Erinnern hat viele Funktionen. Darunter auch viele Missbräuche. Die wichtigste Aufgabe heißt: zu lernen. Der verbreitetste Missbrauch lautet: borniert zu instrumentalisieren.
In einer auffälligen Variante ist letzteres in Sachen der selbst ernannten Rote Armee Fraktion (RAF), ihren im Jahre 1977 höhepunktigen Taten und den Taten und Reaktionen der staatlich herrschenden Fraktionen der Bundesrepublik und ihres publizistisch legitimatorischen Umhofs der Fall. Das Erinnern eine Generation später dominieren heute nahezu exklusiv herrschaftspublizistische und publizistisch-herrschende Varianten. Sie schäumen darum besonders auf. Die alles in allem kleinen Gruppen, die in den Umkreis der tatsächlich ein historisches Ereignis darstellenden RAF gehörten, sind entweder tot, noch in Haft, ihre Leben lang geschädigt und/oder in irgendeiner Nische unauffällig abgetaucht. Recht besehen wäre die Zeit längst überfällig, sich der RAF als einem Symptom der BRD der siebziger Jahre und ihrer Vorgeschichte seit 1945 quellennah und empathisch mit der ‚Hebelkraft des Miterlebens‘ anzunehmen.
Damit alle beteiligt Nachlebenden oder auf deren Schultern Stehenden lernten. Vor allem wie man durch eigenes Tun und Lassen Gewalt und Hetze mit durchgehend schlimmen Folgen hinfort vermeiden könne.
Nichts dergleichen ist zu erspähen. Die Einstimmung ins Geschehen der verweigerten Erinnerung gab die Debatte um die etwas vorzeitige Begnadigung lange inhaftierter Mitglieder der RAF wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Die biedermeierlich aufgeregte Debatte hat sich nach dem bundespräsidialen Farcenende rasch gelegt (von dem, was „Gnade“ gerade auch für die Gnade ‚Gebenden‘ bedeutet, durchgehend keine ahnende Spur).
Vergebens waren von der krokodilstränenkundigen sogenannten Politik und ihrer Öffentlichkeit das Herz pralinensymbolisch ergreifende schamlose Schambekundungen der noch Inhaftierten verlangt worden.
Die BRD ist darin bekanntlich seit den 70iger Jahren in Sachen NS-Vergangenheit eine Meisterin in Deutschland.
Seitdem aber herrschen die seriösen Vorgaben der FAZ, des SPIEGEL und anderer meinungsschreierischer Organe vor, sekundiert von angeblich wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sie noch letztes Jahr, lexikondick, zweibändig von Wolfgang Kraushaar unter dem sprechenden Titel „Die RAF und der linke Terrorismus“ in der „Hamburger Edition“ herausgegeben worden sind.
Das, was sich um die RAF scharte, mehr klammerte, waren, wie Georg Paul Hefty von der FAZ leitartikelnd weiß, „revolutionäre Triebtäter und ihre Helfershelfer“. „Obsessionshistorisch“ orakelt anthropologisch grundelend Jan Philip Reemtsma. Verallgemeinernd behauptet er (und schlägt damit mehrere Fliegen auf einmal): „man versteht nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewaltlockung erkennt, die in der Idee eines nicht entfremdeten, authentischen Lebens liegt“ (in: Kraushaar u.a.: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, 2005; ähnlich im zweibändigen Werk, das die RAF vornehmlich aus der RAF und ihrer „autistischen“ „Selbstkonstruktion des Ich“ verklärt). „Den Extremismus“, so trieft folgerichtig SPIEGEL-profitlich Stefan Aust in einem FAZ-Gespräch, der den nun verfilmten „Klassiker“ zum Thema geschrieben haben soll („Der Baader-Meinhof-Komplex“, gänzlich ohne Belegboden), „den Extremismus muss man schon in der Persönlichkeitsstruktur haben, um auf diesem Weg der RAF voranzugehen“ (Wer die RAF verstehen will, muss ‚Moby Dick‘ lesen, in: FAZ vom 22.8.2007). So konvergiert sein Urteil mit dem Heftys. „Es war ein zentraler Angriff auf das moralische und sicherheitspolitische Selbstbewusstsein dieses Landes.“
Seltsam, wenn es doch nur eine kleine Gruppe geborener Extremisten gewesen ist. Aust fährt fort: „Vermutlich hätte der Staat gar nicht anders handeln können, als er in dieser Zeit gehandelt hat – von ein paar Ungeschicklichkeiten (heute allgemein „Kollateralschäden“ genannt, WDN) einmal abgesehen.“ Hefty schlägt darob kräftig auf die erbärmlich schmale Staatsschulter: „Es gehört zum immer noch nicht ausgerotteten Mythos, dass die RAF den Rechtsstaat in Gefahr gebracht habe. Das Gegenteil trifft zu. Die Bundesrepublik hat damals an Statur gewonnen.“
Allgemein gilt: Indem historisch gespielt wird, wird eine selbstredend immer nur unter gegenwärtiger Perspektive mögliche geschichtliche Betrachtung verweigert.
So es ihr mit dem Ranke gesprochen darum zu tun sein sollte, „wie es eigentlich gewesen“ ist, dann bedeutete das, darauf auszugehen, die RAF in und aus dem seinerzeit gegebenen Kontext und seinem Werden zu verstehen, das bundesdeutsche Syndrom (= Gerinnsel) also.
So nüchtern, quellenfüllig, skrupulös und kriterienklar wie möglich. Dazu müssten gerade in einem solchen Fall, die eigene Position und die eigenen Interessen so durchsichtig wie möglich gemacht werden.
Nein. Der herrschende Kontext und seine dynamisch wirksame Mitschuld, zunächst in einem außermoralischen Sinne verstanden, werden geradezu systematisch ausgespart. Dort, wo sie wenigstens erwähnt werden müssen, geschieht dies punktuell, beiläufig und fast als schriebe man: Goethe hat zwischen 1749 und 1832 gelebt.
Der atlantische Ozean schlug auch seinerzeit Wellen. 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon. Damit wird die RAF ein Phänomen uralter Zeiten, das sich auf einer Insel mitten in der BRD ereignete, wenngleich die Inselbewohnerinnen und Inselbewohner verrückt, paranoid auf das umgebende Festland und seine gänzlich ‚unbetroffenen‘ Größen mörderisch übergriffen. Die isolierte Mär von der RAF als einst mit- oder heute nacherlebtem Schrecken rechtfertigt nicht nur all das, was seinerzeit gegen die RAF und ihr Umfeld staatlicherseits getan worden ist.
Sie rechtfertigt die Kontinuität des Antiterrorismus in dreifacher Hinsicht (und so verschlingt sich auch die halbseitig blockierte Erinnerung mit den Jungschen Schläubleiaden der Gegenwart): Im Sinne des fortgesetzten Ausbaus des Sicherheitsapparats, je feiner ziseliert desto besser.
Der Bekämpfung aller inneren Opposition unter dem Verdacht schlafenden Terrorismus. Heiligendamm und der streuende Missbrauch des selbst schon grundrechtswidrigen § 129 a StGB, 1976 getauft, stehen dafür exemplarisch. Schließlich der ‚innere‘ und ‚äußere Sicherheit‘ entdifferenzierende Kampf wider den selbst mitgeschöpften, darum legitimatorisch jederzeit einsetzbaren Terrorismus, ohne die geringsten Änderungen eigener Politik und gesellschaftlicher Produktion.
Folgte ich meinem Lehrer im ersten politikwissenschaftlichen Proseminar (1959), dem 2006 verstorbenen Friedrich Karl Fromme, führender publizistischer Vertreter der staatlichen Berufsverbotskampagne der 70er Jahre und gleichfalls worthandfertiger FAZ-Mundschenk derjenigen, die überall Sympathisantensümpfe witterten, dann steckte ich in den 70er Jahren tief im Sumpf.
Wenn ich es selbst recht sehe, bin ich in demselben mit meinen anarchistischen Motiven und Konzepten immer tiefer, ja unrettbar abgesoffen.
Zwar waren mir wie vielen meinen seinerzeitigen Genossinnen und Genossen anlässlich des Angela Davis-Kongresses 1972 in Frankfurt, Oskar Negts Distanznahme zur RAF aus dem Verstande gesprochen.
Dass wir die eigene Illegalisierung als politisch kontraproduktiv begriffen und die darin begründete demokratische Isolation und Abstraktion für radikal falsch hielten. Dass wir den Weg angeblich der Emanzipation (oder Befreiung in den Spuren Frantz Fanons) nützlicher, gegen etablierte Vertreter der Gesellschaft gerichteter Gewalt gleichfalls ohne Wenn und Aber für analytisch töricht und politisch verhängnisvoll erachteten.
Die Vier Agitatoren in Brechts Maßnahme haben unrecht, wenn man darum kämpft, dass sich die Beleidigten, die Ausgebeuteten, die durch Armut verhunzten, die kapitalistisch funktional entfremdeten Menschen dieser Erde selbst befreien können:
„Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es not tut
Da doch nur mit Gewalt diese tötende
Welt zu ändern ist, wie
Jeder Lebende weiß…
… Einzig mit dem
Unbeugsamen Willen, die Welt zu verändern begründeten wir
Die Maßnahme.“ (Den Mord am eigenen Genossen).
Wer die Mittel für seine Ziele nicht bedenkt, gibt letztere preis.
Diese ‚Position‘ in einem dichotomisch nicht zugelassenen Niemandsland hat mich jedoch seinerzeit nicht davon abgehalten, Ambivalenzen zu sehen und zu differenzieren – obwohl ich mich nach dem Ponto-Mord einmal qua allzu hastig von falschen Freunden abgeluchster Unterschrift mit einseitigen Distanznahmen identifizierte.
Da schäme ich mich heute noch. Diese ‚Position‘, im Kern kaum verändert, veranlasst mich heute, mich in 4 Punkten zu äußern, wenn dies auch in der gerade politisch-moralisch komplexen Sache nur verkürzt geschehen kann.
1. Die genetische, den herrschenden Kontext ohne opportune Rückhalte einbeziehende Betrachtung des Phänomens RAF ist unabdingbar.
Darum ist die gegenwärtige SPIEGEL-Serie trotz mancher neuer Informationen und wichtiger Aspekte vom Ansatz her verfehlt. Sie schildert eine Geschichte, in der die Lücken signifikanter sind, als das im Thriller-Stil Geschilderte (Nr.37 ff. vom 10.9.2007 Umschlagstitel: RAF. SPIEGEL-SERIE 30 Jahre Deutscher Herbst. Die Nacht von Stammheim). Fritz Sack insbesondere und Heinz Steinert/Henner Hess haben in der vom seinerzeitigen Innenminister Baum herausgegebenen Buchserie Anfang der 80er Jahre einen nützlichen Anfang gemacht. Er ist nie umfassend genug fortgesetzt worden (vgl. neuerdings gleichfalls zu punktuell und mit unzureichendem Zusammenblick K. Weinhauer, J. Requate, H.G. Haupt (Hrsg.): Terrorismus in der Bundesrepublik). Erst eine solche faktenreiche, aber zusammengesichtige Analyse aus den sechziger Jahren und davor, ließe einsehen wie berechtigt Klaus Wagenbachs Grabrede für Ulrike Meinhof gewesen ist.
„Was Ulrike Meinhof umgebracht hat, waren die deutschen Verhältnisse. Der Extremismus derjenigen, die alles nur ‚extremistisch‘ erklären, was eine Veränderung der Verhältnisse auch nur zur Debatte stellte. Das wollen wir nicht vergessen. Es sind unsere Verhältnisse, die wir nicht vergessen wollen“ (Motto des Buches von Peter Brückner, wahrhaft eines Staatsopfers zuletzt im Umkreis der unsäglichen Mescalero-Affäre 1977: Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, (1976), Neuausgabe 1987). In einer Sendung des Südwestfunks dieses Jahres sagt Hanna Krall, Autorin des Buches „Dem Herrgott Zuvorkommen“, die 1990 mehrere Tage lang Stefan Wisniewski in der Haft besucht und mit ihm gesprochen hat: „Ich habe die Geschichte der RAF nicht erforscht und auch nicht die Ideologie der RAF. Sie hat mich nicht sehr interessiert. Und es steht außer Zweifel, dass in dieser einen Geschichte, in diesem einen Schicksal, die Kriegszeit eine entscheidende Rolle gespielt hat. Entscheidend war, dass sein Vater Häftling in Dachau war, dass er in Dachau gequält und erniedrigt wurde, dass er schwer krank aus dem Lager zurückkam. Und dass die Demütigung weiterging, denn seine deutsche Frau hat nach dem Krieg keinerlei Hilfe von der inzwischen demokratisch gewählten deutschen Regierung erhalten. Dieser Gang der Dinge hat meiner Ansicht nach letztlich dazu geführt, dass sich Stefan der RAF angeschlossen hat. Es war letztlich sein Aufstand gegen die andauernde Demütigung. Mich hat nur Stefan Wisniewski interessiert.“
Nicht vorzustellen, so dringend man es sich gewünscht hätte, in den 80iger, spätestens in den 90 Jahren wäre die offizielle BRD zu einer Amnestie in der Lage gewesen. Eine solche Amnestie, nicht zu verwechseln mit Amnesie, der Tilgung von Geschehnissen, wie es jetzt der Fall ist, hätte verlangt, dass Terrorismus und Antiterrorismus auf die analytisch eindringliche Waage skrupulösen Urteilens gelegt worden wären. Auch die staatlichen Instanzen und ihr Drumherum hätten ihre massiven Beiträge und Fehler zum Geschehen bis hin zur Revision des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung, den aufgeblähten Apparaten der Bundesanwaltschaft, des BKA u.a. im unerhörten Mut, sich ihres eigenen Verstandes demokratisch zu bedienen, auf die Waage öffentlicher Debatte legen müssen. Mit dem Song „Wir Wunderkinder“ aus den sechziger Jahren gesungen: „Ach, wie könnte das schön sein!“ Wenn aber ‚das Schöne‘ nicht ist, dann müssen Leute, die intellektuell und politisch ernst genommen werden wollen, mehrere Seiten der Sache sehen und entsprechend Folgerungen ziehen. Sonst gilt der Vorwurf opportunistisch selbst und fremd angelegter Scheuklappen.
2. Im 2. Kraushaarband weist Reemtsma zurecht auf den „mangelnden Realitätssinn“ hin. Das, was Hannah Arendt den gefahrvoll abstrahierenden „Wirklichkeitsverlust“ nennt, gilt jedoch herrschaftlich stärker für die (seinerzeitige) Politik, ihre Vertreter und die führenden Medien. Damit humane ‚Wirklichkeit‘ sein könne, gält es die Ursachen dieses negativ bis in die „Nacht von Stammheim“ korrespondierenden Wirklichkeitsverlusts herauszufinden. Da sie politisch staatlich dauern, sollte versucht werden, Mittel zu finden, sie zu überwinden. Wer aber wollte schon lernen, wenn keine kapitalistisch verwertbaren „Innovationen“ locken?!
3. Erst in diesem Frühjahr habe ich ein im ID-Verlag 1997 erschienenes Büchchen gelesen. Ein Freund hat es mir geschickt. Stefan Wisniewski: Wir waren so unheimlich konsequent… Ein Gespräch zur Geschichte der RAF (ich kann an dieser Stelle die neuen Vorwürfe an Stefan Wisniewski nicht erörtern. Peter Jürgen Book, längst zum mehrfachen Krohnzeugen gemausert, u.a. SPIEGEL-honoriert, ist als höchst zweifelhafter Gewährsmann verdachtsraunender Wahrscheinlichkeit aufgetreten. Nach all dem, was ich weiß, kann ich Stefan Wisniewski nur meiner vollen Sympathie und leider nicht sehr wirksamen Unterstützung versichern!).
Mich treibt die Lektüre seither um. Sie hat mich motiviert, mich in Sachen RAF und besonnte Erinnerungen an die toll bewährte bundesdeutsche Staatsgesellschaft wieder zu Wort zu melden.
Dass die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge eine enorme Rolle spielten, engagierte junge Leute in den Dunstkreis der RAF zu ziehen und teilweise zu formieren, wusste ich selbstredend längst. Ebenso, dass die Haftbedingungen doppelt instrumentalisiert werden konnten. Staatlich. Von Seiten der inhaftierten RAF-VertreterInnen. Hätten nicht in der bald umstrittenen Kritik an den Haftbedingungen (bis hin zur „Isolationsfolter“) etliche, schlechterdings nicht zu rechtfertigende Körnchen Wahrheit gesteckt, wäre ihre einseitige Funktionalisierung nicht möglich gewesen (s. sogar die vermischten, nicht neu recherchierten Zusammenstellungen von Martin Jander und Gerd Koenen im 2. Kraushaarband „Isolation“, „Camera silens“; siehe auch noch die aktuelle SPIEGEL-Serie).
Seinerzeit gehörte ich zu denen, die die Haftbedingungen kritisierten. Politische Freunde von mir und ich haben es jedoch gerade in unserer Niemandslandposition, kein Ort, jedoch angebbarer weise „irgend“, versäumt uns mit all unserer Zeit und Kraft nicht nur verbal gegen die Haftbedingungen zu äußern. Wir hätten noch und noch Gefangene besuchen sollen – oder klagen, dass wir sie besuchen können -, mit ihnen reden, mit ihnen und gegen sie schreien müssen. In dieser Hinsicht gilt Stefan Wisniewskis Kritik ohne Abstrich: „Peter Brückner und andere wurden vor den Kopf gestoßen. Da gibt es noch viel Widerwärtiges aufzuarbeiten. Trotzdem seid ihr damit noch lange nicht aus dem Schneider (Mitglieder unterstützender Gruppe, WDN), denn es gab – parallel zum Rückzug der 68er – auch eine massive Entsolidarisierung. Das hat sich dann später gerächt.
Wer die Bedingungen der Gefangenen in den Isolationstrakten verdrängte und keine Verantwortung übernahm, zum Beispiel durch eine eigene, unabhängige Position, der sollte sich nachträglich wenigstens nicht wundern, dass ihn die Gefangenenfrage im Herbst 77 in einer militärischen Zuspitzung wiederholte.“
Schlimme Versäumnisse meinerseits trotz aller möglichen Wirbeleien an der FU Berlin besonders mit ‚dem Golli‘ (meinem Freund Helmut Gollwitzer), Margherita von Brentano u.a. Sie kommen wie die Reue zu spät. Sie zählen nur, wenn ich, wenn vielleicht sogar Jüngere daraus lernten.
4. In einem Bericht, den Hanna Krall, die ungewöhnliche polnische Autorin über Stefan Wisniewski, Sohn eines Zwangsarbeiters aus dem Schwarzwald, im April dieses Jahres gegeben hat, lautet eine Passage: „Bei den Aktionen, die mit der Entführung von Schleyer begannen, gab es mehr als ein Duzend Opfer. Schleyer selber, sein Fahrer, die drei Polizisten, die drei Flugzeugentführer, der Flugkapitän, die Häftlinge in Stammheim … Ja, eine Menge Opfer, räumt Stefan W. ein. Aber keiner wäre darauf gekommen, dass die Regierung ihre Forderungen nicht erfüllen könnte. Darauf wäre keiner gekommen. Sie wussten seit langem, der Imperialismus ist blutrünstig, aber dass er in einem solchen Maße … Das hatten sie nicht gedacht.“
Schon 1997 hatte sich Stefan W. dazu eingelassen und u.a. ausgeführt. „Ein Kompromiss von uns aus war möglich.“
„Man kann uns vieles vorwerfen, aber nicht, dass wir die Interessen der Gefangenen ignoriert hätten.“ „Aber die menschlichen Gesichtspunkte wurden vom Krisenstab bewusst ausgeschaltet.“
Die mörderische Entführung ist nicht zu rechtfertigen.
Auch nicht ‚dem Staat‘ und seinen Führungsleuten in die Schuhe zu schieben. Die jüngst erneut akute Frage stellt sich jedoch unvermindert dringlich (gerade an dieser Stelle bedauere ich den Mangel an Platz am meisten): Darf ‚der Staat‘ nicht nachgeben? Wer ist denn dieser Riesenmensch und sterbliche Gott, wie Hobbes diesen Herrschaftsbock bezeichnete? Ist es zulässig, dass dieses Institutionenbündel grundrechtlich demokratisch verfasst, heute als unerbittlich streng strafender Gott aufstampft, ein „Gott“ zumal, der als zweite Natur seine Sterblichkeit leugnet (und leugnen lässt. Darum sind Anarchisten, Herrschaftsfeinde, zu denen jedes Kind zählt und jeder freiheitlich gerichtete Mensch zählen müsste, von vornherein terrorismusverdächtig, obwohl wahre Anarchisten heute ohne Gewalt auftreten. Denn alle Gewalt ist herrschaftsträchtig).
Die Bundesrepublik und ihr Staat hätten sich qualitativ gewandelt, hätte die Bundesregierung und ihr Krisenstab die unwahrscheinliche Größe gehabt, schon um des Menschen Hans-Martin Schleyer willen, kalkuliert und diszipliniert nachzugeben.
Das Gegenteil des allein bürokratisch logischen Präzedenzfallarguments wäre eingetreten. Präzedenzfall meint, wenn behördlich einmal nachgegeben würde, wollten unverweilt alle Menschen, die dafür in Frage kämen oder auch nicht, ein entsprechendes Nachgeben haben.
Nur ein solcher Staat, hinter dessen autokratischen Mantelwurf mit Eisenspänen bestickt sich kleine menschliche Gestältchen verstecken, kann nie und nimmer stückweise nachgeben, darf sich nicht auf Kompromisse mit seinen Bürgerinnen und Bürgern einlassen, der sich nicht primär demokratisch und menschenrechtlich legitimiert.
Dieser dominierende Staatstypus muss vielmehr sein Monopol, Gewalt übend, dauernd erneuern und ausbauen.
Damit er dadurch dieses Monopol selbst und seine sonstigen Institutionen legitimiere. Nicht nur Schleyer und Menschen um ihn herum wären gerettet worden.
Von einem Tag auf den anderen hätte es all das, was sich im Kürzel RAF bündelte, nicht mehr gegeben.
Freilich: dann wäre auch die heutige Instrumentalisierung der RAF nicht möglich: Als terroristische Vereinigung einer Bande von geboren Verrückten und Verführten in Richtung des ausgedehnten staatlichen Anti-Terrorismus seit dem 11.9. und seiner fadenscheinigen Legitimation.
Wenn indes andere nicht lernen wollen, herrschende Institutionen und ihre VertreterInnen in ihrem wirklichkeitsverdünnten, nur in seiner Scheinmacht üppigen Gefängnis -, wir sollten uns die Chance nicht nehmen lassen. Von niemandem.
Auch nicht dem antiterroristisch einschüchternden Staat und seinen kläglichen Vertretern.
Anmerkungen
Wolf-Dieter Narr (* 13. März 1937) lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. Er ist Mitgründer und Mitsprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.