Es ist ein wunderbares Leseerlebnis, in die Diskussionen der anarchosyndikalistischen Frauenbünde in den 1920er Jahren einzutauchen. Ein Dank an den Herausgeber Siegbert Wolf, dies mit einer Zusammenstellung von Originalartikeln ermöglicht zu haben: aus dem von Milly Witkop (1877-1955) geprägten Der Frauen-Bund, der offiziellen Zeitung des Syndikalistischen Frauenbunds, die zwischen 1921 und 1930 im anarchosyndikalistischen Blatt Der Syndikalist als Beilage erschien; aus der in Dresden von Aimée Köster von 1919 bis 1925 herausgegebenen Monatszeitung Die Schaffende Frau; und mit einzelnen Artikeln aus der von 1921 bis 1923 in Düsseldorf erscheinenden anarchistischen Tageszeitung Die Schöpfung.
Die Artikel sind thematisch geordnet und geben einen guten Überblick auf die Diskussionen der Frauenbünde. Beeindruckend sind Kampfgeist und Optimismus der libertären Frauen, die sich vor allem darum bemühten, Hausfrauen, Ehefrauen und Mütter aus anarchosyndikalistischen Familien, in denen in der Regel der Mann in der Industrie arbeitete, zu bilden, zu organisieren und mit ihnen die Diskussionen der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAUD zu beeinflussen. Dabei mussten immense Hindernisse überwunden werden.
Immer wieder wird der Unwille der männlichen Genossen beklagt, bei Kindererziehung und Hausarbeit mitzuhelfen, um der Frau Zeit für geistige Weiterbildung und die Treffen der Frauenbünde zu ermöglichen. Oft sabotierten die Männer aktiv eine Beteiligung und Organisierung ihrer Frauen. Letztlich führte das zum Scheitern der Frauenbünde und zur Einstellung ihrer Publikationen, als 1930 lediglich noch vier Prozent aller FAUD-Mitglieder Frauen waren (S. 16). Dabei bezeugen die Texte das ungeheure ethisch-revolutionäre Potential der anarchosyndikalistischen Frauen. Immer wieder wird auf die Erfahrung des Ersten Weltkrieges verwiesen und auf den Willen, nicht weiter unüberlegt Kinder als Kanonenfutter für die Militärs bereitzustellen. Antimilitaristische Erziehung, Bekenntnisse zur Gewaltlosigkeit, Aufklärung über Verhütungsmethoden und Aktionspropaganda bis hin zum Gebärstreik waren unmittelbar miteinander verbunden.
Meine Lieblingsartikel sind die mit den unerwarteten Überraschungen. Martha Steinitz (1889-1966) schrieb schon 1924 eine begeisternde gewaltfrei-libertäre Gandhi-Interpretation, in der sie Gandhis Kampf für die Frauenbefreiung mittels seines Widerstands gegen die Kinderheirat, die ausschließlich Mädchen betraf und bereits Mitte der zwanziger Jahre im Vergleich zum 19. Jahrhundert deutlich zurückgedrängt werden konnte, hervorhebt (S. 139ff.). Schön finde ich auch, dass Milly Witkop trotz ihrer antiklerikalen Entschlossenheit zu Differenzierung und einem sensiblen Lob für das Urchristentum fähig war, „in der man in der Frau den Menschen suchte“ (S. 61). Unerwartet und beeindruckend ist des Weiteren Auguste Kirchhoffs (1967-1940) Artikel über Antisemitismus von 1924, der Stück für Stück die gängigen Vorurteile gegen Juden zerpflückt. Und lustig zu lesen schließlich Aimée Kösters Schilderung eines Einküchenhauses mitsamt der Herausbildung einer Hausmutter, die für Nachbarn, das Stockwerk oder das ganze Haus mitkochte – eine Erscheinung des Kollektivismus, entstanden aus praktischer proletarischer Notwendigkeit, die damals nicht selten war (S. 254ff.).
Manchmal wundere ich mich über den Fortschritts- und Technikoptimismus bei Köster und Witkop, die geneigt waren, technische Lösungen anstatt männlicher Verhaltensveränderung zu akzeptieren und von Staubsaugern, Waschmaschinen, Einbauküchen oder der US-amerikanischen Hausfrau – die das alles damals schon hatte – Frauenbefreiung zu erwarten.
Die fünfziger Jahre sollten das widerlegen. Dieser Fortschrittsglaube führte zu problematischen Gesundheitsideologien und abgedruckten Artikeln wie dem von Margaret Sanger, die u.a. Sterilisation für Mütter fordert, deren „schon geborene Kinder minderwertig sind“ (S. 203). Sprache ist verräterisch.
Dabei war Fortschritts- und Industrialismuskritik in der Jugendbewegung und lebensreformerischen Gruppen am Rande der FAUD durchaus bekannt.
Und auch Martha Steinitz setzt in ihrem Gandhi-Artikel einen Kontrapunkt: „Ein freies Indien, so glaubt er (Gandhi) inbrünstig, wird auch die Welt befreien von jenen beiden europäischen Giften: dem Industrialismus und dem Militarismus“ (S. 140). Dazu ist es leider nicht gekommen.
Milly Witkop, Hertha Barwich, Aimée Köster u.a.: Der Syndikalistische Frauenbund, hg. von Siegbert Wolf, Unrast-Verlag, Münster 2007, 276 S., 16 Euro, ISBN 978-3-89771-915-6