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Ein starkes Buch, das wütend macht

Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand

| Rüdiger Haude

Freundeskreis Paul Wulf (Hrsg.): Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2007, 202 S., 14,90 Euro

Ein Ende der Beschäftigung mit den nationalsozialistischen, deutschen Menschheitsverbrechen steht schon deshalb nicht auf der Tagesordnung, weil es in vieler Hinsicht mit dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes gar keine Zäsur gab.

Die Eliten blieben weithin in ihren bequemen Chefsesseln (oder besetzten alsbald neue), mochte auch noch so viel Blut an ihren Fingern kleben.

Noch schlimmer aber ist, dass die Verbrechen selbst teilweise ohne Atempause weitergingen.

Dies war vor allem im Bereich der Psychiatrie der Fall.

Das hier zu besprechende Buch zeigt diesen Sachverhalt anhand von zwei individuellen „Fällen“ auf. Paul Wulf (1921-1999) und Paul Brune (geb. 1935) kommen in dem Band selbst zu Wort, und flankierend wird ihr Leben, ihr Leiden und ihr Kämpfen von FreundInnen und von HistorikerInnen dargestellt und analysiert.

Durch diese Herangehensweise ist eine sehr dichte, teilweise unheimlich beklemmende Beschreibung der biologistischen und ökonomistischen Menschenverachtung entstanden, die im „tausendjährigen Reich“ in entgrenzten (und zugleich beängstigend rationalisierten) Exzessen explodierte, die Jahrzehnte danach (und davor) aber ebenso prägte.

Gleichzeitig ist zu lernen, wie auch der totale Zugriff auf eine Person nicht total ist, sondern Chancen auf ein Entkommen bestehen bleiben. Menschlichkeit kann sich auch dort noch zeigen, wo das Menschsein am radikalsten negiert und verweigert wurde.

Paul Wulf wurde 1938, nachdem er bereits zehn Jahre in verschiedenen Heimen aufgewachsen war, von einem „Erbgesundheitsgericht“ für „schwachsinnig“ erklärt und daraufhin zwangssterilisiert.

Dieses Schicksal teilten hunderttausende von Deutschen im „Dritten Reich“, aber Wulf gehört zu den ganz wenigen, die später Scham und fortdauernde Stigmatisierung überwanden, auf ihr Schicksal aufmerksam machten und eine Entschädigung forderten.

Er entwickelte sich auch zu einem lebenslangen politischen Agitator, der vor allem mit selbst hergestellten Ausstellungstafeln zur nationalsozialistischen Ideologie im Allgemeinen und zur Vernichtungspolitik im Besonderen hervortrat. Diese Tafeln werden im besprochenen Band relativ ausführlich dokumentiert; doch leiden die Reproduktionen unter der starken Verkleinerung.

Ferner werden auch einige lyrische und prosaische Texte aus der Feder Wulfs dokumentiert.

Man muss das starke Pathos dieser Schriftzeugnisse nicht lieben, um die Leistung zu bewundern, mit der Wulf sich aus der Stigmatisierung als „Schwachsinniger“ gegen heftigste Widerstände staatlicher Arroganz herausgearbeitet hat.

Wulf musste 30 Jahre gegen die deutsche Bürokratie kämpfen, bis ihm 1979 eine „Erwerbsunfähigkeitsrente“ gewährt wurde. 1991 verlieh man ihm für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz, das er bei der Entgegennahme als „Karnevalsorden“ würdigte (131).

Paul Brunes Heimkarriere begann 1936, als er erst ein Jahr alt war. Seine Schilderungen von den Folterungen, denen die Kinder im „St.-Johannes-Stift“ im sauerländischen Marsberg bei den „Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vincenz von Paul“ ausgesetzt waren, sind schwer zu ertragen. (In derselben Anstalt hatte auch Wulf gelitten.)

Die systematische Verhinderung von körperlicher Bewegung und von sprachlicher Kommunikation zwischen den Insassen war hier der Alltag, so dass bei vielen Kindern Sprachvermögen und Beinmuskulatur verkümmerten. Das Kapitalverbrechen des „Schwätzens“ wurde mit schweren körperlichen Misshandlungen durch die barmherzigen Schwestern geahndet, wobei die anderen Kinder durch Denunziation sowie durch Festhalten des Delinquenten assistieren mussten. Andere Aspekte des Strafsystems umfassten den Entzug des Essens, den Zwang, Erbrochenes erneut zu verzehren, kalte Bäder, oder wochenlanges nächtliches Tragen einer Zwangsjacke, wenn ein Junge beim Onanieren erwischt worden war.

Der „Schulunterricht“ bestand fast ausschließlich aus Gebeten, weil Wissen nach Ansicht der Schwestern schädlich für die Insassen sei.

An diesem „pädagogischen“ System ging der politische Systemwechsel von 1945 spurlos vorüber.

Die beschriebenen Missstände wurden noch Anfang der 70er Jahre im „St.-Johannes-Stift“ vorgefunden. Brune hat diese konkrete Hölle von 1943 bis 1950 durchgemacht.

Es erstaunt (ähnlich wie bei Paul Wulf) nicht nur, dass er es schaffte, sich autodidaktisch ein beträchtliches Maß an Bildung zuzulegen, sondern erst recht, dass er es nach der sadistischen Erziehung zu „entmenschten Kreaturen“ (63), die nicht imstande waren, das Wort „wir“ zu denken (94, 96f), zu einer vorbildlichen ethischen Haltung brachte. Die ermöglicht es ihm sogar noch, seine Peinigerinnen ihrerseits als Opfer zu sehen, wenn er erwägt, dass sie die beträchtlichen staatlichen Geldmittel, die für ihre Tätigkeit flossen, wohl nie gesehen haben.

„Hätten die Nonnen“, schreibt Brune, „wenigstens ein Taschengeld bekommen, hätten sie sich vielleicht ein wenig anders zu den Kindern verhalten, zumal sie total überfordert waren“ (85).

Stattdessen wurden sie geistig zugerüstet durch Moraltheologen wie Joseph Mayer, der bereits 1926 geradezu besessen war von der Idee der Zwangssterilisierung „minderwertiger“ Menschen und im biblischen Mose den „ältesten Rassehygieniker“ feierte (78-84) – sicherlich selbst eher ein Fall für den Psychiater als viele seiner Opfer. Aber noch heute kann man im „Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon“ (BBKL) über Mayer lesen, die „Schwäche und Unverantwortlichkeit“ seiner ansonsten „ungeheuer materialreichen wissenschaftlichen Arbeit“ liege allein darin, dass er den Begriff „geisteskrank“ nicht definiert habe. Mayer: „Die schlechte Erbmasse ist dem unfruchtbar machenden Messer auszuliefern.“ So etwas gilt dem BBKL im Jahre 2004 als „wissenschaftlich“. Brune kommentiert hingegen unerbittlich subjektiv: „Für uns Kinder hatte dieses dreckige Gesudel verhängnisvolle Folgen“ (83). Und diese subjektive Perspektive, die Zeitzeugenschaft der beiden exemplarischen Opfer Wulf und Brune, stellt den größten Vorzug des besprochenen Bandes dar – und macht ihn zugleich schwer verdaulich für Zartbesaitete.

Das trifft auch auf die Biographie der beiden zu, nachdem sie dem Anstaltssystem entronnen waren.

Das Netz von Ausweglosigkeiten, das in ihrer Kindheit gesponnen worden war, wirkt noch bei der Lektüre beängstigend: Insassen, denen Schulbildung verweigert wurde, wird später aufgrund fehlender Schulbildung „Debilität“ diagnostiziert (31). Wer für sein Recht kämpft, wird als „Querulant“ pathologisiert (30f, 73). Gerechte Empörung wird von psychiatrischen Gutachtern als somatisches Problem denunziert („vasomotorische Erregbarkeit“, 32). Anträge auf Rehabilitierung werden in der jungen Bundesrepublik von Bürokraten beschieden, die einige Jahre zuvor als fanatische Nazis an den Psychiatrieverbrechen des „Dritten Reichs“ maßgeblich beteiligt waren – es ist wie im Horrorfilm, aber es handelt sich um historische Wirklichkeit.

Im nationalsozialistischen Deutschland wurden PsychiatriepatientInnen nicht nur systematisch ermordet oder zuweilen von sadistischem Anstaltspersonal zu Tode gequält – gegen Kriegsende (und darüber hinaus) kam es auch in größerem Umfang zu einem „Hungersterben“. Die Versorgung der Kranken wurde nämlich auf der Grundlage „rassenhygienischer und rüstungsökonomischer Kosten-Nutzen-Rechnungen“ (42) kalkuliert.

Wir können uns einfach nicht in selbstgerechter Empörung über diese vergangenen Jahrzehnte zurücklehnen, solange wir es zulassen, dass z.B. aus unseren Steuergeldern am Kieler Institut für Weltwirtschaft eine Studie finanziert wird, welche die Allokation von AIDS-Hilfsmitteln an den Wohlstand der Betroffenen koppelt, mit der unverhohlenen Begründung, dass Menschen, die reicher seien, einen höheren „Lebenswert“ hätten. (1) Vom logischen Zielpunkt solchen Denkens handelt der besprochene Band.

Dieses Denken selbst ist in der Gegenwart leider sehr lebendig. Das fügt der Wut, die die Lektüre des Buches hinterlässt, eine höchst aktuelle Dimension hinzu. Nichts spricht dagegen, dem Beispiel Paul Brunes und Paul Wulfs zu folgen und diese Wut in politisches Engagement zu verwandeln, bevor die Technokraten der Selektion ihre nächste Chance erhalten.

(1) Vgl.: Zahlungsbereitschaft, Artikel von Rüdiger Haude, in: GWR 313, November 2006, S. 1, www.graswurzel.net/313/aids.shtml