Gibt es für Libertäre eigentlich "Helden" oder "Heldinnen"? Für gewöhnlich lautet meine Antwort "Nein". Aber, wenn ich genau drüber nachdenke, dann gibt es Menschen, deren Engagement ich bewundernswert und vorbildlich finde. Dazu zählt ein guter Freund und Genosse: Osman "Ossi" Murat Ülke.
Ossi hat die ersten 15 Lebensjahre in Deutschland gelebt, ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Dann haben seine Eltern ihn zwangsweise in die Türkei geschickt, wo er ein Internat besuchen musste. Diese „Bildungseinrichtung“ wurde von Islamisten und Rechtsextremen geleitet, Misshandlungen waren an der Tagesordnung und Ossi erlebte die Hölle auf Erden. Aber seinen Willen konnte niemand brechen.
Er politisierte sich, wurde zum gewaltfreien Anarchisten, gründete mit FreundInnen eine Kommune und gewaltfrei-libertäre Zeitungen. Nach mehrjähriger Vorbereitung hatte der Graswurzelrevolutionär 1995 öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung erklärt und seinen Wehrpass verbrannt.
Weil es in der Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, wurde er mehrmals auf Grund von Befehlsverweigerung bzw. Fahnenflucht inhaftiert. Nach seiner Entlassung erhielt er immer wieder die Aufforderung, sich zum „Wehrdienst“ zu melden. Er ließ die Termine verstreichen und nutzte die Verhandlungen vor dem Militärgericht ebenso wie seine Verurteilungen, um die Öffentlichkeit auf den Umgang der türkischen Regierung mit Kriegsdienstverweigerern aufmerksam zu machen. Insgesamt war Ossi 701 Tage inhaftiert.
2006 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die türkische Regierung wegen unverhältnismäßiger Strafverfolgung im Fall Osman Murat Ülke verurteilt (die GWR berichtete).
Nach wie vor folgenlos: der langjährige GWR-Autor und Redakteur der von 2001 bis 2004 erschienenen türkisch-deutschen GWR-Beilage Otkökü (deutsch: „Graswurzel“) gilt noch heute als Deserteur. Jederzeit könnte der inzwischen 36jährige Familienvater verhaftet werden. Er kann keinen Pass beantragen, keine Arbeit annehmen und kein Konto eröffnen, solange er den Kriegsdienst verweigert.
Für Ossi ist es unmöglich, die Türkei zu verlassen. Und das will er auch nicht. Er ist sich seiner Wirkung auf andere und seiner Rolle als „Protagonist“ einer türkischen Graswurzel- und Kriegsdienstverweigererbewegung bewusst. Wer das Glück hat, ihn kennen zu lernen, trifft auf eine beeindruckende Persönlichkeit, die selbst auf politische Feinde eine große Wirkung hat.
Ein Beispiel
1996 teilte er sich eine Gemeinschaftszelle u.a. mit dem „Grauen Wolf“ Mehmet Bal, der wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war. Bal stand Ossi zunächst feindselig gegenüber. Als Ossi dann wegen einer erneuten Verurteilung wieder in die Zelle gebracht wurde, waren Mehmet Bal und die anderen Gefangenen beeindruckt. Sie fingen an, sich mit ihm, mit seinen Positionen, mit gewaltfrei-libertärer Ethik auseinander zu setzen.
Mit der Zeit hat sich Mehmet Bal gewandelt. Im Sommer 2002 wurde er aufgrund einer Amnestie aus der Haft entlassen und erhielt den Marschbefehl zu einer Einheit. Dann hat er den Kriegsdienst verweigert. (1) Er wurde gefoltert, aber trotzdem hat er sich geweigert, ein Gewehr zu tragen und sich den Befehlen des Militärs zu beugen. Mehmet Bal hat sich vom Faschisten zum radikalen Pazifisten gewandelt. Und diese wunderbare Entwicklung wäre ohne Ossi und seinen aufrechten Gang nicht denkbar gewesen.
Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung
Der Kampf für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung kommt in der Militärdemokratur Türkei einem Anrennen gegen Windmühlen gleich. Die Verurteilung des gewaltfrei-anarchistischen Kriegsdienstverweigerers Mehmet Tarhan zu einer vierjährigen Haftstrafe am 10. August 2005 löste in vielen Ländern antimilitaristische Proteste aus (die GWR berichtete). Kaum bekannt ist dagegen, dass seit dem 7. Dezember 2006 der türkische Kriegsdienstverweigerer Halil Savda inhaftiert ist. Derzeit befindet er sich im Arrest in der 8. Panzerbrigade in Tekirdag. Zugleich finden zwei Verfahren wegen „Beharren auf Ungehorsam“ gegen ihn statt. (2)
In der Türkei herrscht ein Kulturkampf. Wer zum Beispiel über die historische Tatsache des osmanischen Völkermords an 1,5 Millionen Armeniern im Jahre 1915 erinnert, riskiert hohe Haftstrafen und sein Leben, selbst wenn er Nobelpreisträger ist und Orhan Pamuk heißt. Nachdem Pamuks Freund, der armenische Intellektuelle Hrant Dink von einem nationalistischen Eiferer ermordet wurde, demonstrierten im Februar 2007 Hunderttausende in Istanbul unter der Parole „Wir sind alle Armenier“.
Das lässt hoffen.
Selbst Massenmedien wie Der Spiegel berichteten über diese zivile Massenbewegung. (3)
Über die Menschenrechtsverletzungen gegen türkische Kriegsdienstverweigerer findet sich in den deutschen Leitmedien dagegen nichts. „Elitemedien“ interessieren sich eben hauptsächlich für Eliten, nicht für Menschen die mit gewaltfreien Methoden einen militärischen Apparat sabotieren.
Um so erfreulicher ist das Signal, das nun von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) ausgeht: „Osman Murat Ülke erhält die Clara-Immerwahr-Auszeichnung 2007, weil er in der Türkei konsequent für sein Recht auf Kriegsdienstverweigerung eintritt und dafür seit Jahren extreme persönliche Nachteile in Kauf nimmt.“
Am 3. März 2007 wird die IPPNW diese Auszeichnung im Rahmen einer Feierstunde im Georges-Casalis-Saal der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin an Ossis Stellvertreter Coskun Üsterci überreichen.
Seit 1991 verleiht die IPPNW die Clara-Immerwahr-Auszeichnung an Menschen, die sich trotz persönlicher Nachteile gegen Krieg, Rüstung und für Menschenrechte einsetzen. Zuletzt wurde Christa Lörcher geehrt, die 2001 als einzige SPD-Abgeordnete gegen den Einsatz deutscher SoldatInnen in Afghanistan stimmte und daraufhin aus der SPD-Fraktion austreten musste.
Benannt ist die Auszeichnung nach der Chemikerin Clara Immerwahr, die sich gegen die Arbeit ihres Ehemannes Fritz Haber stellte, der die Entwicklung und Anwendung von Giftgas im Ersten Weltkrieg vorantrieb.
Wir gratulieren Ossi ganz herzlich zu dieser Auszeichnung.
(1) Vgl.: Jörg Rohwedder: Türkei: Kriegsdienstverweigerer Mehmet Bal wurde im Militärgefängnis gefoltert. Unterstützung erforderlich, in: GWR 274, Dezember 2002, S. 2
(2) siehe dazu: www.Connection-eV.de/Tuerkei/savda.html
(3) Vgl. Der Spiegel 6/2007
Kontakt & Infos
Infos: Sven Hessmann, IPPNW-Pressereferent, Tel.: 030-69807414
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Körtestr. 10, 10967 Berlin, www.ippnw.de
Auf www.graswurzel.net finden sich Artikel von und Interviews mit Osman Murat Ülke. Ein aktuelles Interview mit ihm findet sich in dem Buch:
Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, Seite 182-199. Leseprobe: www.karin-kramer-verlag.de