EPR ist die Abkürzung für Réacteur Pressurisée Européen (Europäischer Druckwasserreaktor). "Europäisch", weil der deutsche Siemens-Konzern als Teil des Kartells an FRAMATOME (jetzt Areva NP) mitbeteiligt ist. Didier Anger, 69, ist ein Urgestein der französischen Anti-Atom-Bewegung. Er ist ein Vertreter der örtlichen Widerstandsgruppe CRILAN in der Basse-Normandie.
Graswurzelrevolution: In Flamanville, bei Cherbourg in der Basse-Normandie, soll ein neuer Atomreaktor gebaut werden. Kannst du etwas zur Region sagen und einen Überblick über die bestehenden Atomanlagen geben? Sie ist stark von der Atomindustrie, die die Atomenergie dort sowohl militärisch als auch zivil nutzt, geprägt.
Didier: Auf der Cotentin-Halbinsel, in der Normandie, gibt es:
- Das militärische Arsenal von Cherbourg, wo atomare U-Boote für die französischen Streitkräfte hergestellt werden.
- Zwei Wiederaufbereitungsanlagen für Plutonium in La Hague. Unter dem Namen von COGEMA, welche zum AREVA-Kartell gehört, gibt es dort die Plutoniumfabriken UP2 800 für die abgebrannten Brennstäbe von EDF (staatliche französische Elektrizitätsgesellschaft) und UP3 für Brennelemente aus dem Ausland.
- Das Endlager im Département Manche (CSM) für radioaktive Abfälle schwacher und mittlerer Aktivität, es ist voll und steht unter Beobachtung von ANDRA (Nationale Behörde für die Entsorgung radioaktiver Abfälle).
- Zwei Druckwasserreaktoren mit je 1300 Megawatt Leistung (Ehemaliges Westinghousepatent für Druckwasserreaktoren, von Frankreich übernommen) in Flamanville. An selber Stelle wird der EPR – european pressurised reactor- (1650 Megawatt Leistung) gebaut.
Außerdem gibt es in der Gegend:
- In Caen, der Bezirkshauptstadt, befindet sich das Forschungszentrum für Schwerionen GANIL unter der Aufsicht der staatlichen Atomenergiebehörde CEA, die gleichrangig mit den anderen Mitgliedern, im Unternehmen AREVA eingegliedert ist.
- Aber die Bemühungen, im Granit ein unterirdisches Endlager für hochradioaktive atomare Abfälle zu errichten, sind zunächst gescheitert: in Barfleur (Ostküste des Cotentin) und Athis de l’Orne (Département de l’Orne), in Fougères (in der Bretagne, an die Basse-Normandie angrenzend) wie auch in Mayenne – dank der starken Ablehnung und des Kampfes durch die Bevölkerung.
GWR: So eine Konzentration an Atomanlagen gibt es nicht überall. Wie ist es denn dazu gekommen?
Didier: Mit dem Rhône-Tal ist der Cotentin die Region in Frankreich, in der die Atomenergie am stärksten vorangetrieben wurde. Das ist Folge der Politik des französischen Staates, der schon 1945 mit der Schaffung der CEA (staatliche atomare Forschung) die atomare Bewaffnung anstrebte. Angesichts der Konfrontation, des Wettbewerbs zwischen östlichen und westlichen Blockstaaten galt es der aus Gaullisten und Kommunisten bestehenden Regierung nationale Unabhängigkeit zu beweisen. Der erste Vorsitzende der CEA war der Wissenschaftler und Kommunist Joliot-Curie.
Aber warum ausgerechnet der Cotentin?
In Cherbourg herrschte schon seit langer Zeit eine Tradition des militärischen Zentralstaats: Beginnend mit dem Bau des Militärhafens in Cherbourg, direkt gegenüber des englischen Feindes, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere unter Napoleon I. und schließlich unter Napoleon III.
Ende der 1950er Jahre war die Fabrik von La Hague zunächst für den Notfall vorgesehen gewesen: Sollte sich in Marcoule am Rhône, der ersten Fabrik zur Wiederaufbereitung von Plutonium – für die Herstellung der französischen Atombombe – ein Unfall oder Brand ereignen, hätte man La Hague in Betrieb genommen. Das CSM ist später daneben errichtet worden, es befindet sich auf dem selben Gelände wie die CEA. Und dies war Militärgeheimnis.
GWR: Gab es Widerstand dagegen?
Didier: Der Widerstand gegen diese Politik ist hier, wie im Rest des Landes und in Deutschland, in den 1970ern wirklich stark geworden, zur Zeit der ersten Ölkrise, als der Staat uns vorgaukelte, die Atomenergie sei der Weg, die energetische Unabhängigkeit zu erreichen. 1972, ist das erste Antiatombündnis aufgrund eines Atomtransports vom Ballungsgebiet Cherbourg nach La Hague entstanden, auf Initiative von Bauern und Lehrern, da war ich dabei.
CRILAN, das Regionale Bündnis für Information und den Kampf gegen Atomenergie ist hier in der Gegend 1975 entstanden. Da stand der Bau von vier Reaktoren in Flamanville an. Es gab Bauplatzbesetzungen (1977), Absperrgitter wurden abgebaut. Es entstanden landwirtschaftliche Zusammenschlüsse wie in Larzac (erfolgreicher Kampf gegen die Erweiterung einer Militärbasis in den 70er), wo jeder sein individuelles Eigentum zur Verfügung stellte um den Widerstand zu stärken. Dies zeugt von der Stärke im Kampf um das Gelände. Es gab Demonstrationen in Flamanville, La Hague, Cherbourg gegen die Ankunft abgebrannter Brennelemente aus Japan und Schweden. Die umfassten 7.000 bis 20.000 Leute.
CRILAN und die örtliche Gewerkschaft CFDT haben im Bahnhof von Mézidon, vor Caen, sogar einen Zug blockiert. Dieser kam aus dem deutschen AKW Biblis: Das ist der einzige Zug gewesen, der dahin zurückgekehrt ist, wo er herkam (September 1981).
Von unserem Rufen nach Gerechtigkeit haben wir uns versprochen, die Bauarbeiten anzuhalten aber wir haben sie nicht verhindern können (Flamanville, Endlager Manche).
Wir sind militärisch besiegt worden, trotzdem haben wir Ende der 70er/ Anfang der 80er zum Teil Siege errungen (nur zwei von vier vorgesehenen Reaktoren wurden in Flamanville gebaut, die Verträge mit Schweden wurden abgebrochen).
GWR: Was ist der aktuelle Stand der Dinge in La Hague?
Didier: Der Umfang der Verträge für UP3 in La Hague ist deutlich zusammengeschrumpft.
- Die Verträge mit Japan wurden beendet: COGEMA-AREVA hat eine neue Fabrik in Rokkascho Mura gebaut, die Japan eventuell ermöglicht, Plutonium für militärische Zwecke aufzubereiten.
- Belgien hat die Wiederaufbereitung 2000 beendet.
- Deutschland hat die Transporte zur Wiederaufbereitung 2005 eingestellt.
- Die Schweiz hat 2006 für ein Moratorium gestimmt.
Es bleiben nur die kleinen Verträge mit Holland. Mit Italien wurde gerade ein Vertrag für 240 Tonnen abgebrannter Brennelemente geschlossen. Obwohl das Land bereits 1987/88 per Referendum aus der Atomenergie ausgestiegen ist.
Gleichzeitig ist ENEL (italienischer Produzent) mit 12,5% am EPR in Flamanville beteiligt, setzt sich nachträglich für einen EPR-Bau im Rhône-Tal ein, um von dort Strom für das italienische Stromnetz zu bekommen.
Die Verträge von 2003 erlauben Wiederaufbereitung von 1.000 Tonnen im Jahr für jede der beiden Fabriken in La Hague, aber nicht mehr als 1700 Tonnen insgesamt (!). Tatsächlich werden nicht mehr als 900 Tonnen im Jahr wiederaufbereitet. Für die Zukunft ist es klar: Eine der beiden Fabriken wird in Betrieb sein, während die andere Pause haben wird.
GWR: Was sind eure Forderungen?
Didier: CRILAN hat sich immer gegen die Wiederaufbereitung von Plutonium gestellt, weil diese die atomare Bewaffnung Frankreichs und anderer Staaten fördert. Aus den selben Gründen haben wir uns 1984 und 1992 auf eindrückliche und kraftvolle Art und Weise im Fall von Japan gegen die Rückkehr des Plutoniums nach der Wiederaufbereitung gestellt.
Wir haben gefordert, dass das Plutonium unter internationaler Kontrolle unnutzbar gemacht wird, in dem man es in sehr kleinen Dosen den hochradioaktiven Abfällen beimengt, um so gut wie unmöglich zu machen, dass es militärischen Zecken von Nutzen sein kann.
Wir sind nach Wackersdorf und Gorleben gefahren, um der Antiatombewegung in Deutschland in ihrem Kampf gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage und eines Endlagers unsere Solidarität auszudrücken.
Wie in Frankreich haben wir auch da die Idee verteidigt, dass es an jeder Region auf dem Erdball selbst ist, ihre eigenen Abfälle zu entsorgen. Deshalb weigern wir uns, sich der Rückkehr atomarer Abfälle in ihr Ursprungsland entgegen zu stellen und beschweren uns gegen die illegale Endlagerung atomarer Abfälle aus dem Ausland in Frankreich. Wir haben bereits erreicht, das strafrechtliche Ermittlungen gegen Cogema eingeleitet wurden und deren Verwaltungssitz in Vélizy durchsucht wurde.
Jeder Produzent ist in der Pflicht – in Frankreich, für EDF, ist dies der Staat, bei euch in Deutschland sind dies die privaten Produzenten – seine eigenen Abfälle an den Standorten der abgeschalteten Atomkraftwerke zu lagern (wir befürworten also KEIN zentrales Endlager, es gibt sowieso kein sicheres Endlager).
GWR: Zurück zum Thema EPR und Flamanville. Wie kam es zu der Entscheidung, einen neuen Reaktor zu bauen? Wie ist der Stand der Dinge? Die Bauarbeiten sollen angefangen haben, habe ich gehört.
Didier: AREVA ist ein Krake, dessen Körper sich nach Frankreich zurückzieht, aber der Konzern möchte seine Tentakel auf der ganzen Welt ausstrecken und nutzt dabei erneut die Ölkrise und den Treibhauseffekt. AREVA (heute AREVA NP – A.d.Ü.) möchte den EPR verkaufen.
Dies geschieht aber momentan nicht unter der Schirmherrschaft der EU.
Es handelt sich um einen Druckwasserreaktor mit größerer Leistung (1650 Megawatt).
2005 wurde die Entscheidung gefällt, in Frankreich einen Prototypen zu bauen – nachdem Sarkozy (damals Wirtschafts- und Finanzminister) und Anne Lauvergeon (Vorstandsvorsitzende von AREVA), zu dieser Zeit ohne Erfolg, aus China zurückgekehrt waren. Es ging darum ein Vorzeigeprojekt zu etablieren, an einem Ort, der bereits im Besitz von EDF war, im Küstengebiet: Entweder in Gravelines im Norden, in Penly in der Nähe von Dieppe oder in Flamanville.
Die Wahl ist zum einen wegen des ungezügelten Lobbyismus der Atomindustrie im Nord-Cotentin auf Flamanville gefallen und zum anderen wegen der lokalen Abgeordneten sowohl der Rechten als auch der Linken. Die „öffentliche Debatte“, gemäß dem Gesetz ist sie obligatorisch, hat erst nach der Bau-Entschiedung durch die Regierung stattgefunden. „Zuerst entscheidet man, danach diskutiert man.“ Die öffentlichen Befragungen (im Rahmen der Planfestellungsverfahren) fanden im Juli 2006 statt, mitten in den Sommerferien, die vorbereitenden Arbeiten bereits im August 2006, weit vor Erteilung der Baugenehmigung Mitte April 2007, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen.
Anfang Dezember 2007 haben die Bauarbeiten für den nuklearen Teil begonnen.
Der Neubau wird mit Gewalt durchgesetzt: Atomenergie und Demokratie sind inkompatibel.
GWR: Wie wirksam ist der Widerstand gegen den EPR? Was hat sich bisher getan?
Didier: Die Schwachstelle des Projekts ist die Notwendigkeit, zusätzliche 400.000 Volt-Hochspannungsleitungen (HSL) in einem Korridor in Richtung der Gebiete an der Loire errichten zu müssen. Der Widerstand aus der Bevölkerung ist vor vier Jahren mit der Gründung der regionalen Gruppe „Grand Ouest“ entstanden. Unter dem Slogan „EPR, Nein danke, weder hier noch anderswo.“ haben sich um die zwanzig Gruppierungen zusammen gefunden – Gewerkschaften, Parteien und Einzelpersonen, dann noch Delegierte der Anti-HSL-Gruppen (inzwischen mehr als 100).
CRILAN ist der Koordinator, jede Gruppierung behält ihre Autonomie.
Es gab Massendemonstrationen: 30.000 Menschen zu Ostern 2006 in Cherbourg und 40.000 in Rennes am 17. März 2007 (60.000 im ganzen Land) haben eine Wiedergeburt der französischen Anti-Atom-Bewegung bewiesen. Dies geschah unter Mitwirkung des Netzwerks für den Atomausstieg „Sortir de Nucléaire“ und der regionalen Kollektive im Westen.
Die Anti-HSL-Gruppen und ihre Koordinatoren haben am 20. Oktober letzten Jahres eine Demonstration mit 7.000 Menschen in Ernée in Mayenne organisiert. Die lokalen Gruppen verstärkten ihre Interventionen und bestürmten die Vertreter von RTE (staatliches Stromversorgungsunternehmen) mit Fragen. Kleine Gruppen haben sehr spektakuläre symbolische Aktionen organisiert, wie die Besetzung eines HSL-Strommastes vor den Präsidentschaftswahlen in Flamanville und später in der Nähe von Fougères im Frühjahr.
GWR: Atomstaat heißt ja bekanntlich Polizeistaat. Seid ihr wie in den 70er-80er Jahren mit Repression konfrontiert?
Didier: Die Repression durch die Polizei ist sehr gegenwärtig und belastend: Es gibt eine Kaserne in Flamanville selbst und die „Gendarmerie cantonale“ (militärische Kreispolizei) aus Pieux. Bekannte AktivistInnen werden sichtbar überwacht, die Polizei wartet vor ihrem Haus, ihre Personalien werden in der Nähe des Atomkraftwerks festgestellt. Strafverfahren z.B. gegen Strommastbesetzer wurden eingeleitet.
GWR: Die Atomindustrie macht Geschäfte über die Grenzen hinaus. Was hältst du von internationalem Widerstand?
Didier: Die Atomenergie deckt nur 2,5 % der weltweit verbrauchten Energie ab. Die Anzahl der geschlossenen (weil veralteten) Reaktoren ist bedeutsamer als die derer, die in Betrieb sind. Ob die Vermarktung des EPR gelingt ist ungewiss, aber Sarkozy wird, als Vertreter von AREVA, mit seiner Ankunft an der Spitze der Europäischen Union im Juni 2008 versuchen, die Entwicklung seines Findelkinds, der Atomenergie, voranzutreiben. Auch im Mittelmeerraum (Ägypten, Libyen, Marokko, Algerien). Das Bündnis von Siemens mit AREVA und Mitsubishi muss auch in Deutschland bekämpft werden. Wir zählen auf euch um gegen den französischen Atombunker und dessen Unterstützer in Industrie und Politik zu kämpfen.
GWR: Wie wäre es mit einer Dauermahnwache mit internationaler Beteiligung beim AKW Flamanville? So etwa wie die Mahnwache vor der WHO (Weltgesundheitsorganisation) in Genf? Was habt ihr vor?
Didier: Was die Perspektiven hier vor Ort betrifft, schauen wir, ob es möglich ist, eine Mahnwache abzuhalten, wie es sie schon vor der WHO in Genf gab.
Es gibt die Möglichkeit, die diesjährigen „Sommeraktionstage“ von „Sortir du Nucleaire“ im Département Manche (Region Basse-Normandie) abzuhalten. Darüber reden wir auf unserer nächsten Vollversammlung.
Die „Désobéissants“ („Ungehorsamen“) wollen ein internationales Camp veranstalten und CRILAN wird schauen, ob es nach deren Konzept funktioniert. Das sind aber nur Projekte, konkret entschieden wurde noch nicht.Gleichzeitig führen die Anti-HSL-Kollektive von jetzt bis März eine Befragung über die aktuell geplanten Leitungen durch. In der Bevölkerung und bei denen, die durch den von RTE geplanten Korridor, Schadstoffemissionen und elektromagnetischer Verseuchung ausgesetzt sind, um die Mobilisierung vor Ort fortzusetzen.
Das Bauprojekt ist im Gange, aber der Kampf geht weiter!