Nach über drei Jahren unterschiedlicher Proteste gegen die Hartz-Gesetze und über zwei Jahren Praxis von Hartz IV fällt die Widerstandsbilanz sehr mager aus.
Daran ändert auch nichts, dass die Aktionskonferenz in Frankfurt im November letzten Jahres versuchte, als Erfolg zu deklarieren, dass die Verschärfungen von Hartz IV nicht so drastisch ausgefallen sind wie geplant. Im Gegenteil. Eine „Bewegung“, die versucht, ihre Existenz über solche „Erfolge“ nachzuweisen, ist keine. Und eine, die sich was vormacht, auch nicht.
Was keinesfalls heißen sollte, die Bemühungen um den Aufbau einer solchen sozialen Widerstandsbewegung gegen die Verelendungspolitik endgültig aufzugeben und somit praktisch zu kapitulieren! Was hierfür aber fehlt, sind Gegenentwürfe zum bestehenden Zwangssystem, die auf dessen ökonomische Sachzwänge keine Rücksicht nehmen.
Die sozialen Angriffe gegen uns sind drastisch und grundlegend. So lange sie funktionieren, werden sie auch Schritt für Schritt verschärft.
So weit, wie wir es eben zulassen.
Gleichzeitig gibt es viele Kämpfe, wahrscheinlich mehr Kämpfe und Widerstand, als in den letzten zwei Jahrzehnten zuvor.
Es gibt ein ganzes Spektrum individueller Formen, den Imperativen der Arbeitsverwaltung auszuweichen oder sie für den Einzelnen und seine Familie ertragbar, alltagspraktisch lebbar zu machen. Doch jeder kämpft für sich allein, ob als von der Arbeitsagentur schikaniertes Individuum oder als um den Erhalt von Arbeitsplätzen kämpfende Belegschaften. Es mangelt an kollektiven Formen, im Alltag solidarisch Widerstand zu leisten, der über den Reparaturbetrieb des kapitalistischen Elends hinaus weist.
Die These dieses Beitrags lautet, dass diese Isolierung der Proteste und Widerstandsbemühungen eng mit der Wahl der Kampf- und Protestformen zusammenhängt und diese wiederum mit der Art der Forderungen. Hieran muss m.E. angesetzt werden, wenn diese Widerstandsbewegung die jeweilige Isolation aufbrechen will, um erfolgreicher zu werden.
Die angesprochene Aktionskonferenz in Frankfurt im November letzten Jahres widmete sich der Planung von Protestaktionen in diesem Jahr. Ob ein „Bettelmarsch“ oder Hungerstreik – die besprochenen Protestformen spiegeln m.E. unsere Schwäche wider, eine Schwäche, die auf Abhängigkeit, Erpressbarkeit und Unterwürfigkeit basiert.
Dies gilt auch für die kürzlich stattgefundene „Einseif- und Bewerbungsaktion“ bei Kurt Beck oder individuelle Hungerstreiks gegen Hartz IV von bis zu 5 Personen bundesweit. (1)
Es geht mir dabei nicht darum, unsere Abhängigkeit, Erpressbarkeit und Unterwürfigkeit zu leugnen. Im Gegenteil, es scheint mir wichtig, dass wir sie uns ehrlich eingestehen, allerdings nur, um nach Wegen zu suchen, diese zu mildern oder gar zu überwinden. Wenn uns Abhängigkeit, Erpressbarkeit und Unterwürfigkeit behindern und in die gesellschaftliche Isolation treiben, müssen wir versuchen, sie zu überwinden. Dies gilt sowohl für unsere politischen Ziele, als auch die Wege dahin, also unsere Protest- und Kampformen.
Unterwürfigkeit contra Ansprüche und Aneignung
Im Aufruf von Peter Grottian: „Hungerstreik gegen Hartz IV im April 2007 – existenzielle Zumutungen mit existenziellen Protestformen beantworten!“ heißt es „Ein Hungerstreik ist ein existenzieller Notschrei der Verzweiflung, der nur dann legitim und angemessen erscheint, wenn fast alle Artikulations- und Protestformen ausgelotet sind und nichts mehr bleibt, um die menschenrechtlich unzumutbare Not in einer reichen Gesellschaft auszudrücken.“
So ist es.
ABER es ist keinesfalls so, dass „fast alle Artikulations- und Protestformen ausgelotet sind„! (2)
Denn dass alle Hartz-Gesetze mit ihren Grausamkeiten, den Protesten zum Trotz, tagtäglich reibungslos umgesetzt werden, liegt m.E. nicht an einer fehlenden dritten Großdemo, wie einige meinen, oder gar an einem öffentlichkeitswirksamen Hungerstreik, sondern an dem zu schwachen Alltagswiderstand der Betroffenen (samt Unterstützung durch alle potentiell Mitbetroffenen), den ich zum Bereich der Revolte zähle. Wenn also angeblich „fast alle Artikulations- und Protestformen“ erfolglos waren, sollten wir uns fragen, ob wir gegen die Verarmungs- und Entwürdigungspolitik richtig argumentiert und nicht richtig protestiert haben.
Natürlich würde die Zielsetzung des geplanten kollektiven Hungerstreiks, „keine realen Hartz IV-Senkungen zu verfügen und zum 1.1.2008 die Alg II-Sätze auf 500 Euro anzuheben sowie die Repressionen zu reduzieren„, das Leben aller Erwerbslosen erheblich erleichtern. Aber – genauso wenig wie die häufige und verkürzende Kritik „Hartz IV schafft keine Arbeitsplätze“ – ändert es nichts hieran, dass die meisten Erwerbslosen sich die schikanöse Behandlung gefallen lassen und den entrechtenden Ein-Euro-Jobs sogar noch hinterher rennen, da sie auf den Brosamen dieses „Sozialstaates“ angewiesen sind. Es ändert auch nichts daran, dass die meisten Beschäftigten der Arbeitsagenturen und Argen ganz offenbar keine Probleme damit haben, zu schikanieren und zu demütigen. Die berechtigte Kritik daran wird von ver.di sogar (?) vehement abgeblockt. Kurzum: Egal zu welchem Regelsatz, die Hartz-Gesetze werden reibungslos umgesetzt, tagtäglich.
Was mildert und bekämpft diese allseits praktizierte Unterwürfigkeit? Nicht destruktive Aktionen gegen sich selbst und öffentliche Ausstellung unserer Ohnmacht wie im Hungerstreik – ob individuell oder kollektiv.
Nicht unsere Existenz sollte in die Waagschale geworfen werden, sondern die des Systems. Nicht moralische Erpressung, sondern Zorn, Wut und Verweigerung, aber auch Selbstbewusstsein. Ist die wachsende, massenhafte Arbeitslosigkeit doch nur offensichtlicher Ausdruck davon, dass die herrschende Wirtschaftsideologie uns nichts mehr bieten kann und folglich Alternativen überfällig sind. Nicht freiwilliger Hunger also, sondern Champagner für alle, also Anspruchshaltung und Aneignung, wie sie die Überflüssigen z.B. praktizieren. Nicht die Bettelei um Ausbeutung und öffentliche Körperpflege (auch wenn alle Lohnabhängigen tagtäglich schlimmere Demütigungen erdulden), sondern selbstbewusstes Pochen auf bedingungslose Grundrechte und Würde – und zwar unabhängig von der jeweiligen ökonomischen Verwertbarkeit.
Destruktive Aktionen gegen sich selbst sind geradezu dazu angetan, offensive Protestformen zu verhindern. Denn den eigenen Körper in die Waagschale zu werfen, impliziert Resignation, Handlungsunfähigkeit und Lähmung. Offensive, selbstbewusste Aktionen hingegen skandalisieren nicht die Erwerbslosigkeit, sondern die systemimmanente Entwürdigung. Nicht die Folgen, sondern die Ursachen.
Abhängigkeit und Erpressbarkeit contra globale bedingungslose Menschenrechte ohne Lohnabhängigkeit
Der Unterwürfigkeit der Erwerbslosen in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz steht die Unterwürfigkeit der noch „Beschäftigten“ in Angst um den Arbeitsplatz gegenüber. Mit der Faust in der Tasche lassen sich „Beschäftigte“ und ihre Interessenvertretungen zu fast allem erpressen, um dem Schicksal der Erwerbslosen zu entgehen. Und erst wenn alle Standards – die der Belegschaften und darüber auch die der Erwerbslosen – abgesenkt sind und dies vom Kapital zwar gerne mitgenommen wird, aber nichts an den Verlagerungs- oder Schließungsplänen ändert, erst dann wird gekämpft. Aber auch jetzt wieder nicht gegen das Kapital oder den Kapitalismus selbst, sondern für den Erhalt der Arbeitsplätze und gegen konkurrierende Belegschaften. Nicht gegen die erschreckenden und entwürdigenden Lebensbedingungen der Erwerbslosen, sondern dagegen, sie selbst erleben zu müssen.
Abhängigkeit, Erpressbarkeit und Unterwürfigkeit bekämpfen statt ausleben
Wenn Abhängigkeit und Erpressbarkeit uns zur Unterwürfigkeit zwingen, müssen wir die Abhängigkeit und Erpressbarkeit mildern und bekämpfen.
Dabei sollte jedem klar sein, dass unsere Produktivität in Gestalt des fleißigen und fügsamen Arbeitenden gerade der Grund für sinkende Löhne und wachsende Arbeitslosigkeit ist. Es liegt nicht an uns, sondern am herrschenden System, dass steigende Produktivität unausweichlich wachsende Armut erzeugt.
So wie Gewerkschaften eigentlich gegründet wurden, um die Konkurrenz der Lohnabhängigen auf dem Arbeitsmarkt zu minimieren, so müssten sie im gleichen Interesse bestrebt sein, die Erpressbarkeit der (noch?) beschäftigten Lohnabhängigen zu minimieren. Eine dieser Erpressbarkeiten basiert auf der hartnäckigen Legende, Lohnarbeit sei alternativlos als Mittel zur Existenzsicherung. Ausdruck und Folge dieser Legende ist, dass um Lohnarbeit regelrecht gebettelt (und bei Panasonic sogar gehungert) wird, auch wenn sie längst keine Existenz, geschweige eine komfortable, sichern kann.
Während das Kapital den Faktor Arbeit als notwendiges Übel und als einen zu minimierenden Kostenfaktor betrachtet, hatte sich die traditionelle ArbeiterInnenbewegung leider entschieden, anstatt das Grundübel der ausbeutenden, krankmachenden Lohnarbeit zu bekämpfen, aus der Not eine Tugend zu machen. Der Stolz der ArbeiterInnen beruht zu Recht auf dem Wissen, alle lebensnotwendigen Waren zu schaffen. Statt zu einem berechtigten Selbstbewusstsein zu führen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen, wurde aber nicht die Quelle des Stolzes („Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“), sondern das Mittel Arbeit – und zwar auch die lohnabhängige – zum Fetisch erhoben.
Als verhängnisvoll erweist sich dabei, dass viel zu selten zwischen Arbeit, also einem zum Überleben des Menschen notwendigen Tätigsein, und Lohnarbeit, als pervertiertem Sklaventum der Menschen, unterschieden wurde und wird. Eine allen gerecht werdende Gesellschaft würde m.E. die gesellschaftlich notwendige Arbeit als ein eben notwendiges Übel betrachten, unsere überhöht sie zum Selbstzweck.
Die Erpressbarkeit der (noch?) „beschäftigten“ Lohnabhängigen zu minimieren heißt, einerseits fast noch mehr gegen die Hartz-Gesetze zu kämpfen als für die nächste Lohnerhöhung. Die Standards der schwächsten unter den Lohnabhängigen mit allen Mitteln anheben helfen, statt Protzbunker in der Nähe der Regierenden zu bauen. Und es heißt, die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zu unterstützen und nicht zu bekämpfen.
Natürlich ist im Kapitalismus die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen überhaupt nicht durchsetzbar.
Dies liegt nicht nur an den aktuellen Kräfteverhältnissen, die eine reelle Tariferhöhung genauso schwer realisierbar machen wie ein repressionsfreies Grundeinkommen – oder gar die Revolution. Vielmehr kann das Kapital bei Strafe seines Untergangs kein bedingungsloses Grundeinkommen zulassen, da es auf die disziplinierende und kostensenkende Wirkung der Lohnabhängigkeit und der damit verbundenen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt angewiesen ist.
Die sozialpartnerschaftliche Vorstellungen stiftenden Kräfte des Kapitals sind jedoch erschöpft. Jeder soll unter der Prämisse „Eigenverantwortung“ nun wie ein Kapitalist denken und handeln, allerdings ohne am Reichtum der Gesellschaft teil zu haben. Wir sollen alles Soziale beiseite schieben, weil das Kapital seine Lebenslüge vom Sozialstaat nicht mehr aufrechterhalten kann. Genau darin liegt in meinen Augen die systemsprengende Funktion dieser Forderung: die Bedeutung der damit verbundenen Erpressbarkeit der Lohnabhängigen zu verdeutlichen, über den Kapitalismus zu desillusionieren und Alternativen denkbar zu machen. Es liegt ausschließlich am herrschenden Wirtschaftssystem, dass Arbeit Zwangscharakter besitzt. So wie Hartz IV und Kombilöhne für das Kapital ein „Trojanisches Pferd“ für die Akzeptanz „echter“, subventionsfreier Niedriglöhne bedeutet, kann die Forderung nach einem – theoretisch problemlos finanzierbaren – bedingungslosem Grundeinkommen für uns ein „Trojanisches Pferd“ in der „Festung“ neoliberaler Ideologie sein, zur Entwicklung antikapitalistischer Alternativen zur Lohnabhängigkeit. Sie eröffnet den Horizont für Überlegungen, was und wie, wie lange sowie zu welchem Lohn ich gerne arbeiten würde, wenn ich überhaupt den „Luxus“ der Wahl hätte… Sie eröffnet den Horizont für Selbstachtung und Selbstbewusstsein und damit den Weg für ein anderes Handeln bereits heute.
Wer hingegen um Ausbeutung buhlt, wer seine Gesundheit und Würde riskiert, um den Arbeitsplatz zu behalten, wird anschließend kaum gegen Ausbeutung und Lohnabhängigkeit kämpfen. Geschweige eine würdevollere, freiere Gesellschaftsordnung mit aufbauen können.
Wer kritiklos um Ausbeutung buhlt, wird noch nicht mal eine „humanere Ausbeutung“ erreichen.
(1) Siehe dazu den Kommentar "Einseifen und Einseifen lassen. Oder: Die Ästhetik des Job-Widerstands sieht anders aus."
www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/einseifen.html
(2) Zur Debatte des Aufrufs siehe im LabourNet Germany "Hungern gegen Hunger? Debatte um den Hungerstreik als Protestform."
www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/protesthunger.html