anarchismus

„Der Anarchismus ist die verzerrteste und verleumdetste von allen politischen Ideen“

Anarchismus in den USA heute: ein Interview mit dem Aktivisten Jean Black aus Kalifornien

| Interview: Sebastian U. Kalicha

Jean Black lebt in der San Francisco Bay Area/Kalifornien und ist seit vielen Jahren in der anarchistischen Szene, vor allem bei Projekten wie Food not Bombs und Copwatch, aktiv. Die anarchistische Bewegung in den USA hat u.a. durch die Ereignisse rund um den WTO-Gipfel in Seattle 1999 (vgl. GWR 245) neuen Schwung erhalten und gestaltet sich dabei ziemlich heterogen. Das Interview dreht sich um die verschiedenen Aspekte und Strömungen des Anarchismus in den USA heute, welchen Einfluss AnarchistInnen wie Emma Goldman immer noch haben und wie die Szene mit den Herausforderungen eines "War on Terror" umgeht.

Graswurzelrevolution (GWR): Es ist eher Wissen vorhanden, wenn es um die Geschichte des Anarchismus in den USA und deren ProtagonistInnen geht. Mich würde deshalb besonders die gegenwärtige Situation interessieren. Welche Bedeutung haben anarchistische Bewegungen in der radikalen Linken der Vereinigten Staaten heute?

Jean Black: Anarchismus als politisches System ist seit dem Scheitern der radikalen Linken der 60er Jahre zur dominanten politischen Strömung in der radikalen Linken angewachsen. Das zeigt sich vor allem in der Schaffung von Basisorganisationen in den Communities linksradikaler AktivistInnen, die mehr und mehr direktdemokratische Strukturen annehmen.

Das heißt nicht, dass es keine maoistischen, trotzkistischen, marxistisch-leninistischen Gruppen und den ganzen Rest gäbe, es heißt aber, dass die Aktivitäten der radikalen Linken – so weit meine Erfahrungen – einen generellen und sukzessiven Wandel von autoritären hin zu antiautoritären Strukturen vollzogen haben.

Trotz der zunehmenden Dominanz von direktdemokratischen Organisationsstrukturen in der radikalen Linken sind aber viele bekannte Anti-Kriegs-Bündnisse, die Demonstrationen planen und organisieren, immer noch marxistisch-leninistisch dominiert. Das muss erwähnt werden, weil eine der wichtigsten radikalen Aufgaben hier in den Vereinigten Staaten der Aufbau einer Anti-Kriegs-Bewegung ist, und leider sind viele AktivistInnen der radikalen Linken, die Anti-Kriegs-Aktivitäten organisieren, entweder immer noch selbst ziemlich autoritär oder sie stecken in autoritären Organisationen fest.

GWR: Seit 2001 hat sich vieles verändert: Die Bush-Administration hat den „War on Terror“ ausgerufen, Angriffskriege geführt und staatliche Repression und Überwachung ausgeweitet. Lass uns zuerst beim Thema Krieg bleiben. Wie aktiv sind AnarchistInnen, trotz der Dominanz marxistischer Gruppen, in der US-amerikanischen Antikriegsbewegung?

Jean Black: AnarchistInnen sind in allen Bereichen der Anti-Kriegs-Bewegung aktiv. In kleinen sowie in großen Demonstrationen findet sich beinahe immer eine anarchistische Fraktion in der einen oder anderen Form. Bei den meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, lässt sich aber eine seit Jahren anhaltende Stimmung beobachten, dass die Leute keine Lust mehr haben, auf Demonstrationen zu gehen, die von den immer gleichen marxistischen Gruppen in den großen Städten organisiert werden. Sie würden lieber mehr direkte Aktionen gegen den Krieg machen, wie dies in den 60ern der Fall war.

Alle AnarchistInnen hier in den USA sind gegen den Krieg und tun verschiedene Dinge, um ihm ein Ende zu bereiten. Meine persönliche Meinung über den Krieg ist die, dass ich darüber entsetzt und angewidert, gleichzeitig aber in keiner Weise von den Taten meiner Regierung überrascht bin.

GWR: Überwachung und Repression scheinen in der Bevölkerung, mit dem Verweis auf mehr Sicherheit, auf immer mehr Akzeptanz zu stoßen. Neue so genannte „Anti-Terror-Gesetze“ haben auch in der Europäischen Union Hochkonjunktur. Sind in den USA auch linke Gruppen oder Individuen davon betroffen?

Jean Black: Ja, das sind sie. In einem breiteren historischen Kontext gesehen ist es unwahrscheinlich, dass die radikale Linke heute mehr überwacht wird, als dies in den 1960ern und 70ern der Fall war, aber der Druck ist definitiv größer geworden.

Zur Zeit hat das FBI vor allem jene AktivistInnen im Visier, die es als „Öko-TerroristInnen“ bezeichnet. Das ist Teil der so genannten „Green Scare“-Kampagne. Diesen Gruppen wird momentan sehr viel Aufmerksamkeit von Seiten des Staates zuteil.

Die Inhaftierung von Eric McDavid (1) ist ein aktuelles Beispiel dafür. Viele Gruppen werden zur Zeit überwacht, soweit ich das mit meinem bescheidenen Wissen über das Innenleben unserer Regierung beurteilen kann. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird.

GWR: Anarchistische Websites wie raisethefist.com oder flag.blackened.net sind ja auch in große Schwierigkeiten geraten.

Jean Black: Ich habe Sherman Austin mehrmals getroffen. Er wurde inhaftiert, weil er raisethefist.com betreute. Die Arbeit, die er mit Los Angeles Copwatch (2) macht, ist sehr inspirierend. Obwohl es alarmierend ist, wie skrupellos ihn der Staat eingesperrt hat, muss gesagt werden, dass es momentan nicht danach aussieht, als ob in irgendeiner Form Massenverhaftungen von AnarchistInnen oder von Mitgliedern anderer linksradikaler Gruppierungen geplant sind.

Die Paranoia, dass dies geschehen könnte, ist natürlich immer präsent.

GWR: Welche Rolle spielen Intellektuelle wie Murray Bookchin, Noam Chomsky, Howard Zinn oder der bei vielen, beispielsweise bei GraswurzelrevolutionärInnen, u.a. aufgrund seiner fehlenden Reflexion der Gewaltproblematik umstrittene John Zerzan?

Jean Black: Die Ansichten all dieser Personen werden im Allgemeinen als wichtig und nützlich betrachtet, mit Ausnahme von Zerzan, der eine umstrittene Figur bleibt. Die meisten Aktiven des linksradikalen Spektrums haben brauchbare Kenntnisse über Chomskys Arbeiten, und A People’s History of the United States (3), das bekannteste Werk von Howard Zinn, wird an zahlreichen Colleges überall in den Vereinigten Staaten gelehrt. Dadurch ist dieses Werk vielen Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der radikalen Linken bekannt.

Bookchin spielt eine wesentlich geringere Rolle, weil so viele seiner Arbeiten sich mit anarchistischer Theorie befassen. Das ist zwar für einige recht interessant, aber nicht so ansprechend oder unmittelbar zugänglich wie Chomskys oder Zinns Arbeiten. John Zerzan spielt auch eine Rolle, obwohl ich behaupten würde, dass es keine sehr positive ist. Zerzan ist Primitivist. Er ist eine Hauptfigur unter denjenigen AnarchistInnen, die sich als besonders radikalökologisch oder als PrimitivistInnen sehen. Ich persönlich glaube nicht, dass man Primitivismus als einen Teil des Anarchismus betrachten sollte, vor allem deshalb nicht, weil der Zusammenbruch der Zivilisation sehr wahrscheinlich zur Folge hätte, dass viele Menschen weltweit in extremem Elend leben müssten.

Typisch für den Primitivismus ist auch eine perverse Anbetung der Natur: Die Natur wird abstrakt als Löserin aller Probleme betrachtet – die Interessen der Menschen müssen dagegen zurückstehen.

Ich bin Veganer, aber ich glaube, dass Erwägungen im Sinne des Menschen Vorrang haben sollten. Hand in Hand mit der übersteigerten Liebe zur Natur geht die starke Tendenz, indigene Gesellschaften romantisch zu verklären – oft entgegen den historischen Fakten.

GWR: Wie werden die Schriften und Aktivitäten von AnarchistInnen, die um 1900 in den USA aktiv waren, wie Emma Goldman, Alexander Berkman oder Voltairine de Cleyre – um nur einige wenige zu nennen – bewertet?

Jean Black: Emma Goldman ist wahrscheinlich die bekannteste und meistgelesene Person jener Zeit. Es ist schwer, eine amerikanische Anarchistin oder einen Anarchisten zu finden, der oder die keine Kenntnisse über ihr Leben oder ihr Werk hat.

Der Einfluss dieser DenkerInnen ist schwer abzuschätzen, aber meine Erfahrungen sind dahingehend, dass keines ihrer Werke großen Einfluss auf die alltäglichen Entscheidungen in den Kollektiven und im täglichen Leben der Menschen hat, auch wenn The ABC of Communist Anarchism (4) von Alexander Berkman immer noch gern herumgereicht wird.

Die meisten derartigen Werke sind eher Einführungen für diejenigen, die sich zum ersten Mal mit anarchistischem Gedankengut befassen.

GWR: Das anarchistische Kollektiv CrimethInc. vertritt die Ansicht, dass man den Spanischen Bürgerkrieg und die „bärtigen Männer“ getrost vergessen könne, wenn man sich für Anarchismus interessiere (vgl. GWR 312). Ist das eine weitverbreitete Ansicht unter AnarchistInnen in den USA oder beschränkt sie sich auf das CrimethInc.-Umfeld?

Jean Black: Ich denke, sie beschränkt sich hauptsächlich auf die CrimethInc.-Szene. Es gibt natürlich immer gewisse Überschneidungen, aber was beunruhigend ist, ist die Größe dieser Bewegung. Ich habe ein paar Arbeiten von CrimethInc. gelesen, und auch wenn ich nicht glaube, dass man den AutorInnen die Schuld daran geben kann, stört es mich doch, dass so viele AktivistInnen, die von diesen Arbeiten inspiriert wurden und durch sie zum Anarchismus gekommen sind, glauben, dass es reine Zeitverschwendung sei, eine große Basisbewegung aufzubauen, und statt dessen lieber ihren anarchistischen, auf die USA beschränkten Lebensstil pflegen.

Von dem, was ich bislang gesagt habe, kannst du dir vorstellen, dass ich die Idee einer Revolution, die darauf basiert, aus der ArbeiterInnenklasse auszuscheiden, um ein/e „ex-worker“ zu werden, für ziemlich lächerlich halte.

In Bezug auf den Spanischen Bürgerkrieg und die „bärtigen Männer“ denke ich, dass es stets wichtig ist, eine kritische Perspektive beizubehalten. Das ist zwar ein langweiliges und klischeehaftes Statement, aber nichtsdestotrotz angebracht.

Diese kritische Perspektive sollte in Bezug auf die Werke von Personen, von denen wir wissen, dass sie sexistisch waren wie Proudhon oder antisemitisch wie Bakunin, angewandt und nicht ignoriert werden.

Unsere Brüder und Schwestern zu vergessen, die auf den Schlachtfeldern Spaniens kämpften und starben, um den Faschismus zu stoppen, und die versuchten, die Hoffnungen und Träume, die wir alle teilen, zu verwirklichen, ist eine Beleidigung ihres Andenkens, ganz gleich, wie unvollkommen ihr Kampf gewesen ist.

GWR: Kannst du kurz die verschiedenen anarchistischen/linksradikalen Strömungen nennen, die in den Vereinigten Staaten aktiv sind?

Jean Black: Das ist gar nicht so einfach. Die Gruppen, die mir spontan einfallen, sind die North Eastern Federation of Anarcho-Communists (NEFAC), die Industrial Workers of the World (IWW), CrimethInc., Food not Bombs, Copwatch, Common Ground Health Clinic und die verschiedenen Anarchist Black Cross-Gruppen. Es sollte noch erwähnt werden, dass nicht alle der hier aufgeführten Gruppen explizit anarchistisch sind, Food not Bombs oder Copwatch z.B., aber viele anarchistische Mitglieder haben und sich horizontal und direktdemokratisch organisieren.

GWR: Wie sieht es mit anarchistischen Publikationen aus? Gibt es viele Buchverlage oder Zeitschriften?

Jean Black: Es gibt einige Zines und Buchverlage. Woran es mangelt, sind Zeitungen. Wie wunderbar wäre es, wenn die Bewegung eine Tageszeitung hätte, die im ganzen Land gelesen würde!

Der bekannteste Buchverlag ist AK Press, ein Kollektiv, das wahrscheinlich viele, die das hier lesen, kennen. AK Press ist ein bemerkenswertes Beispiel von Anarchismus in Aktion und publiziert laufend eine große Bandbreite an Büchern, um unsere intellektuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

GWR: Wie bist du persönlich mit anarchistischem Gedankengut in Berührung gekommen?

Jean Black: Das ist eine etwas langweilige Geschichte. Ich saß zu Hause und sah mir die Anti-WTO-Proteste in Seattle 1999 im Fernsehen an. Ich war sprachlos wegen der Gruppen von AktivistInnen, welche die Medien als AnarchistInnen bezeichneten und die Starbucks Läden und Nike Town angriffen.

Irgendetwas schien mir da nicht zu stimmen, weil diese AnarchistInnen offensichtlich ganz spezielle Ziele auswählten.

Ich hatte mich dazu verleiten lassen zu glauben, dass die AnarchistInnen die nihilistische und wahllose Zerstörung von allem propagierten.

Mit diesen Bildern im Fernsehen konfrontiert, ging ich ins Internet und fand das Buch Anarchism von Daniel Guérin.

Ich weiß, dass zumindest in einigen Teilen Europas – ich denke dabei an Frankreich, weil ich dort eine Weile gelebt habe -, eine andere Wahrnehmung vorherrscht. Zwar wird auch dort der Anarchismus als politische Idee großenteils nicht akzeptiert. Aber wenn man sagt, dass man Anarchist ist, haben die meisten Leute eher Bilder einer linken, sozialistischen Bewegung vor Augen als das eines wild gewordenen, nihilistischen Bombenwerfers.

Der Grund, weshalb ich buchstäblich gar nichts über Anarchismus wusste, war, dass in den Vereinigten Staaten die politische Idee des Anarchismus möglicherweise die verzerrteste und verleumdetste von allen politischen Ideen ist.

Die Geschichtsbücher an US-amerikanischen Schulen erwähnen beispielsweise die Hinrichtungen von Sacco und Vanzetti, aber niemals wird dazu gesagt, dass sie Anarchisten waren!

(1) Eric McDavid ist Aktivist der Earth Liberation Front und plante gemeinsam mit anderen AktivistInnen Sabotageakte und Brandanschläge u.a. gegen den Nimbus Damm nahe Sacramento, gegen das United States Forest Service Institute sowie gegen diverse Telefonmasten und Elektrizitätswerke. Am 13. Januar 2006 wurden drei AktivistInnen verhaftet, und Eric McDavid wurde am 27. September 2007 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Siehe: http://supporteric.org

(2) Website von Copwatch Los Angeles: www.copwatchla.org

(3) Das Buch ist vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienen. Howard Zinn: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, Verlag Schwarzerfreitag, Berlin 2007. Siehe Rezension in GWR 322/Libertäre Buchseiten.

(4) Deutsche Übersetzung: Alexander Berkman: ABC des Anarchismus, Trotzdem Verlag, Frankfurt/M. 1977