Werner Portmann / Siegbert Wolf: "Ja, ich kämpfte". Von 'Luftmenschen', Kindern des Schtetls und der Revolution. Biographien radikaler Jüdinnen und Juden. Mit einem Vorwort von Emanuel Hurwitz. Unrast, Münster 2006, br., 314 Seiten, 19 Euro. ISBN 3-89771-452-3
„Ich bin Jahweh, dein Gott, der ich dich führte aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Knechtschaft. Nicht sei dir andere Gottheit mir ins Angesicht.“ (Ex 20, 2-3) Die Eröffnungsformel der „zehn Gebote“ ist eines der imposantesten Dokumente der Herrschaftsablehnung in der gesamten Weltliteratur. Der Gott Israels fordert Alleinverehrung, weil er sein Volk aus der Sklaverei befreit hat. Seine ‚Herrschaft‘ soll vor allem dem Zweck dienen, menschliche Herrschaft zu verüberflüssigen und zu verhindern.
Wir wissen, welch „grimmiger Hohn“ (Max Horkheimer) diesem Gedanken durch Jahrtausende herrschaftslegitimierender christlicher und auch jüdischer Auslegung widerfuhr. Aber gerade im Judentum, das noch heute den Messias erwartet, der ja nicht zuletzt ökonomischer und politischer Bedrückung ein Ende machen soll, ist die subversive Sprengkraft dieses „libertären“ Traditionsstrangs der Bibel immer wieder wirkmächtig geworden.
Dass dies in der Generation europäischer Jüdinnen und Juden, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geboren wurden, besonders fruchtbar wurde, hat vor 20 Jahren Michael Löwy in seiner beeindruckenden Studie „Erlösung und Utopie“ gezeigt. Aus assimilierten jüdischen Elternhäusern im deutschsprachigen Mitteleuropa kommend, wandten sich junge Intellektuelle in einem Akt der Emanzipation von ihren Eltern wieder den jüdischen, vor allem mystischen Wurzeln zu und transformierten die dort aufgefundenen, Befreiung erheischenden Impulse in eine säkulare, libertäre Utopie:
„Erlösung“ im Hier und Bald. Gustav Landauer und Ernst Bloch zählte Löwy zu dieser, wissenssoziologisch gefassten „Generation“, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Geshom Scholem, Walter Benjamin, Franz Kafka und eine Reihe weiterer bedeutender Intellektueller.
Das jetzt von Werner Portmann und Siegbert Wolf vorgelegte Buch „Ja, ich kämpfte“ liefert eine in mehrfacher Hinsicht wichtige Ergänzung zu Löwys Projekt.
Denn sie erweitert dessen Perspektive.
Von den sechs hier versammelten biographischen Studien fallen nur zwei in das Löwy’sche wissenssoziologische Raster der bürgerlichen, „westjüdischen“ Biographie, und sie handeln nicht von intellektuellen Denkern, sondern von Kunstschaffenden: dem anarchistischen „Kunst-Gangster“ Jack Bilbo (1907-1967) und dem Dichter Robert Bodansky (1879-1923), der sich vom Lieblings-Librettisten der Wiener Operettenszene zum pazifistisch-anarchistischen Agitator entwickelte.
Der Schriftsteller und Kunsttheoretiker Carl Einstein (1885-1940), der 1936/37 in der Colonna Durruti kämpfte, stammte ebenfalls aus dem „westjüdischen“ Milieu (in Neuwied), aber nicht in seiner assimilierten, sondern seiner frommen Variante: Sein Vater war Rabbiner.
Die restlichen drei biographischen Skizzen handeln von Menschen, die dem „Ostjudentum“ entstammten, der Welt des galizischen bzw. ukrainischen Schtetl. Es handelt sich um den „Luftmenschen“ Isak Aufseher (1905-1977), anarchistischer Berufsrevolutionär und pazifistischer Spanienkämpfer; um die libertäre Agitatorin Cilla Stamm (1887-1957); und schließlich um Milly Witkop (1877-1955), frühe Anarchafeministin und Lebensgefährtin Rudolf Rockers.
Der Weg aus der sozialen und religiösen Welt des Schtetl zum Anarchismus folgte einer anderen Logik als die bürgerlich-jüdische Intellektuellen-Sozialisation, die Löwys Protagonisten zu libertärem Denken finden ließ: Es sind praktische, alltägliche Kämpfe, die von jüdischer Religiosität und Spiritualität – ohne den assimilierenden Umweg über Goethe und Konsorten – zur diesseitigen Utopie der Anarchie führen. Und sie sind, wie Portmann und Wolf zeigen, eingebettet in ein teilweise erstaunlich breites Milieu libertärer, jiddisch-sprachiger Diaspora-Kultur, etwa im Londoner East-End, wo Witkop und Rocker lange wirkten. Aber die politische Ethik des „Ersten Gebots“ bleibt hier wie dort aufgehoben.
Der entscheidende Vorteil der Perspektivausweitung von Portmann und Wolf gegenüber Löwy besteht nun darin, dass auch das Leben und Wirken von Frauen in den Blick kommt, und damit die auch in der Geschichte des Anarchismus sehr problembeladene Frage der Geschlechterverhältnisse. Eine so egalitäre und zärtliche Beziehung wie zwischen Witkop und Rocker stellte eben die große Ausnahme dar; die anarchistische Männerwelt war weithin von patriarchaler Selbstgerechtigkeit und teilweise frauenfeindlicher Gewaltsamkeit geprägt, wie der Band u.a. an Cilla Stamms Partner Hans Itschner zeigt.
Eine Stärke des Buchs liegt darin, plastisch zu machen, wie das Überleben exponierter libertärer Frauen sich der Existenz von Netzwerken von Genossinnen verdankte – wie auch überhaupt die anarchistischen Kommunikationsnetze in ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert schön lebendig werden.
Es ist reizvoll, eine von den Autoren ausgelassene Option nachzuholen und die Verbindungen auch über die Kapitelgrenzen hinweg zu rekonstruieren.
Ein Namensregister wäre hierfür freilich ideal gewesen. Glücklicherweise hat der Verlag ein solches Register inzwischen online nachgereicht (http://www.unrast-verlag.de/unrast,3,0,336.html).
„Ja, ich kämpfte“ lebt nicht von theoretischer Systematik oder methodischer Stringenz, sondern von der einfühlsamen Darstellung komplexer Lebenswelten. Die jiddische Kultur in Galizien wird ebenso nachempfindbar wie die Exilanten-Subkulturen etwa in England, in der Schweiz oder im Spanischen Bürgerkrieg, wildes Rebellentum ebenso wie die Geißel der Armut und drohender Pogrome. Der sehr umfangreiche Anmerkungsapparat hilft bei der Klärung unbekannter Begriffe und Personennamen.
Ein wichtiges Buch sowohl für die Geschichte des modernen Anarchismus als auch für die Geschichte des europäischen Judentums.