl zum „Chavismus“ bekennen. Aber sie unterstrichen auch, dass das Regime notwendiger Weise interveniert, um die Bewegungen einzuhegen und sie in den staatlich vorgegebenen Rahmen zurückzuführen.

C. erzählte von einem Beispiel: einer Mobilisierung in seiner Schule gegen den Vandalismus von Gangs. Die Versuche zur Stärkung sozialer Bindungen und zur Aufnahme von Kontakten mit den marginalisierten Jugendlichen konnten nicht umgesetzt werden und wurden ersetzt durch Sicherheitsmaßnahmen, die von den chavistischen Regierungsinstitutionen aufgezwungen wurden.

A. erklärte seinerseits, wie es die Aufforderung zur Gründung von Kooperativen den chavistischen Autoritäten erlaubt, Aktivitäten im informellen Sektor finanziell zu kontrollieren, und die Menschen dazu verleitet, sich zu AusbeuterInnen anderer Arbeitskräfte zu verwandeln, meist von Mitgliedern ihrer eigenen Familie.

Die venezolanischen Genossen erklärten mit eigenen Worten, dass das konkrete Ergebnis des „Chavismus“ die neuerliche Aufwertung der staatlichen Institutionen sei, jener Institutionen, die das korrupte demokratische Vorgängerregime jeglicher Glaubwürdigkeit beraubt hat.

Es werde in Zukunft entscheidend darauf ankommen, ob die unabhängige Aktion der Ausgebeuteten und Marginalisierten erstickt wird oder sich verstärken kann.

Anmerkungen

aus: Le Monde libertaire Nr. 1459, 14.-20.12.2006, S. 11-13

Übersetzung: Lou Marin