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Darfur: Aller Tod kommt aus den Gewehrläufen!

Zur Geschichte eines Massenmords in Afrika

| Sal Macis

In Darfur/West-Sudan, so heißt es unisono in den bürgerlichen Medien, habe von 2003 bis 2005 der erste "Genozid" im 21. Jahrhundert stattgefunden. Immer wieder wird über eine massive Militärintervention des Westens diskutiert. (Red. Süd)

Mehrfach wurde in der Graswurzelrevolution versucht (1), die hoffnungsvolle, gewaltfrei-anarchistische Tradition und Bewegung des Ustad Mahmud Muhammad Taha (genannt der „Gandhi des Sudan“) und seiner Organisation, der „Republikanischen Brüder“ (2), bekannt zu machen.

Taha selbst wurde 1985 vom Militärregime Numeiri hingerichtet. Die Taha-Bewegung lehnte Sharia und Jihad ab und vertrat eine säkulare, sozialistische und föderalistische Konzeption des Sudan mit gleichen Rechten für den animistisch-christianisierten Süden ebenso wie für die Westprovinzen Kordofan und Darfur.

Niemand weiß, ob der Massenmord der letzten Jahre hätte verhindert werden können, wenn sich die Konzepte dieser minoritären Bewegung in Khartum nach dem Volksaufstand von 1985 hätten durchsetzen können.

Sie repräsentiert die gewaltfreie Alternativ-Tradition in einem Land, in dem der jahrzehntelange Krieg zwischen Guerilla und islamistischem Zentralstaat eine peripher gelegene Region dem Erdboden gleichmacht.

Konstruierte Rassismen in Darfur

Ein Gutteil des Zögerns vieler Libertärer und Gewaltfreier hierzulande, sich zu Darfur eine Meinung zu bilden, liegt an der Komplexität der Herrschaftsverhältnisse, aber auch am bisherigen Mangel an Information.

Diesen Mangel behebt nun ein neues Buch von Gérard Prunier, Darfur. Der „uneindeutige“ Genozid. (3) Es ist eine detaillierte Darstellung der Geschichte Darfurs bis hin zum jüngsten Massenmord. Fast alle nicht näher ausgewiesenen Informationen dieses Artikels stammen aus diesem Buch.

Sudan heißt „Land der Schwarzen“ und Darfur „Land der Fur“. Darfur liegt südlich der Sahara, weit weg von Khartum, gehört zur Sahel-Zone und grenzt an den Tschad. Die Region ist ein Mosaik unzähliger Bevölkerungsgruppen, die größten sind die Fur (40%) und die Zaghawa (9%)

Alle BewohnerInnen Darfurs haben eine schwarze Hautfarbe.

Trotz dieser Tatsache sind im Laufe der Geschichte des Sudan immer wieder Herrschaftsgegensätze zwischen angeblichen ‚Arabern‘ und ‚SchwarzafrikanerInnen‘ konstruiert worden.

Im Gegensatz zum Südsudan ist der Darfur seit mehreren Jahrhunderten islamisiert. Sein regionaler Islam jedoch gilt dem zentralstaatlichen Islam in Khartum als oberflächlich, durchsetzt von Stammesriten. Trotzdem will Khartum Darfur unter Verweis auf die gemeinsame Religion in jedem Fall in seinem Staatsgebiet behalten, während es im Falle des christlich-animistischen Südsudan 2005 einem Referendum über die Unabhängigkeit 2010 zugestimmt hat und damit auch dessen Abspaltung riskiert.

In Darfur sind die Bevölkerungsgruppen unterteilt in Nomaden (eher in Nord- und Süd-Darfur) und sesshafte, bäuerliche Gruppen (Mitte). Arabische Nomadengruppen gehen auf frühe Einwanderungsbewegungen aus dem heutigen Libyen und aus dem Niltal zurück. Die letzte arabische Einwanderungswelle im 18. Jahrhundert waren die sogenannten „Flussaraber“ oder „Khartumer“, die sich als Händler in den drei wichtigsten Städten Darfurs niederließen. Während die älteren arabischen Migrationsgruppen inzwischen mit den Darfurern verschmolzen sind, blieben die „Flussaraber“ eine quasi-koloniale Fremdelite, die aktuell von Khartum aus immer wieder gegen einheimische Gruppen in Darfur ausgespielt werden.

Denn der rassistische, von Khartum aus propagierte Diskurs, der sich in der Arabisierung der Sprache ausdrückt, kürt die „arabischen“ Gruppen zum fortschrittlichen, zivilisatorischen Teil Darfurs, während die Fur und andere, meist sesshafte Gruppen, die noch ihre Stammessprache sprechen, als „Afrikaner“ oder zuruq („schwarz“) abgewertet werden. Einzelne Gruppen haben bereits ihre Sprache aufgegeben und sprechen Arabisch. Weil in Wirklichkeit alle Menschen Darfurs schwarz sind, orientiert sich der zentralstaatliche Rassismus an einer Unterscheidung qua Gesichtszügen (Nasenform, dicke Lippen) zur Qualifizierung als „Afrikaner“.

Ahmed Ibrahim Diraige, die Hungersnot von 1984 und die libysche Intervention in Darfur

Die Geschichte des unabhängigen Sudan ist eine Abfolge korrupter, machtversessener, „demokratischer“ Parlamentsregierungen und militaristischer Putsche. Bis Mitte der sechziger Jahre schien sich in Darfur gegenüber der britischen Kolonialpolitik kaum etwas verändert zu haben, welche die für koloniale Interessen uninteressante Region an langer Leine hielt und mit nur rund 300 Kolonialbeamten regiert hatte, doch Darfur blieb dadurch auch von jeglicher Infrastruktur ausgenommen. Infolge der globalen ökologischen Katastrophe dehnte sich die Sahara bereits in den sechziger und siebziger Jahren nach Süden aus. Das bedrohte die Lebensgrundlagen der nomadischen Gruppen in Nord-Darfur, was zu ersten Konflikten mit den sesshaften Bauerngesellschaften der Fur in Mittel-Darfur führte. 1984 kam es infolge einer hinzukommenden Dürre zu einer Hungersnot, der „schätzungsweise 95.000 der 3,1 Millionen Einwohner“ (Prunier, S. 77) erlagen.

Der seit 1980 zum Gouverneur aufgestiegene Ahmed Ibrahim Diraige, Gründer der DDF (Darfur Development Front, seit 1964), hatte Numeiri im November 1983 in einem „Hungerbrief“ gewarnt, ohne massive Lebensmittelhilfe aus dem Ausland sei eine Hungersnot in Darfur unausweichlich, doch der Präsident geriet darüber in Wut und weigerte sich den Aufruf zur Soforthilfe ergehen zu lassen. Diraige musste daraufhin nach Saudi-Arabien fliehen, von wo aus er sich an der Aushebung von Guerillakämpfern zur Verteidigung der afrikanischen Gruppen beteiligte. Vom Londoner Exil aus versuchte er für die Fur-Miliz seiner DDF Waffen vom Tschad zu bekommen. (s. S. 89).

Zur Zeit der Massenmorde von 2003 bis 2005 versuchte Diraige, allerdings erfolglos, mit Hilfe des Henry-Dunant-Zentrum für den humanitären Dialog eine Art Vermittlung zwischen Khartum und Darfur auszuhandeln.

Dass Diraige für seine Guerilla Waffen vom Tschad bekommen wollte, verweist auf den Bürgerkrieg im Tschad, der im Darfurer Krieg nach der Hungersnot 1984 noch eine große Rolle spielen sollte.

Bereits 1966 hatte sich auf Darfurer Gebiet, in Nyala, die Frolinat (Front de libération Nationale du Tchad) gebildet, eine der unzähligen Guerillas im jahrzehntelangen Tschader Bürgerkrieg. Lybiens Gaddafi wollte die nicht-islamische Vorherrschaft im Tschad brechen und eine von ihm dominierte „Arabische Union“ auch mit dem Sudan herstellen. Deshalb unterstütze er die Frolinat in Südlibyen und Darfur, und dort 1972 die Gründung der tadschammu al-arabi (Vereinigung der Araber), einer „militant rassistischen, panarabischen Organisation, die den ‚arabischen‘ Charakter der Provinz betonen sollte“ (Prunier, S. 64). Darfur wurde bereits damals mit Waffen vollgepumpt. Durch die Propaganda Gaddafis in Darfur, der die Region zeitweise quasi annektiert hatte, wurde der rassistisch konstruierte Antagonismus zwischen „arabisch-zivilisierten“ und „afrikanisch-unzivilisierten“ Bevölkerungsgruppen beträchtlich beschleunigt.

Nach der Hungersnot 1984 und dem Sturz Numeiris 1985 waren von 1985 bis 1989 alle Ingredenzien für einen Bürgerkrieg in Darfur zubereitet. Die antilibysche tschadische Armee drang im November 1987 in Darfur ein, um die von Khartum und Gaddafi unterstützten tschadischen Rebellen des CDR (Conseil Démocratique Révolutionnaire) zu schlagen. Gegen den arabischen Rassismus der Koalition Gaddafi-Khartum-CDR entstand schließlich die Fur-Guerilla, um die „afrikanischen“ Gruppierungen zu verteidigen. In einer plötzlichen Wendung versöhnte sich die CDR mit der Tschader Regierung und wurde nun von Libyen bekämpft. „Die Situation wurde immer verworrener, die Zusammenstöße häuften sich. Am 15. Februar 1989 wurden 69 Personen getötet, weitere 40 am 17. Februar, wobei niemand mehr so recht wusste, wer eigentlich wen bekämpfte.“ (Prunier, S. 91). Von 1985 bis 89 gab es rund 10.000 Kriegstote und 100.000 Vertriebene. Dieser Bürgerkriegszyklus endete 1992 nach dem Aufstand des mit der südsudanesischen SPLA (Sudan Peoples Liberation Army) des John Garang verbündeten Darfurers Daud Bolad. Dessen vom Tschad aus durchgeführter militärischer Einmarsch in Darfur war schlecht geplant gewesen und wurde von der Regierung Khartums niedergeschlagen, Bolad erlag im Januar 92 der Folter. Danach verließen die tschader und libyschen Truppen Darfur, und bis 2003 kehrte eine relative, repressive Ruhe, unterbrochen allerdings von einzelnen Kämpfen, ein.

Die Verantwortung der Guerilla

Der Massenmord begann mit einem bewaffneten Aufstand. Was schon für den Genozid in Ruanda 1994 triste Tatsache ist, sollte sich von 2003 bis 2005 wiederholen. In dem einen wie dem anderen Fall ist der Massenmord eine Art überdimensionierter Rachefeldzug gegen die Guerilla. In Darfur gründeten sich 2003 zwei Guerillagruppen, die von Chalil Ibrahim aus London gesteuerte und von Hassan al-Turabi inspirierte radikal-islamistische JEM (Justice and Equality Movement) und die säkulare, mit der südsudanesischen SPLA verbündete SLA/SLM (Sudan Liberation Army/Sudan Liberation Movement) von Abd al-Wahid Mohamed Nur und Minni Arkoy Minnawi. Sie griffen am 25.4.2003 vereint Nyala und Al-Faschir und die dortigen Armeeposten der Zentralregierung an.

Prunier verteidigt tendenziell diese Guerilla in seinem Buch und verharmlost deren Brutalität, die von Anfang an offenbar war: „Nach US-Quellen exekutierten sie (beide Guerilla; d.A.) außerdem fast 200 Gefangene der Armee, nachdem diese sich ergeben hatten; dies scheint eine der seltenen Gräueltaten der Rebellen in diesem Krieg gewesen zu sein. Ende Mai töteten sie etwa 500 Regierungssoldaten im Kampf bei Kutum, im Juli griffen sie Tinay an und töteten noch einmal 250 Gegner, und am 1. August gelang ihnen die Einnahme von Kutum. Dabei töteten sie einen großen Teil der Garnison.“ (S. 128)

Wie bei vielen Beispielen und auch wie in Ruanda muss sich die Guerilla fragen lassen, was sie mit dem bewaffneten Aufstand riskierte und wie blind sie gegenüber der Gefahr des Abgleitens in eine Dynamik der schnellen Eskalation mit vernichtendem Gegenschlag oder in einen lang andauernden Bürgerkrieg war.

Die Darfur-Guerillas verbanden die Offensive mit einem Verhandlungsangebot an Khartum. Das ist typische Praxis bei einer Guerillaoffensive. Doch was berechtigt zu der Hoffnung, dass gerade in so einer Phase der an Waffen und Material überlegene Gegner, der Zentralstaat, verhandeln will? Ist nicht ein Versuch der Mobilisierung aller verfügbaren militärischen Mittel des Zentralstaates zum vernichtenden Gegenschlag viel wahrscheinlicher? Wenn es aber dazu kommt, muss an die Guerilla die Forderung gestellt werden, die sie tragende und unterstützende Zivilbevölkerung militärisch schützen zu können, das ist schließlich der eigene Anspruch der bewaffneten Selbstverteidigung. Und genau das war in Darfur – wie auch in Ruanda – nicht der Fall.

Die Tutsi-Guerilla in Ruanda hat losgeschlagen, letztlich den Krieg gewonnen und die Macht erobert, aber den Völkermord an den Tutsi durch die Hutu-Regierung, der zeitlich dazwischen lag, hat sie nicht verhindert.

Prunier ahnt etwas von diesem Mechanismus, wenn er schreibt:

„Guerillabekämpfung ist so alt wie die Guerilla. (…) Von Mao Zedong, einem Theoretiker wie Praktiker des Guerillakrieges, stammt der oft zitierte Satz, Guerillas müssten ‚sich in der Bevölkerung bewegen wie ein Fisch im Wasser.‘ Die logische Schlussfolgerung von Anti-Guerilla-Theoretikern lief darauf hinaus, den Teich trockenzulegen, wenn man den Fisch anders nicht fangen konnte.“ (S. 136f.).

Und das machte die sudanesische Armee Khartums. SLA und JEM waren niemals fähig, ganz Darfur zu schützen und den Rachefeldzug zu verhindern. Noch einmal Prunier zum Vergleich mit Ruanda:

„Als die Tutsi-Rebellen im Oktober 1990 in Ruanda eindrangen, machten sie sich wahrscheinlich nicht klar, welche Gefahr sie für die im Land lebenden Tutsi heraufbeschworen. In einer rassistisch aufgeladenen Situation bringt eine bewaffnete Rebellion der ‚unterlegenen‘ Gruppe eine enorme Bedrohung für die Zivilbevölkerung dieser Gruppe mit sich. (…) Die Hoffnung, dass die Repression auf die Kämpfenden beschränkt bleiben könnte, war vollkommen unrealistisch.“ (S. 198)

Darin liegt die Verantwortung und die Mitschuld der Guerillakriegsführung an den Massenmorden in Afrika.

Das Manöver al-Turabis und die eskalierende Wirkung des Friedensschlusses mit der SPLA

Doch die Täter, die Hauptverantwortlichen, saßen in Khartum.

Am 12.12.1999 entmachtete Sudans Präsident Omar al-Baschir den islamistischen Chefideologen Hassan al-Turabi. Al-Turabi war die starke Person der 1926 von Hassan al-Banna gegründeten Muslim-Brüder, die im Sudan 1953 legalisiert wurden.

Noch unter Numeiri war al-Turabi vom politischen Häftling (bis 1969) 1977 direkt zum Vorsitzenden der Rechtskommission der „Nationalen Versöhnung“ mit den Islamisten aufgestiegen, die 1983 zur Einführung der Sharia führte, und wogegen dann die Bewegung Mahmud Tahas aufbegehrte. (4) Nach dem parlamentarisch-demokratischen Intermezzo von 1985 bis 1989 putschten sich al-Turabi und al-Baschir 1989 gemeinsam an die Macht und wandelten den Sudan in einen islamistischen Staat um.

Al-Turabi, der Intellektuellere der beiden, der immer in Khartum blieb (in Gefängnis oder Hausarrest) und von al-Baschir nicht umgebracht werden konnte, weil er für einige Schweizer Konten des Sudan als einziger unterschriftberechtigt war, verfolgte nach seiner Entmachtung 1999 eine besondere Variante seiner politischen Taktik des tahaluf (temporäre Bündnisse). Er beging sogar das für Islamisten Undenkbare und paktierte – eine besondere Form des tahaluf – mit der südsudanesischen SPLA, kaufte Waffen in Eritrea und schaffte sie auf langwierigen Wegen nach Darfur zur Unterstützung der JEM. Die JEM gerierte sich als kleinere der beiden Darfur-Guerillas daher auch immer als islamistisch und bei Verhandlungen als die unnachgiebigere und „radikalere“ Fraktion, was bald zum Bruch mit der säkularen SLA/SLM führte. Paradoxer Weise sind die Massenmörder der Zentralregierung Khartums inhaltlich also die „gemäßigteren“ Islamisten al-Baschirs, die al-Turabi entmachtet hatten.

Am 9.1.2005 unterzeichnete Khartum nach jahrelangen Verhandlungen ein heute noch gültiges „umfassendes Friedensabkommen“ mit der südsudanesischen SPLA von John Garang, das den jahrzehntelangen Krieg im Süden vorläufig beendete.

Zugeständnisse waren die Integration von Garangs SPLA in eine „Übergangsregierung“ in Khartum sowie ein Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudan im Jahre 2010. Im Gegensatz zu Darfur geht es im Südsudan um durch Probebohrungen bestätigte Ölquellen, für die eine Pipeline über Kenia geplant ist, die in sechs Jahren fertig sein soll. Dann wird eine Sezession des Südsudan via Referendum sehr absehbar, denn John Garang starb am 31.7.2005 durch einen – ungeklärten – Hubschrauberabsturz, zwei Wochen, nachdem er erstmals seit 22 Jahren nach Khartum gekommen war, wo ihn mehr als zwei Millionen Menschen empfangen hatten.

Entgegen Garangs Ambition, Präsident des Gesamt-Sudan zu werden, gibt es einen großen Teil innerhalb der SPLA, der schon immer die Sezession befürwortete und nun, nach dem Tod Garangs, Oberwasser hat. (5)

Mag sich Khartum mit der Perspektive der Sezession des Südens abgefunden haben – Ölfelder gibt es auch im Norden des Sudan mit einer 1999 fertig gestellten Pipeline nach Port Sudan, aus dessen Profiten das Regime Waffenkäufe finanziert -, so ist eine ähnliche Perspektive für den islamischen Darfur aus Gründen der Staatsraison undenkbar.

Prunier stellt nun die m.E. schlüssige These auf, dass die Repression Khartums gegen den Aufstand in Darfur auch deshalb so schnell eskalierte und mit allen verfügbaren Mitteln durchgeführt wurde, weil die Khartumer Regierung Angst hatte, bei einem Frieden mit der SPLA die Zentralmacht teilen zu müssen und für Repressionsfeldzüge gegen die „afrikanischen“ Bevölkerungsgruppen in Darfur eine Art Veto von der in die Regierung integrierten SPLA zu erwarten war. Wie sich nach Regierungsbeitritt der SPLA zeigte, war diese Angst unbegründet, denn auch danach konnte Khartum, unbeeinflusst von der SPLA, seine Feldzüge in Darfur fortsetzen, doch das Motiv, sich zwischen 2003 und 2005 in einem Wettlauf mit der Zeit zu befinden, spielte beim Massenmord wohl eine Rolle.

Die Hauptverantwortung Khartums: Die Heranziehung der Dschandschawid-Milizen

Schon immer hatten Rekruten aus Darfur, auch aufgrund ihrer Tradition als Reiterkrieger, für die Zentral-Armee den Kampf gegen die SPLA im Süden des Sudan geführt, angelockt durch Aufrufe zur Solidarität der Muslime untereinander gegen die „Ungläubigen“ des Südens.

Langsam aber dämmerte es den Darfurer Soldaten in Diensten Khartums, dass sie für die inner-islamische Solidarität verheizt wurden. Prunier berichtet sogar von antimilitaristischen Verweigerungsformen aus früheren Kriegsphasen:

„Im April 1986 kam es auf dem Bahnhof von Nyala zu Unruhen, als sich Wehrpflichtige der Fur weigerten, einen Zug nach Wau zu besteigen. Flugblätter, in denen gefragt wurde: ‚Warum sollen wir gegen unsere Brüder im Süden kämpfen? Gehören wir nicht zusammen?‘ wurden verteilt.“ (S. 82)

In späteren Phasen des Krieges desertierten Darfurer Regierungssoldaten bei ihren Einsätzen im Süden regelmäßig zur SPLA, jedoch um einen Militarismus gegen den anderen zu tauschen. Gleichwohl war die offizielle sudanesische Armee zur Zeit der Krise von 2003 bis 2005 nicht verlässlich. Darfurer Soldaten wurden nun entlassen, die Armee musste in Teilen reorganisiert werden, doch Khartum hatte nicht soviel Zeit. Also ging die Zentralregierung dazu über, die internen Spannungen in Darfur auszunutzen und Milizen aus den „arabischen“ Nomaden im Norden sowie der „Flussaraber“ zu schmieden, die berüchtigten Dschandschawid, die mit „böse Reiter“ übersetzt werden.

„Soziologisch scheinen sich die Dschandschawid hauptsächlich aus sechs unterschiedlichen Gruppierungen zusammenzusetzen: ehemaligen Banditen und Straßenräubern, die seit den 1980er Jahren ‚im Geschäft‘ waren; entlassenen Soldaten aus der regulären Armee; jungen Stammesangehörigen, die mit ihren ‚afrikanischen‘ Nachbarn über Land und Boden stritten, offenbar meist Angehörige kleinerer arabischer Stämme; gewöhnlichen Kriminellen, die begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen wurden, sofern sie sich den Milizen anschlossen; fanatischen Mitgliedern des tadschammu al-arabi sowie jungen arbeitslosen ‚Arabern‘, ähnlich jenen, die sich auf ‚afrikanischer‘ Seite den Rebellen anschlossen.“ (S. 130)

Der Massenmord ging nach folgendem Muster vor sich: „Zuerst kamen Flugzeuge, überflogen ein Dorf, um das Ziel ausfindig zu machen, und kehrten dann zurück, um ihre Bomben abzuwerfen. Die Luftangriffe wurden mit russischen viermotorigen Antonow-An-12-Maschinen geflogen, die eigentlich keine Bomber, sondern Transportmaschinen sind. Sie haben weder einen Bombenschacht noch eine Zielvorrichtung und die ‚Bomben‘ waren alte, mit einer Mischladung aus Explosivstoff und Metallschrott gefüllte Ölfässer. Sie wurden einfach auf dem Boden der Transportmaschinen zur hinteren Laderampe gerollt, die während des Flugs offen blieb, und hinausgestoßen. Es waren also primitive, frei fallende Streubomben, vom militärischen Gesichtspunkt her vollkommen unbrauchbar, da sie nicht gezielt abgeworfen werden konnten, gegen feste zivile Ziele jedoch von verheerender Wirkung. (…) Hatten die Antonows ihren schrecklichen Zweck erfüllt, folgten Kampfhubschrauber und/oder MiG-Kampfbomber und feuerten mit Maschinengewehren und Raketen auf alle größeren Ziele wie Schulen oder Lagerhäuser, die den Angriff bis dahin überstanden hatten. (…) Nach den Luftangriffen erschienen die Dschandschawid, entweder allein oder zusammen mit regulären Armeeeinheiten. Die Milizionäre tauchten auf Pferden und Kamelen auf, häufig in Begleitung weiterer Kämpfer auf Toyota-‚Technicals‘ (Geländewagen mit aufgestelltem MG; d.A.). Sie umstellten das Dorf, und dann gab es verschiedene Optionen. In den ‚harten‘ Fällen riegelten sie den Ort ab, plünderten die Habe der Bewohner, vergewaltigten die Mädchen und Frauen, stahlen die Rinder und töteten die Esel. Danach brannten sie die Häuser nieder und erschossen alle, die nicht weglaufen konnten. Kleine Kinder wurden oft einfach in die brennenden Häuser geworfen. Gingen die Milizionäre ‚sanfter‘ vor, dann schlugen sie die Leute, plünderten, erschossen einige widerspenstige Männer, vergewaltigten die Frauen und fügten ihnen in vielen Fällen Schnittwunden zu oder verunstalteten sie mit einem heißen Eisen, um sie für alle Zeiten als ‚verdorben‘ zu brandmarken. Bei diesen ‚sanften‘ Angriffen wurden die Dorfbewohner außerdem verbal beleidigt, und mit Anspielungen auf deren ‚afrikanische‘ Abstammung rechtfertigten die Dschandschawid ihr Vorgehen gegen die zurqa, die ‚Schwarzen‘, und machten deutlich, dass das Land ‚jetzt den Arabern‘ gehöre.“ (S. 132ff.) Dschandschawid-Kämpfer werden inzwischen mehr und mehr in die reguläre Armee integriert.

In einer Hochrechnung von belegten Beispielen auf ganz Darfur kommt Prunier für den Zeitraum von 2003 bis 2005 auf „280.000 bis 310.000 Opfer“ (S. 195) bei rund zwei Millionen Vertriebenen. In Darfur lebt quasi niemand mehr in seinem/ihren angestammten Zuhause, sondern nur noch in Flüchtlingslagern oder im tschadischen Exil.

Zersplitterung der Guerilla seit 2005

Die Eigendynamiken des Krieges setzten nun die völlig überforderte Guerilla in Darfur so unter Druck, dass der Zustand von 1989, in dem jeder jeden bekämpfte, bald wieder erreicht war. Die JEM torpedierte jeden von der SLA/SLM ausgehandelten Waffenstillstand.

„An Ort und Stelle drückten sich diese Spannungen in Querelen über Taktik und die Aufteilung der militärischen Ausrüstung sowie der Beute aus, was schließlich Anfang November (2004; d.A.) in regelrechte Kämpfe zwischen den beiden Bewegungen (…) mündete.“ (S. 161) „(D)ie Guerillas verloren indes immer mehr die Kontrolle über die eigenen Leute, und prompt tauchten Räuberbanden auf.“ (S. 162) „Drittens waren die Guerillas mit eigenen Vertriebenen überlastet und büßten dadurch an Kampfkraft ein.“ (S. 178)

Typisch für solche kriegsbedingten Eigendynamiken sind Spaltungen, Counter-Strategien und Inszenierungen durch den staatlichen Geheimdienst: (6)

„Khartums Geheimdienst (…) hatte es für angebracht gehalten, eine bei den Zaghawa verankerte ‚Rebellenbewegung‘ zu gründen, die Mouvement National pour la Réforme et le Dévelopment (MNRD), eine weniger fundamentalistische Splittergruppe des JEM. Im Dezember 2004 hatte die MNRD einen separaten Waffenstillstand mit der sudanesischen Regierung geschlossen, der jedoch bereits im Februar 2005 gebrochen wurde, als die sudanesische Armee deren Stützpunkte (…) angriff. Kaum geriet die MNRD unter Feuer, wandte sie sich an Ndjamena (Tschad; d.A.) um Hilfe, was die sudanesische Regierung ihrerseits als Anlass für Vergeltung betrachtete.“ (S. 204)

Auch die SLA spaltete sich. Das hatte mit den zunehmend autoritären Methoden des SLA/SLM-Commandante Minni Minnawi zu tun:

„Die SLA spaltete sich zunehmend in eine Zaghawa-Fraktion unter Führung von Minni und eine ‚sesshafte‘ Fraktion aus Fur und verbündeten sesshaften afrikanischen Stämmen (Tschundur, Bergid, Dajo, Berti) unter der Führung von Abd al-Wahid Mohamed Nur. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die Zaghawa, obwohl ‚Schwarzafrikaner‘, Nomaden sind, weshalb sie im Streit zwischen ‚Arabern‘ und ‚Afrikanern‘ stets eine ambivalente Haltung einnahmen.“ (S. 212, Anm.)

Khartum gelang es, alle gegeneinander auszuspielen und sogar einzelne ‚afrikanische‘ Gruppen auf ihre Seite zu ziehen:

„Am 19. September (2005; d.A.) hatte die von Minni Arkoy Minnawi geführte Fraktion die kleine Stadt Schaeriya in Süddarfur erobert. Drei Tage später wurden sie durch eine gemeinsame Offensive der regulären sudanesischen Armee und einer von der Armee aufgestellten gemischten Missiriya- und Bergid-Miliz wieder vertrieben. Die Missiriya waren ‚Araber‘. Warum aber kämpften die Bergid, ein ‚afrikanischer‘ Stamm, auf der Seite der Regierung? (…) Im Lauf der letzten zwei Jahre hatte Minni die Anwesenheit ‚exilierter‘ Zaghawa bei den Bergid dazu benutzt, seine Kämpfer auf höchst brutale Weise gegen diese einzusetzen. Die Bergid, die die Zaghawa-Flüchtlinge während der Hungersnot von 1984 freundlich aufgenommen hatten, wollten Minnis Schläger, die Steuern eintrieben, ihre Ziegen aufzehrten und ihren Frauen Gewalt antaten, nicht mehr ertragen; sie stellten sich auf die Seite der Armee, um sie loszuwerden.“ (S. 212)

So ist es kein Wunder, dass das für die Darfurer Seite nur von Minni Minnawi unterzeichnete Darfur-Friedensabkommen vom 5. Mai 2006 das Papier nicht wert war, auf dem es geschrieben stand.

Schlimmer noch:

„JEM, MNRD und Abd al-Wahids Fraktion der SLM, die zusammen die Hälfte der Bevölkerung und 80 Prozent der Schwarzen Darfurs vertraten, verweigerten (…) hartnäckig ihre Unterschrift. Auch einigen von Minnis Befehlshabern kamen Zweifel. Die Dschandschawid (die eigentlich entwaffnet werden sollten; d.A.) nahmen ihre Angriffe schon wenige Stunden nach Unterzeichnung des Abkommens wieder auf.“ (S. 233) Und: „Am 3. Juli (2006; d.A.) griffen gemischte Verbände aus Dschandschawid und ehemaligen Guerillas von Minnis SLM, unterstützt von Flugzeugen der regulären sudanesischen Armee, das Dorf Sibi an, das von Befehlshabern der Tundschur gehalten wurde, die dem Darfur-Friedensabkommen kritisch gegenüberstanden.“ (S. 235)

Ohne den Bürgerkrieg wäre der Genozid nicht möglich geworden.

Die Diskussion um westliche Militärintervention

Die sudanesische Zentralregierung ging mit der internationalen Nahrungsmittelhilfe willkürlich um und behinderte Transporte, wo sie nur konnte. Der westliche Industriekapitalismus und seine politischen VertreterInnen haben jedoch keine ökonomischen Interessen in Darfur. Eine japanische Ölfirma besitzt ein vermutetes Ölfeld, aber Probebohrungen haben noch nicht stattgefunden, nichts ist bestätigt.

Als die sudanesische Zentralregierung das Friedensabkommen von 2005 mit der südsudanesischen SPLA unterzeichnete, wurde die sich gleichzeitig abzeichnende Tragödie in Darfur daher von den westlichen Regierungen geflissentlich übersehen. Auch alle sonstigen üblichen internationalen Druckmittel, etwa der Strafgerichtshof in Den Haag, konnten schlecht gegen eine Regierung eingesetzt werden, mit der man gerade einen Frieden ausgehandelt hatte und die als gemäßigte Islamisten galten, die den USA Hilfe beim „Krieg gegen den Terror“ zugesagt hatten. Später wurde das Vorgehen in Darfur zwar von den UN verurteilt, aber das Problem an die „Afrikanische Union“ weitergereicht, die ein paar Beobachtungstrupps schickte. Inzwischen dreht sich die internationale Diskussion um einen massiven militärischen UN-Einsatz, der auch das Mandat zur „Friedenserzwingung“ mit einschließt. Und hier scheiden sich die Geister.

Bei Prunier spitzen sich alle Informationen auf seine Forderung nach einer massiven westlichen Militärintervention zu, die auch von Flüchtlingen in den Flüchtlingslagern bei einer Demonstration gegen Minnawi gefordert worden sei (S. 233). Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch verknüpfen ihre jüngsten Lageberichte ständig mit Aufrufen zur UN-Militärintervention. (7)

Über einen Internetdienst, der alternative und linke Blätter einschließlich Junge Welt, Bonner Friedensinfo, Freitag usw. bedient, gibt der Journalist Thomas Immanuel Steinberg regelmäßig Informationen und Selbsteinschätzungen zu Darfur weiter. (8)

Obwohl ich sein politisches Ziel, eine westliche Militärintervention massiver Art durch wen auch immer zu verhindern, teile, kritisiere ich seine antiimperialistische Argumentationsstruktur, die systematisch dahin tendiert, den Haupttäter, die Zentralregierung in Khartum, in antiimperialistischer Manier zu entlasten. So denunziert er Medienberichte über „vermutlich falsche Zahlenangaben über 300.000 Tote in Darfur“ (9).

Bei diesem Streit um eine Militärintervention spielt auch die juristische Definition darüber, ob es sich um einen „Genozid“ handelt, eine Rolle. Den Menschen dürfte es jedoch egal sein, unter welchem Etikett sie sterben.

Eine Militärintervention würde wohl realistischer Weise ähnliche Ergebnisse wie im Irak oder in Somalia 1992 hervorrufen und über den dann sicher folgenden islamistischen Jihad auch noch den Rest des Sudan in den Krieg hineinziehen. Auf eine Militärintervention kann also verzichtet werden, deswegen darf jedoch nicht das Ausmaß der Verantwortung des Zentralstaats, also der Täter in Khartum, relativiert werden. Das Problem des Sudan sind sein kultureller Rassismus und sein staatlicher Zentralismus. Eine Lösung muss die Kultur im Zentrum des Sudan revolutionieren und gleichzeitig föderalistische und antimilitaristische Konzepte durchsetzen.

Und hier sind wir wieder bei der Vision des Ustad Mahmud Muhammad Taha, seines Föderalismus und seiner Ablehnung des Jihad. (10)

(1) Zuerst in der GWR 132 vom März 1989, später auch in Massenzeitungen gegen den Irak-Krieg, in Broschüren und Vorträgen über gewaltfreie Bewegungen im Islam.

(2) Eine detaillierte und ausführliche Beschreibung dieser Bewegung hat vorgelegt: Annette Oevermann: Die "Republikanischen Brüder" im Sudan. Eine islamische Reformbewegung im Zwanzigsten Jahrhundert. Verlag Peter Lang, Frankfurt/M. 1993.

(3) Gérard Prunier: Darfur. Der "uneindeutige" Genozid. Verlag Hamburger Edition/Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 2007.

(4) Vgl. Oevermann, a.a.O., S. 80f.

(5) Diese Informationen gehen auf Aussagen von Tobias Pflüger zurück. Gespräch des Autors mit T. Pflüger auf der Konferenz der War Resisters International im Sommer 2006.

(6) Ähnlichkeiten mit den Taktiken des COINTELPRO in den USA beim Kampf gegen bewaffnete Organisationen der Schwarzen in den USA oder der ursprünglichen Gründung der Hamas durch den israelischen Geheimdienst springen ins Auge.

(7) Vgl. z.B.: UN: New Offensives in Darfur and Chad Threaten Civilians. Security Council Must React Strongly to Expulsion of UN Envoy. Human Rights Watch/New York, Presseerklärung vom 23.10.2006.

(8) Vgl. www.steinbergrecherche.com/sudan.htm

(9) T.I. Steinberg, 5.12.2006.

(10) Eine Tradition, die Prunier in seinem Buch leider nicht erwähnt. Es wäre interessant zu erfahren, warum? Weil er sie nicht kennt, bewusst verschweigt oder gegenwärtig für zu irrelevant hält, um eine Perspektive darzustellen? Ich selbst habe keine Informationen über die weitere Entwicklung der "Republikanischen Brüder" nach Mahmud Tahas Tod. Eine Internetrecherche ergab, dass die Organisation wie alle Parteien beim Putsch 1989 verboten wurde, danach inaktiv blieb, 2002 nach einem "Political Associations Act" wieder legalisiert wurde, dass eine geplante Kundgebung zum Jahrestag der Ermordnung Mahmud Tahas 2002 jedoch verboten wurde (Quelle: web.amnesty.org/report2003/sdn-summary-eng). Weiter wäre zu klären, ob und welche inhaltlichen Veränderungen die Organisation seit Mahmud Tahas Hinrichtung durchlief. Für Hinweise wäre ich dankbar; S. Macis.