Muss man Bakunin oder Goldman gelesen haben, um Anarchist zu sein? Nicht unbedingt. Andererseits wäre es aber auch nicht schlecht, wenn man ein bisschen was von der Weltanschauung wüsste, die man vertritt… Aber - wer will schon den ganzen langatmigen Proudhon durchackern, um dessen gedankliche Perlen zu entdecken? Hier hilft nur eins: eine Anthologie. Aber eine gescheite.
In den wilden Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts zählte der Diebstahl von Büchern zu den angesagtesten Freizeitvergnügungen in der Anarchoszene. Geklaut wurde mit Inbrunst und nahezu sportlichem Ehrgeiz. Natürlich nur Literatur aus „bürgerlichen Verlagen“, und zwar mit dem stolzen Bewusstsein, ein antikapitalistischer Expropriateur zu sein.
Auf der Frankfurter Buchmesse gab es sogar eine Art inoffizielles Ranking um den Platz des meistgeklauten Buches der Saison. Im Jahre 1970 stand auf Platz 1 unangefochten ein schlicht aufgemachter Paperback-Wälzer mit dem Titel „Anarchismus. Theorie, Utopie, Kritik“, herausgegeben von Achim v. Borries und Ingeborg Brandies, verlegt bei Melzer.
Das war zu einer Zeit, als die gesamte lieferbare anarchistische Literatur deutscher Zunge noch bequem in einen Bananenkarton passte, und kurz bevor die ganz großen Verlage wie Rowohlt, Fischer, Suhrkamp oder Ullstein das Thema Anarchismus entdeckten – und in großem Stil zu vermarkten begannen.
Seinerzeit also ein mutiger verlegerischer Schritt, denn Melzer war erstens kein wirklich großer Verlag, und zweitens handelte es sich bei dem Buch um eine Anthologie. Um eine Sammlung von Originaltexten also, und nicht um eine jener kurzweiligen, gefällig geschriebenen Pamphlete, die sich damals gut verkauften. Anthologie – das erinnert irgendwie an Schulbuchtextesammlung und verstaubt nur allzu oft irgendwo ganz unten im Buchladenregal.
Nicht jedoch dieser Titel. Ich kenne zwar keine Verkaufszahlen, weiß aber, dass dieses Buch damals bei fast allen Anarchas und Anarchos im Regal stand. Stehen musste. Denn für viele von uns waren es die ersten Originaltexte überhaupt, die wir von denjenigen Leuten lesen konnten, deren Namen wir ständig im Mund führten. Eine Art politischer Initiation.
Zeitlose Weisheit, gut sortiert
Inzwischen aber füllt auch die deutschsprachige Anarcholiteratur ganze Bibliotheken. Warum also eine Neuauflage dieses Buches nach 37 Jahren?
Die Antwort ist einfach: weil es eine gute Anthologie ist. Warum? Weil eine kluge Auswahl der Texte getroffen wurde: Weder einseitig noch verwirrend, nicht beschönigend und auch nicht tendenziös. Und vor allem nicht ausufernd. 332 Seiten, unterteilt in kleine Lesehäppchen, das ist ein Menü, das einen weder überfordert noch überfüttert.
Ich möchte fast behaupten, dass jemand, der sich als Anarchist fühlt aber nicht sonderlich an Theorie und Geschichte interessiert ist, in seinem ganzen Leben nichts weiter als dieses Buch zu lesen bräuchte, um sich einen guten Überblick über die Ideen der anarchistischen Klassiker zu verschaffen und einen treffenden Eindruck von den libertären Ideenwelten jener Epochen zu gewinnen. Zumal das Buch auf weiteren 90 Seiten mit den klug geschriebenen Kommentaren auch den historischen Kontext jedes abgedruckten Textes samt der Biographie seines Autors gleich mitliefert.
Ein großer Vorzug dieses Buches ist zudem, dass es sich nicht auf die großen Säulenheiligen des Anarchismus beschränkt und auch Autoren wie Gaston Leval, Herbert Read und Paul Goodman berücksichtigt, die nie den Status von anarchistischen Ikonen erlangten, deren (damals z. T. sehr moderne) Thesen aber auch heute noch Bestand haben. Andererseits zeigen die Herausgeber auch keine Scheu, einen berühmten Literaten wie George Orwell zu integrieren oder einen damals sehr umstrittenen libertärten Zeitzeugen wie Augustin Souchy ausführlich zu Wort kommen zu lassen, der seinerzeit von vielen edelradikalen Anarchopuristen schlicht als Reformist gebrandmarkt wurde.
Wie wohltuend, dessen realistische Einschätzungen und sachliche Statements im Abstand von vier Jahrzehnten zu lesen und festzustellen, dass er zwar nicht in Allem, aber eben doch in Vielem, ganz einfach Recht hatte – und bis heute behalten hat.
Auch die ausführliche Würdigung des unorthodoxen Denkers Gustav Landauer oder die ernüchternde Analyse „Warum die Revolution fehlschlug“ aus der Feder Volines zeigen, dass es Achim v. Borries und Ingeborg Brandies (inzwischen Weber-Brandies) bei der Textauswahl nicht um anarchistisches Apologetentum ging, sondern um eine Sachlichkeit, die in wohltuender Weise auch die große Bandbreite anarchistischen Denkens samt ihrer Widersprüche reflektiert.
Einzig den Aspekt der „Kritik“, den der Titel zu versprechen scheint, wird man in diesem Buch vergeblich suchen. Denn offenbar ist damit nicht die Kritik am Anarchismus gemeint, sondern die Kritik des Anarchismus an der Gesellschaft und ihren jeweiligen Zuständen.
Hier müsste dann zu anderer Literatur gegriffen werden. Dieses Buch beschränkt sich nun einmal darauf, eine Anthologie zu sein, die die Wertung ihren Leserinnen und Lesern überlässt.
Konstruktiver Anarchismus
Dem Herausgeberduo erschien es, wie sie im aktuellen Vorwort betonen, damals wie heute wichtig, „eine Textsammlung vorzulegen, die (…) eine differenzierte Urteilsbildung über die geschichtliche Entwicklung, die verschiedenen Richtungen und, nicht zuletzt, die von der Polemik meist unterschlagenen konstruktiven Tendenzen des Anarchismus“ erlaubt. Dies ist ihnen zweifellos gelungen – und besonders angesichts der Tatsache, dass der Anarchismus nach wie vor als destruktives Ideenmonstrum diffamiert wird, ein großer Verdienst dieses sorgfältig edierten Werkes.
Nachdem die von Erwin Oberländer herausgegebene Textsammlung „Der Anarchismus“ (Band 4 der in der Schweiz verlegten Reihe „Dokumente der Weltrevolution“) seit langem vergriffen ist, dürfte „Anarchismus – Theorie, Kritik, Utopie“ die beste deutschsprachige Anarchismus-Anthologie sein, die es heute gibt.
Achim von Borries/Ingeborg Weber-Brandies (Hg.): Anarchismus - Theorie · Kritik · Utopie, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2007, 425 S., 22.80 Euro, ISBN 978-3-939045-00-7