"Dritte Wahl spielen Deutschpunk mit deutlichen Metal-Einflüssen und singen sehr direkte, politisch-kämpferische, linksradikale Texte, für die es zu DDR-Zeiten die damals üblichen staatlichen Repressalien gab", so die Online-Enzyklopedie Wikipedia. Ins Leben gerufen wurde die Rostocker Band zu Zeiten des SED-Regimes. 1998 gründete sie ein eigenes Label mit dem Namen Rausch Records, das später in Dritte Wahl Records umbenannt wurde. Heute wollen die Bandmitglieder Gunnar (voc/g), Stefan (voc/bg) und Krel (dr) ihrem politischen Engagement gegen Faschismus und den G8-Gipfel durch ihre Musik Nachdruck verleihen.
Graswurzelrevolution (GWR): Wie fing alles an mit Dritte Wahl?
Gunnar Schröder: Angefangen hat alles, als ich 15 war. Ich bekam eine Gitarre geschenkt und habe dann mit meinem Bruder und einem Schulfreund zusammen beschlossen, eine Band zu gründen.
Dann haben wir mit Akustikgitarren gespielt, mein Bruder hat ein bisschen auf den Tisch getrommelt. Nach und nach haben wir uns Instrumente angeschafft und 1988 das erste Mal gespielt – live – in der Schülerspeisung Evershagen, Rostock. Das war ein mittelschwerer Erfolg. Spielerisch konnte man das noch verbessern, aber die Leute waren schon ganz gut begeistert.
Bis heute haben wir etwa 650 Konzerte gespielt, sind rumgekommen, und es hat sich was getan in der Zeit. Wir werden nächstes Jahr 20! Zwanzig Jahre Dritte Wahl – wer hätte das gedacht?
Ihr geltet als „die TOTEN HOSEN des Ostens“.
Kannst du etwas zu den Ursprüngen der Band sagen, also von welcher Musik ihr beeinflusst wurdet und wie es dazu kam, dass ihr in einer DDR-Stadt wie Rostock eine Punk-Band gegründet habt?
Das mit den TOTEN HOSEN ist gar nicht so verkehrt. Das war nämlich eine der ersten Bands, die ich im West-Radio gehört habe – es lief „Reisefieber“, ein altes Lied von denen. Vorher war ich auf der Metal-Schiene, ein bisschen JUDAS PRIEST gehört und ACDC, was man zu der Zeit halt so machte, lange Haare gehabt und so. – Im Osten mussten alle deutschsprachige Musik machen, 60% musste deutsch sein, am liebsten russisch natürlich, der Rest durfte auch englisch sein, das aber war nicht gern gesehen. Deshalb mochte ich deutsche Musik gar nicht so gerne hören. Dann habe ich die TOTEN HOSEN gehört und gedacht: Mensch, so kann man das auch machen! Da bin ich von denen schon ein bisschen angefixt worden.
Später kriegte ich dann auch Kassetten von SLIME, TON STEINE SCHERBEN und anderen.
Richtig politisch geworden sind wir aber erst nach der Wende. Vorher haben wir uns das gar nicht so richtig getraut, wir waren da ja auch ein bisschen reingeboren. Außerdem war das sowieso schon eine Kamikaze-Aktion, was wir da gemacht haben. Man brauchte ja eine Spielgenehmigung im Osten, musste vor einer Kommission vorspielen und Texte abgeben, und dann kriegte man eine Auftrittsgenehmigung. So was hatten wir natürlich alles nicht. Das führte dann dazu, dass man gar nicht wusste ob man nach einem Konzert nach Hause fährt oder irgendwo erst mal Fragen beantworten muss. Deshalb waren unsere Texte sehr umschrieben, Alltagsgeschichten, auch schon politisch, aber sehr verpackt. Was anderes haben wir uns damals nicht getraut.
Ich weiß von FREYGANG, einer Anarcho-Rockband aus der DDR, die es heute noch gibt, die schon 1980 TON STEINE SCHERBEN-Lieder nachgespielt und dann Auftrittverbot bekommen hat. Die mussten daraufhin jedes Konzert unter einem anderen Namen spielen, damit sie überhaupt auftreten konnten. (1)
Ja, das betraf mehrere Bands, z.B. HERBST IN PEKING war so eine Band, die wurde verboten, weil die von dem rumänischen Diktator Ceausescu Bilder auf der Bühne verbrannt haben. Auch FREYGANG kennen wir gut, wir sind heute noch zusammen unterwegs, spielen zusammen, aber die waren viel früher dabei als wir. 1988, als wir das erste Mal spielten, hatten die schon ganz andere Sorgen. Gegen das SED-Regime hatten schon die Kirchenkreise ganz andere Sachen aufgewühlt als wir kleine Mittelmaßband.
„Fortschritt“, das neue Dritte Wahl-Album, hat einen neuen Stil. Die Stücke sind langsamer.
Es ist eine schwierige Platte gewesen, weil unser Bassist Marko „Busch’n“ Busch am 17. Januar 2005 nach langer, schwerer Krankheit gestorben ist. Dann haben wir uns alle erst mal wieder sammeln müssen.
Deshalb ist die Platte ruhiger geworden, das war zu der Zeit nicht anders möglich.
War von Anfang an klar, dass ihr weitermacht?
Es war relativ schnell klar, dass wir weitermachen. Das war auch in seinem Sinne. Wir haben das vorher besprochen, er war da sehr offen, als er noch krank war. Er sagte: „Mensch, Jungs, wenn das mit mir schief geht, dann macht ihr aber weiter.“ Und das machen wir jetzt auch, wenn schon nicht mit ihm, dann aber wenigstens für ihn.
Schreibst du eure Texte?
Ja, zu 99% sind die von mir, die Musik auch. Eine glückliche Fügung, dass mir ab und zu mal was einfällt.
Euer Name ist ziemlich aussagekräftig. Wie seid ihr darauf gekommen?
Das ist im Suff entstanden. Zuerst haben wir es nur lustig gefunden, aber mit der Zeit kam dann raus, dass das gerade im Osten durchaus ein politischer Name war. Den konnte man sich gut merken, und wir waren dann auch zufrieden. Unsere spielerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten waren damit ganz gut umschrieben, und als Punkrocker im Osten war man nun mal wirklich Dritte Wahl.
Ihr habt m.E. von allen deutschsprachigen Punkbands mit die interessantesten Texte. Wie habt ihr euch politisiert?
Damals erst mal angesteckt von den SCHERBEN, TOXOPLASMA, SLIME, HASS und was man da so gehört hat. Bei diesen Bands habe ich mir gedacht, wenn du später mal so was machen könntest, das wäre schön. Dann kam die Wende und dann konnte man.
Die meisten linksradikalen Bands hatten Auftrittsverbot in der DDR. Eine Ausnahme war Rio Reiser. 1988 hat der ehemalige Scherben-Sänger in der Ostberliner Seelenbinderhalle gespielt. „Keine Macht für Niemand“ durfte er nicht spielen. Bei „Der Traum ist aus“ haben auch die zahlreich anwesenden FDJler mitgesungen, und besonders laut: „Dieses Land ist es nicht!“ (2) So spiegelte das Konzert die Unzufriedenheit mit dem autoritären DDR-Staat. Es war eine Premiere: Anarchistische Staatskritik, die anschließend – mit Abstrichen – vom DDR-Fernsehen gezeigt wurde.
Den Song „Der Traum ist aus“ haben sie damals rausgeschnitten. Ich weiß, dass Rio an zwei Abenden aufgetreten ist, ich hatte für beide Abende keine Karte, konnte ihn also nicht sehen.
Eine Live-Übertragung der Konzerte wäre damals undenkbar gewesen. Die haben alles der Zensur unterworfen und wussten nicht, was er macht. Das betraf sogar Bands wie BAP, die dann plötzlich nicht mehr spielen durften, weil da irgendwie ein Titel zuviel war oder so.
Es gab 1986/87/88/89 schon eine libertäre Szene in der DDR, die zum Beispiel Zeitschriften wie mOAning star und Umweltblätter produziert hat. Auf denen stand „Nur zur innerkirchlichen Information“, damit sie praktisch „halblegal“ unter dem Schutz der Kirche produziert und verbreitet werden konnten. Oder es gab gar keine Verweise auf Urheber, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr, wie beim anarchistischen Untergrundblatt Kopfsprung. (3)
Ich weiß nicht, ob du die kennst?
Ich kenne das nur vom Namen her. Es war damals bestimmt kompliziert. Schließlich gab es keine Kopierer und gar nichts. Ich weiß nicht, wie die das gemacht haben, vielleicht in irgendwelchen Kirchenkreisen.
Ich muss dazu sagen, Rostock war eine sehr provinzielle Stadt, 200 Kilometer bis Berlin, das war zu Ost-Zeiten eine Weltreise. Bei uns war es nicht so, dass Punks zum üblichen Stadtbild gehörten, und ich glaube auch, dass im nachhinein von vielen Leuten einiges übertrieben wird. Wenn ich höre, wer damals alles schon Hasch geraucht hat! Ich hab damals noch gedacht, man wird davon abhängig und liegt in der Gosse. Ich glaube, da wird vieles aufgebauscht.
Aber irgendwann trauten sich auch die Bands mal zu uns. Es gab ein kleines Open-Air, als ich 16 war. Die haben zwei Songs gespielt, dann haben die Bullen das Festival gestürmt. Da war ich sehr beeindruckt. Es fing damals langsam an. Da waren einfach zu viele, die sich für Punk interessierten, man konnte das nicht mehr so einfach unterbuttern.
Das hatten die vorher mit der Rockmusik auch schon probiert. Die haben die Leute aus der Straßenbahn rausgezogen und denen die Haare geschnitten.
Trotzdem haben sie es nicht geschafft. Die Rockmusik oder der Punkrock oder was weiß ich, das bricht sich die Bahn.
„Berühmt“ ist Rostock auch für üble Sachen, ich meine Rostock-Lichtenhagen, Pogrome, die Naziszene sorgt für Aufsehen. Ihr macht Musik genau für die andere Seite, also Antifa-Musik. Kannst du etwas zu der Fascho-Szene in der DDR, aber auch hier im Westen sagen?
In der DDR war das noch gar nicht so getrennt. Ist heute schwer nachvollziehbar, aber alle, die den Staat scheiße fanden, haben sich getroffen, und da war rechts und links eigentlich kein Thema. Ein paar von den Leuten, die sich später als Anführer der rechten Szene darstellten, die kannte ich sogar. Mit denen habe ich früher Bier getrunken. Das kam erst hinterher, dass sich das so aufgespalten hat. Also eine total bescheuerte Entwicklung.
Wenn man aus Rostock kommt, dann wird man natürlich überall gefragt, wie es da zugeht.
Ich muss jetzt mal für meine Stadt in die Bresche springen, in der es eigentlich „normal“ zugeht, auch wenn der „Normalzustand“ ja schon traurig genug ist, aber es ist nicht so, dass das Bild, das 1992 in Lichtenhagen entstanden ist, heute noch auf die Stadt zutrifft. Das Umland ist krass, weil da zum Teil 45% die NPD wählen. Das ist total schlimm, und das kann man auch nicht dadurch entschuldigen, dass die Leute da ziemlich auf alleinigem Posten stehen und dass da nicht viel entsteht, die Jungen alle weg gehen und die Alten alle da bleiben. Ist eine schwierige Kiste.
Zu Lichtenhagen: Als es damals so abging, waren auch viele linke Leute da. Ich war selber zweimal draußen, am ersten Abend noch. Wir haben überlegt, was wir machen können. Es waren auch viele Leute aus Berlin und so da, die sich die Faschos auch gerne mal vorgeknöpft hätten. Ich bin nicht so der große Prügler, ich singe lieber. Aber da war echt nichts zu wollen: ein paar Tausend prügelwütige Idioten, die auch die Bullen verprügelt haben, und ein großer Mob drum herum, der dazu geklatscht hat. Das war eine Pogrom-Nacht, richtig schlimm. Das prägt eine Stadt.
Mölln, Solingen, Hoyerswerda, das sind auch Städte, die man immer mit so etwas in Verbindung bringt, jedenfalls unsere Generation. Aber Rostock ist eigentlich eine linke Bastion in Mecklenburg Vorpommern; Hansa Rostock hat linke Fanclubs.
Wie ist das bei Konzerten? Gibt es da oft Ärger? Kommen da auch mal Nazis vorbei?
Mittlerweile ziehen wir ja ganz gut Leute, und die Nazis sind feige. Die kommen nicht, wenn da so viele Leute sind. Früher hatten wir das mal. Da haben die den Club gestürmt, in dem wir gespielt haben. Draußen vor der Tür stand mein Bulli, auf dem groß „Dritte Wahl“ stand. Die Nazis kamen nicht so richtig rein, wurden auch verprügelt. Ich hatte natürlich auch Angst um mein Auto. An deren Stelle wäre das das erste gewesen, was ich kaputt gemacht hätte. Aber es blieb heil.
Was meinst du, was man machen könnte, um den Rechtsextremismus zu stoppen?
Das ist eine Frage, mit deren Beantwortung man ganze Buchbände füllen könnte.
Ich glaube, das Wichtigste wäre, sich bildungspolitisch Gedanken zu machen, wie man den Kindern schon vermitteln kann, dass Faschismus kein Weg ist. Ich glaube, die Leute, die faschomäßig drauf sind, so zwischen 16 und 25, an denen wird man sich die Zähne ausbeißen dabei, denen das beizubringen.
In der DDR haben sie uns immer wieder eingebläut wie scheiße das „Dritte Reich“ war. Aber irgendwie ist das oft nach hinten losgegangen, wenn man sich anguckt, was im Osten heute los ist.
In euren Texten habt ihr klare Aussagen. Seid ihr auch selber mal aktiv auf Demos?
Wir gehen schon auf Demos, wenn wir das schaffen. Aber meistens sind die am Wochenende, da sitzen wir im Bus. Aber was wir zum Beispiel machen ist Soli-Konzerte geben für Antifa-Gruppen, Geld sammeln. Wir machen auf Samplern mit, jetzt zum Beispiel gegen G8.
Außerdem, denk ich, dass wir mit unseren Songs die Jugend „rekrutieren“, sag ich jetzt mal blöd. Also Kids durch Musik den Weg in eine alternative Richtung aufzeigen und den Älteren, die schon da sind, das Gefühl geben, dass nicht alles so sinnlos ist. Dass da in Rostock bzw. jetzt in Münster jemand sitzt, der die gleichen Gedanken hat wie man selber und man so ein bisschen das Gefühl kriegt: „Mensch, ich bin ja gar nicht so allein mit meiner Meinung hier auf meinem Dorf, wo alle anderen bescheuert sind.“
Der G8-Gipfel, der Anfang Juni in Heiligendamm an der Ostsee stattfinden soll, wird wahrscheinlich das politische Ereignis des Jahres. Es werden bis zu 120.000 linke GegendemonstrantInnen erwartet.
Um Heiligendamm wurde für 15 Millionen Euro ein 2,50 Meter hoher und 13 Kilometer langer Sperrzaun errichtet, inklusive Kameras und Wasserwerfer. So sollen die Regierungschef der sieben mächtigsten Industriestaaten und Russlands ungestört von den Protesten ihre imperialistische Politik gegen 6 Milliarden Menschen organisieren können.
Wie siehst du die Perspektiven des Widerstands?
Die werden versuchen, so wenig wie möglich zuzulassen. Heiligendamm wird eine Insel sein in der Zeit. Die haben auch schon so eine hübsche Umgehungsstraße gekriegt. Ich habe gehört, dass von staatlicher Seite riesige Gelände angemietet wurden, wo die ein Lager bauen wollen, in dem sie die Festgenommenen oder von der Freiheit Beurlaubten unterbringen können. Also, ich glaube, dass man an die G8-Leute nicht rankommen wird.
Die werden uns nicht zu Gesicht bekommen, denke ich.
Spielt ihr auf dem Anti-G8-Gipfel? Macht ihr was zu dem Thema?
Es ist etwas geplant. Die Frage ist nur, ob man da überhaupt eine Genehmigung bekommt, da zu spielen an so einem Wochenende. Es gibt einen Riesen-Event, der Grönemeyer will irgendwas machen, wo U2 spielen und die TOTEN HOSEN, und da sollen dann auch noch andere Aktionen stattfinden. Aber wie gesagt, es ist gar nicht sicher, ob man das überhaupt darf, an dem Wochenende so dicht dran.
Es sollen 16.000 PolizistInnen und die Bundeswehr eingesetzt werden. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es eine Repressionswelle geben wird. In Hamburg und München gab es wegen G8 erste Razzien.
Ich würde mich freuen, wenn ich euch in Rostock oder bei Heiligendamm oder sogar in Heiligendamm live sehen könnte.
In Heiligendamm?!? Ja, das werden wir versuchen, vor dem Kurhaus zu spielen. Der Zaun muss weg!
Bad Kleinen ist eines eurer bekannteren Stücke. Wie bist du darauf gekommen, das zu schreiben?
Das war kurz nachdem sie den Wolfgang Grams 1993 erschossen haben. Es gab eine Menge Hickhack drum herum – Akten verschwunden und keiner wusste genau, was jetzt eigentlich passiert war. Das Thema hat mich bewegt, auch weil der auf dem Bahnhof erschossen wurde, auf dem ich immer umsteigen musste. Bad Kleinen ist bei uns um die Ecke. Deshalb habe ich mich dessen angenommen.
Es wurde ein langer Text draus. Wir haben ein Rap-Stück draus gemacht, weil das sonst gar nicht in ein Liedstück zu pressen war. Ist bis heute noch ein Hit. Wir spielen das Stück jedes Mal, und es war vielleicht auch eines der ersten Rap-Stücke, das im Deutschpunk auftauchte.
Im Zusammenhang mit der ehemaligen RAF gibt es im Augenblick eine Medienkampagne. Insbesondere die Bild-Zeitung hetzt gegen „Die schlimmste Terroristin“ Brigitte Mohnhaupt, gegen Christian Klar und diejenigen, die ihnen Hilfe anbieten. „Klar hat keine Gnade verdient“, so Bild. Nun gibt es Morddrohungen gegen den ehemaligen Bundesinnenminister Gerhard Baum, weil er sich für eine Begnadigung des seit fast 25 Jahren einsitzenden Klar ausspricht, und gegen den Theaterintendanten Claus Peymann, weil er dem ehemaligen RAF-Mitglied einen Praktikumplatz als Bühnentechniker am Berliner Ensemble angeboten hat. Das erinnert an die Hetze der Springerpresse 1968 gegen die Außerparlamentarische Opposition (APO). Damals hat Bild getitelt: „Stoppt Dutschke und seine rote Bande jetzt“. Und der rechte Bild-Leser Bachmann hat Rudi Dutschke daraufhin niedergeschossen.
Wie beurteilst du die aktuelle Medienkampagne und überhaupt die Geschehnisse gerade?
Die Presse freut sich, dass sie mal wieder ein Thema hat, das sie ausschlachten und mit dem sie möglichst plakativ umgehen kann. Ich denke, wenn das nicht so von den Medien ausgeschlachtet worden wäre, wären die beiden jetzt schon frei.
Als aber so ein massiver Druck kam, haben sich die Politiker auch gedacht, den können wir nicht frei lassen, und haben ihm jetzt sein Grußschreiben an die Rosa Luxemburg-Konferenz vorgeworfen, in dem er so einen Hauch von Kapitalismuskritik formuliert, aber noch nicht mal was Spezielles. Er hat eigentlich nur gesagt, dass nicht alles Gold ist, was hier glänzt. Da haben die sich drauf geworfen. Es ist eine Ablenkung von anderen Sachen, die wichtig wären.
Letzten Endes ist das Leben von den beiden eh versaut nach 25 Jahren im Knast. Ich finde, man sollte die rauslassen und in Ruhe lassen vor allem. Ich meine, die Mohnhaupt kommt jetzt raus, wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht in Frieden gelassen. Sobald die die aufgestöbert haben, möchte ich nicht in ihrer Haut stecken. Christian Klar, der hat noch ein bisschen „Bedenkzeit“ bis dahin.
Themenwechsel: Was verstehst du unter Anarchie und Anarchismus? Hältst du eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft für eine Utopie, die umgesetzt werden könnte?
Meine Theoriekenntnisse darüber sind nicht groß, aber das, was ich mir darunter vorstelle, ist, glaube ich, im Moment nicht realisierbar und auch nicht realistisch. Wenn ich durch die Straßen gehe und mir die Leute so angucke, bin ich auch froh, dass ich mit denen keine Anarchie leben muss. Ich glaube, dass es eine schöne Vision ist und man kann auch im kleinen Kreis versuchen, sich anarchistische Strukturen zu erarbeiten, aber je größer die Gruppe ist, desto schwieriger wird das, weil wir alle auch Egoisten und ganz verschieden sind. Ist schwer so was in die Wirklichkeit umzusetzen.
Da habe ich einen Einwand. Der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills hat es 1959 so auf den Punkt gebracht: „Im Namen des Realismus werden die Menschen total verrückt, und genau das, was sie utopisch nennen, ist die Vorbedingung für den Fortbestand der Menschheit. Utopische Maßnahmen sind Maßnahmen, die uns vor dem Atomtod retten; realistische, gesunde, vernünftige, praktische Schritte sind heute die Aktionen der Verrückten und der Dummköpfe.“
(1) FREYGANG wurde 1977 in Ost-Berlin gegründet. Sie war eine der wichtigsten Bands der DDR-Untergrundbewegung (sog. Blueser- oder Kundenszene). 1981 und 1983 erfuhr die libertäre Gruppe den Entzug der Auftrittslizenz durch die DDR-Behörden. Die Wiederzulassung erfolgte 1985. Durch die große Massenwirksamkeit in der Szene, vor allem durch systemkritische, anarchistische Texte, wurde FREYGANG 1986 erneut verboten. Im Sommer 1986 wurde der Sänger Andre Greiner-Pol (AGP) während eines Konzerts von der Polizei mit Stasiunterstützung und Hundestaffel von der Bühne abgeführt und eingesperrt. Ein Strafverfahren wegen obszöner Äußerungen und Belästigung des Publikums, wegen Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen und Störung des sozialistischen Zusammenlebens wurde eingeleitet. Rechtsanwalt Gregor Gysi übernahm die Verteidigung und verhinderte einen längeren Aufenthalt im Knast. Gysi konnte jedoch nicht das nun ausgesprochene Auftrittsverbot auf Lebenszeit des Sängers AGP durch den damaligen Stadtrat für Kultur Dr. CH. Hartenhauer (Originalton Dr. Hartenhauer im BerlinerHaus für Kulturarbeit: "Sie, Herr Greiner-Pol werden die Bühnen unseres Landes nie wieder betreten") verhindern. Die Bandmitglieder traten seitdem in verschiedenen Projekten bzw. unter Pseudonymen (André und die Raketen) auf. Seit 1989 engagiert sich FREYGANG zudem in verschiedenen Projekten in Berlin (Besetzung des Eimers, Deutschland halt's Maul u.a.). Siehe www.freygangband.de/ und Andre Greiner-Pol Buch: Wie die Scherben in den Osten kamen, Artikel in: Wolfgang Seidel (Hrsg.), Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben. Ventil Verlag, Mainz 2005, S. 51 ff.
(2) Siehe/höre: CD und Beiheft Rio Reiser live in der Seelenbinder-Halle Berlin/DDR 1988, Möbius Records 1999, www.rioarchiv.de
(3) Siehe dazu: Libertäre Presse in der DDR, in: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, S. 96-149
Anmerkungen
Der erste Teil dieses GWR-Interviews wurde im Rahmen einer Dritte Wahl-Extrasendung im Medienforum Münster aufgezeichnet und als Radiosendung im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz) gesendet. Redaktionelle Überarbeitung und Transkription: Lotta, Bernd Drücke
Kontakt
Dritte Wahl
PF 103114
D-18055 Rostock
www.dritte-wahl.de
Discographie
Fasching in Bonn, LP/CD 1992 (Amöbenklang)
Auge um Auge, LP/CD 1994 (Amöbenklang)
Schaum auf der Ostsee, EP/MCD 1995 (Impact Records / SPV)
Nimm drei, DLP/CD 1996 (Amöbenklang)
1996 (live), VHS 1996 (Dritte Wahl Records)
Hallo Erde, EP 1998 (Rausch Records)
Strahlen, LP/CD 1998 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Delikat, LP/CD 1999 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Kollektiv Hein Butt / Heimspiel, MCD 2000 (Rausch Records)
Und jetzt?, EP/MCD 2001 (Rausch Records)
Halt mich fest, LP/CD 2001 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Roggen Roll (live-I), DLP/CD/VHS 2002 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Meer Roggen Roll (live-II), CD 2003 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Die sonderbare Tape CD, CD 2003 (Dritte Wahl Records)
Tooth for tooth, LP/CD 2004 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Fortschritt, LP/CD 2006 (Dritte Wahl Records / Soulfood)
Dreilive, DVD 2006 (Dritte Wahl Records / Soulfood)