anarchismus

Hey hey Wiki

Wenn von Wiki die Rede ist, denken viele sofort an Wikipedia. Aber Wikipedia ist nur das größte und bekannteste Wiki

| Schwarze Feder

Ein Wiki ist technisch gesehen ein Computerprogramm für das Internet, eine sogenannte "Kollaborations-Software", die das Zusammenarbeiten von Menschen an einem inhaltlichen Projekt ermöglichen soll. Inhaltlich gesehen ist es aber mehr: Das "Wiki-Prinzip" ist eine Befreiungsbewegung, angesiedelt in der Copyleft-Szene. Wikis sollen eine freie und unzensierte Kommunikation ermöglichen, gleichzeitig sollen sie "Wissen befreien".

Eine hierauf basierende Idee war, eine Enzyklopädie auf der Grundlage des Wikiprinzips aufzubauen. Zunächst fand dieser Versuch statt mit Nupedia, später wurde dann mit der eigens für eine Internet-Enzyklopädie entwickelten freien Software Mediawiki Wikipedia gestartet. Organisiert wird dies von der Wikimedia-Foundation. Diese Foundation bestimmt grundsätzlich über alle Wikimedia-Projekte, zu denen auch die verschiedensprachigen weitgehenden Wikipedias gehören.

Wikipedia inside

Im Sommer 2007 erschien im Unrast-Verlag das Buch „Wikipedia inside“ von Günter Schuler. Es liefert sowohl einen guten Einstieg in das Projekt (Wikipedia für Anfänger), als auch mehrere Kapitel zur Entstehungsgeschichte von Wikipedia. Die Kapitelaufteilung ist ebenfalls einleuchtend: Außendarstellung, Innenleben und Zukunft von Wikipedia. Günter Schuler führte mehrere Interviews mit langjährigen Wikipedia-Usern und arbeitete längere Zeit unter dem Nickname Roger Koslowski mit.

Neben der kompakten und fundierten Darstellung Wikipedias ist es vor allem seine treffende Kritik am momentanen Zustand des deutschsprachigen Wikipedias, die ich als „Hauptautor“ von über einhundert Artikeln zu gesellschaftskritischen Themen weitgehend teile.

Diese Kritik bezieht sich auf die derzeitigen Entscheidungsrechte der AutorInnen. AutorInnen sehen gegenüber willkürlichen Entscheidungen der (mit Zweidrittel-Mehrheit gewählten) Admins alt aus.

Günter Schuler schlägt daher ein paar Neuerungen vor. So sollten Fachredaktionen gestärkt werden. Admins sollten nur noch für eine begrenzte Zeit gewählt werden, wobei die Stimmberechtigung von der HauptautorInnenschaft von 20 Artikeln abhängig sein sollte.

Die AutorInnen sollten durch eine Charta (Auskunftspflicht der Admins bei Sperrungen), eine Antidiskriminierungsetikette und einen Betriebsrat geschützt werden. Er sprach sich für eine Modifizierung des Grundsatzes „Neutraler Standpunkt“ aus: „… eine eindeutige Abgrenzung gegenüber aufklärungsfeindlichen, wissenschaftsfeindlichen und demokratiefeindlichen Strömungen würde der Wikipedia, die sich sonst ja gerne im NGO-Bereich verortet, ganz gut tun.“

Die Admin-Seite der deutschsprachigen Wikipedia reagierte beleidigt und verschnupft auf Schulers Kritik.

Kritik an dem Verhalten von Admins oder an der Adminstruktur ist nicht erwünscht und führt in Wikipedia zu selbstversichernden und höhnischen Kommentaren bar jeder Sachlichkeit.

Dies bestätigt natürlich die Kritik Schulers an Wikipedia.

Diskriminierung und der Neutrale Standpunkt

Während Günter Schuler in seiner Kritik vor allem das mangelnde Durchgreifen der Admins gegen rechtsextreme Störaccounts bemängelte und auch darauf hinwies, dass langjährige Mitarbeiterinnen wie die Userin Barb Wikipedia verließen, weil sie keine Lust mehr hatten, gegen die antifeministischen Umformulierungen innerhalb der männerdominierten Wikipedia anzukämpfen, ist das Problem grundlegender.

Es beinhaltet die Frage, was ein „Neutraler Standpunkt“ überhaupt ist.

Hierbei vermischen sich bei einigen Admins extreme Auslegungen dieses Prinzips mit dem Wunsch nach einer konfliktfreieren Wikipedia. Die extreme Auslegung des Prinzips NPOV (Neutral Point of View) geht davon aus, dass das Recht auf Meinungsäußerung (welches diskriminierende Äußerungen mit einbezieht) höher anzusiedeln ist als die Sicherheit, nicht diskriminiert zu werden. Hierzu gehört auch, dass eine Kategorisierung von Artikeln zum Thema Diskriminierung nicht erwünscht ist, da beispielsweise eine Kategorie Heterosexismus zwangsläufig „nur die Innenansicht von Homosexuellen“ wiedergebe oder die Kategorie Sexismus nicht neutral sein kann, da sie voraussetze, dass geschlechtliche Gleichberechtigung ein anzustrebender Wert sei. Hiermit würde einseitig eine westlich-gegenwartsbezogene Position eingenommen, welche gegen den neutralen Standpunkt verstoße, da die UN-Menschenrechtskonvention nicht höher zu werten sei als religiös-fundamentalistische Positionen. Sexismus und Heterosexismus seien zudem „negative“ Begriffe, die die einkategorisierten Artikel negativ einfärbten und dazu verführen würden, dass in diesem Bereich noch mehr Artikel erstellt werden.

Die extreme Auslegung der Neutralität wird nur in Diskriminierungskontexten angewandt. Gegenüber der Auseinandersetzung zwischen Evolutionsbiologie und Kreationismus ist Wikipedia durchaus nicht neutral: Eine Kategorie Evolution wurde nicht unterbunden, und auch der Bereich Astronomie ist gut ausgebaut, obwohl es nachweislich noch einen Verein der Flachwelttheoretiker gibt. Während Wikipedia sich von der absurden Theorie des Kreationismus also nicht von einer gut strukturierten Darstellung des Wissens über die Evolution abhalten lässt, haben die religiösen, homophoben Fanatiker im Bereich Homosexualität bessere Karten. Offen homosexuelle User und aus religiösen Gründen schwulenfeindliche User werden von den Admins als Streithähne betrachtet, die doch bitte schön mit ihren nervigen Auseinandersetzungen die konstruktive Arbeit an Wikipedia nicht behindern sollen.

Ein Blick in die eigenen Artikel der Wikipedia wäre aufklärend. So findet sich im Artikel „Diskursethik“ genau dieses Problem wieder: Eine rationale Auseinandersetzung erfordert die Anerkennung des Gegenübers als rationale Person. Gruppenspezifische Diskriminierungen untergraben jedoch diese Anerkennung, indem sie ganzen Gruppen von Menschen biologistisch eine eingeschränkte Fähigkeit zum Diskurs unterstellen. Hierauf macht die englischsprachige Wikipedia-Enzyklopädie aufmerksam, indem sie im Artikel zum Neutral Point of View darauf verweist, dass Sexismus und Rassismus Vorurteile transportieren, die eine neutrale Sichtweise verhindern.

Noch viel wichtiger ist jedoch ein Missverständnis über Enzyklopädien schlechthin.

Die Enzyklopädisten waren Aufklärer, und das Projekt der Aufklärung war eingebunden in der Erklärung der Menschenrechte und vor allem gegen religiöse Bigotterie, die soziale Ungerechtigkeiten als gottgewollt darstellte. Diesen grundlegenden Fragen haben sich nicht nur die Admins der deutschsprachigen Wikipedia mit ihrem überzogenen Neutralitätsverständnis zu stellen, sondern Wikipedia als Enzyklopädie, welche in dieser Tradition steht.

Hierbei ist festzuhalten, dass alle Wikipedias Schwierigkeiten haben, eine gleichgewichtige Partizipation von Männern und Frauen aufrecht zu erhalten. In der englischsprachigen Wikipedia näherte sich bis 2006 die Zahl der weiblichen User langsam der der männlichen an.

Seitdem jedoch verstärkte sich wieder das Übergewicht von Männern, welches auch nicht mehr damit zu erklären ist, dass Frauen im Internet generell seltener aktiv sind (im Internet finden sich im Gegenteil immer mehr aktive Frauen).

Dieses Verschwinden der Frauen führte zur Gründung der www.wikichix.org, einer autonomen Frauengruppe von Wikipedia-Nutzerinnen.

Probleme dieser Art gibt es also in allen Wikipedias, allerdings scheint das deutschsprachige Wikipedia Spitzenreiter zu sein im Bemühen um Nicht-Aufklärung (Zitate: „die Artikel im Bereich Diskriminierung sollten auf 10 Prozent gekürzt werden“, „nachdem die Benutzerin XY aufgehört hat, sollten nun auch die anderen Artikel von profeministischen Inhalten ‚gesäubert‘ werden“). So wurde die „Non Discrimination Policy“ der Wikimedia Foundation vom Januar 2006, die Diskriminierung (Sexismus, Rassismus, etc.) ausdrücklich verbietet, bis zum Herbst 2007 nicht verlinkt, obwohl sie in keinem Wikimedia-Projekt ignoriert werden dürfte. Wäre den deutschen Admins diese Richtlinie bekannt gewesen, hätte die unselige Diskussion, ob BenutzerInnen, die antisemitische Äußerungen von sich geben, gesperrt gehören, abgekürzt werden können: Natürlich gehören solche BenutzerInnen gesperrt, selbst im deutschsprachigen Wikipedia. Und es ist auch eine besondere Eigenart der deutschsprachigen Wikipedia, keine Kategorien wie Sexismus und Heterosexismus zuzulassen, die es in allen anderen größeren Wikipedias gibt und in der sich dann peinlicherweise deutsche Begriffe wie „Kinder, Küche, Kirche“ finden.

Während es in allen größeren Wikipedias die Kategorie „Antisemitismus“ gibt, wurden nur mit knappen Mehrheiten Löschanträge gegen diese Kategorie verhindert.

Nicht zuletzt für LeserInnen der Graswurzelrevolution interessant: Es gibt auch keine Kategorie Gewalt.

Ich denke, dass das Vermeiden dieser „negativen“ Themen der Sehnsucht nach einem „gesunden Volkskörper Wikipedia“ geschuldet ist. Ähnlich wie der deutsche Staat lieber Strafgelder zahlte, als ein Antidiskriminierungsgesetz einzuführen, und dieses dann nach der unumgänglichen Einführung auch nicht mit dem negativen Anti-Wort benannte, sondern gesund und positiv mit Gleichstellungsgesetz, möchten die aktiven Admins des deutschsprachigen Wikipedia eine gesunde Enzyklopädie, die die Welt positiv darstellt. Die wesentliche Aufgabe einer Enzyklopädie ist es jedoch nicht, exzellente Artikel über klassische Musik zu fertigen, sondern das fundierte Wissen der Menschheit zu befreien.

Vernetzte Wikis als solidarische Ökonomie der Bildung

Nach Günter Schuler droht die deutschsprachige Wikipedia durch die überzogene Interpretation von Neutralität zur Sekte zu werden. Wikipedia ist nur ein Wiki, und die Zukunft gehört den Wikis, die die Befreiung des Wissens ernst nehmen. Wikipedia ist nur eines unter Tausenden von Wikis.

Die Zukunft wird daher auch nicht in einzelnen Enzyklopädien wie Wikipedia liegen, sondern in einer Vielzahl von Wikis, die sich aufeinander beziehen. Hier verschaffen die freie Lizenz und die gemeinsame Programmiersprache Mediawiki die Möglichkeiten, Artikel von einem Wiki in ein anderes zu kopieren. So lassen sich Artikel mit dem Verweis auf die Herkunft beliebig von Wikipedia ins anarchistische Anarchopedia kopieren und umgekehrt.

Leider geht dies nicht mit dem Genderwiki, da hier eine andere Lizenz vorliegt, die zwar die Weiterverwendung erlaubt, nicht jedoch zu kommerziellen Zwecken, wie dies bei Wikipedia eindeutig vorgesehen ist. Hier sollte es zu einer Vereinheitlichung von Lizenzen kommen. Denn dann könnten die maskulinistisch angehauchten Artikel der männerdominierten Wikipedia durch die aus der Geschlechterforschung stammenden Artikel aus dem Genderwiki ersetzt werden. Noch wichtiger als das Aufmischen des gesunden Volkskörpers Wikipedia durch sozialwissenschaftlich und gesellschaftskritisch orientierte Wikis wäre eine Vernetzung dieser Wikis, ein gegenseitiges Anerkennen. Hierfür ist es wiederum wichtig, dass die Wikis sich öffnen, dass die zuständigen Admins nicht ihr Revier verteidigen, sondern sich einlassen auf eine solidarische Ökonomie der Bildung.

Literatur

Günter Schuler: Wikipedia inside. Die Online-Enzyklopädie und ihre Community, Unrast Verlag, Münster 2007, ISBN 978-3-89771-463-2

THTR-Rundbrief zum Thema Wikipedia & Atomlobby: www.reaktorpleite.de/thtr-rundbrief/rundbriefe-2007/nr.-117-november-07.html