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Talking about your Generation

Warum die westdeutsche 68er-Bewegung nicht ohne die Abgrenzung zum Nationalsozialismus zu denken ist und trotzdem kein Generationenkonflikt war

| Jens Kastner

"Die wirkliche Bedeutung der Revolution von 1968", schreibt Immanuel Wallerstein, "besteht weniger in der Kritik der Vergangenheit als in den Fragen, die sie mit Blick auf die Zukunft aufgeworfen hat." (1)

Was als allgemeine Auslegung der Ereignisse um 1968 einigermaßen plausibel erscheint, muss im Hinblick auf die Situationen und Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland doch eingeschränkt, wenn nicht sogar vollends umgekehrt werden. Denn was die westdeutsche Protestbewegung zu aller erst von vergleichbaren und zeitgleichen Bewegungen in aller Welt unterschied, war die Abgrenzung ihrer Akteurinnen und Akteure von der Geschichte der eigenen Eltern und deren Verstrickungen in das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus.

Im Anschluss an Norbert Elias ist die 68er-Bewegung in der BRD deshalb als „Generationenkonflikt“ gedeutet worden. (2)

„Nationaler Narzissmus-Komplex“ – Umschreibungen der Geschichte

Obwohl es für einige Zeit als Konsens der neueren bundesrepublikanischen Geschichte betrachtet werden kann, dass „68“ und die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte irgendwie zusammenhängen, bleibt eine genauere Schilderung dieses Zusammenhanges selbst bei renommierten Chronisten der Bewegung aus. So finden sich beispielsweise weder bei Wolfgang Kraushaar (3) noch bei Oskar Negt (4) eigene Kapitel zum antifaschistischen Impuls der Bewegung, weder im Hinblick auf die Motivationen ihrer Entstehung noch auf die Wirkungen bzw. Effekte ihres Aufkommens.

Stattdessen wird inzwischen, wie beispielsweise in Gerd Koenens Abrechnungsschinken „Das rote Jahrzehnt“, die Geschichte umgeschrieben.

Dabei wird so getan, als wäre die Bundesrepublik der 1960er Jahre ein zivilgesellschaftlich demokratisches Paradies und die Alt-Nazis nur ein paar nicht ernst zu nehmende Spießer gewesen. Der „Wesenskern des deutschen ’68“ erscheint dann als nichts anderes als das Produkt eines „nationalen Narzißmus-Komplexes“. (5)

Gewissermaßen eine Fortschreibung von Elias‘ These, an deren Anfang die Erschütterung des deutschen „Wir-Gefühls“ steht – bei Koenen allerdings löst sich noch der Konflikt der Generationen auf, und übrig bleibt nur noch eine Generation mit Psychoknacks.

Was die bundesdeutschen 1960er Jahre betrifft, gab die Realität hingegen sicherlich einige Anlässe für antifaschistische Motivationen: Nicht zuletzt die erst in den letzten Monaten wieder geführte Debatte um nationalsozialistische Amtsträger, die in den Gründungsjahren staatstragender Institutionen wie dem Bundesnachrichtendienst, dem Verfassungsschutz und dem Bundeskriminalamt führende Ränge wie niedere Posten bekleidet haben, zeugen davon.

Nazi-Mief, Nazi-Posten, „Nazi-Juden“ und „Nazi-Serben“ – Abgrenzungen vom Nationalsozialismus

Die zentrale Dimension, die die nationalsozialistische Vergangenheit für die westdeutsche Studierenden- und Protestbewegungen einnahm, äußerte sich auf verschiedenen Ebenen: Viele der AktivistInnen waren in Milieus aufgewachsen, in denen nationalsozialistische Ideologien und Einstellungen sich auch in den 1950er und 1960er Jahren nach wie vor großer Lebendigkeit erfreuten.

Hans-Jürgen Krahl beispielsweise schildert diesen 1950er Jahre-Mief in seinen „Angaben zur Person“. (6) Das Schweigen der Eltern und Großeltern über die nationalsozialistischen Verbrechen war von vielen am eigenen Leib erfahren worden.

Zum zweiten äußerte sich die Wichtigkeit der NS-Vergangenheit schon früh in den expliziten Forderungen und impliziten Bezugnahmen der Bewegung, die sich vor allem gegen führende Repräsentanten der bundesrepublikanischen Politik richteten. Schon anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Attentates auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 hatten Studierende die Absetzung des Staatssekretärs im Entwicklungshilfe-Ministerium, Friedrich Karl Vialon, wegen dessen NS-Vergangenheit gefordert. (7)

In Aachen veranstalteten namhafte deutsche Künstler, darunter Wolf Vostell, Bazon Brock und Joseph Beuys, eine umstrittene alternative Gedenkfeier zum 20. Juli (von der sich allerdings sowohl der AStA der RWTH Aachen als auch Nachfahren der WiderständlerInnen vom 20. Juli distanzierten). (8)

Das ist nur ein Beispiel dafür, dass es nicht nur die ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Alt-Nazis in Politik, Justiz und Verwaltung war, die die Bedeutung der NS-Geschichte widerspiegelt. Auch symbolische Bezugnahmen wie jene innerhalb der politisch inspirierten, künstlerischen Produktionen dieser Jahre sind Ausdruck davon.

Drittens sind viele der politischen Angriffsziele und der Kulminationspunkte der Bewegungen von 1968ff. gar nicht zu begreifen, werden sie nicht vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und als gewissermaßen reflektierter Reflex auf diese interpretiert.

Das gilt auch und gerade für die besonders paradoxen Ausformungen des Protests: Widersprüchlich ist in dieser Hinsicht erstens die Haltung gegenüber den USA. Zwar hatte die US-Armee die Deutschen vom Nationalsozialismus befreit und hätte von der Studierendenbewegung insofern als Verbündete betrachtet werden können. Stattdessen aber wurden die USA schnell zum Gegner Nr.1, die sogar mit der Politik des NS-Regimes in einem Atemzug genannt wurden (eine Demoparole lautete „USA, SA, SS“).

Widersprüchlich ist zweitens die Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden.

Statt als Opfer des Nationalsozialismus wurden Jüdinnen und Juden bald allgemein mit der Politik Israels (gegenüber den PalästinenserInnen) identifiziert und in dessen Folge sogar Ziel antiimperialistisch begründeter, militanter Anschlagsversuche. (9)

Dem wiederum widerspricht die – sogar von Theodor W. Adorno in einem Interview geteilte – Selbstbeschreibung der Studierenden als verfolgte „Juden von heute“, die schließlich in der von RAF-Mitgliedern bemühten Gleichsetzung des Hochsicherheitsgefängnisses von Stammheim mit den NS-Konzentrationslagern gipfelte. (10)

Und viertens weist nicht zuletzt die politische Instrumentalisierung der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte, die von der Rot-Grünen Bundesregierung als selbst ernannte „68er an der Macht“ betrieben wurde, auf deren Zentralität für die westdeutsche Protestbewegung hin.

So wurde eine der wichtigsten außenpolitischen Entscheidungen der 1990er Jahre, der Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien 1999, vom damaligen Außenminister Joseph Fischer ausdrücklich mit den Lehren begründet, die seine Generation aus Auschwitz gezogen habe.

Aufstrebende Junge gegen arrivierte Alte – Generationenkonflikt als sozialer Konflikt

Norbert Elias konzipierte den Generationenkonflikt ausdrücklich nicht als Konflikt zwischen verschiedenen einzelnen Eltern und ihren Kindern. Stattdessen betonte er, der Generationenkonflikt sei ein „sozialer Konflikt“. (11)

Wenn auch im Hinblick auf die deutsche Geschichte formuliert, weist er damit bereits über das konkrete Beispiel hinaus. Denn diese Art von Konflikten existiert in jeder Gesellschaft (in unterschiedlicher Ausprägung): Überall kämpfen aufstrebende Jüngere gegen bereits aufgestiegene Ältere um gesellschaftliche Positionen und den Zugang zu ihnen.

Neben der Abgrenzung von den Nazi-Eltern scheint hier also eine zweite Erklärung für das Aufkommen der Bewegung auf: die Kluft zwischen dem Versprechen von gesellschaftlichem Aufstieg auf der einen und der Realität von Bildungsexpansion und Wirtschaftskrise auf der anderen Seite, die einem glatten Hineinrutschen in die vermeintlich vorgesehenen Positionen deutlich im Wege standen.

Deshalb, grob zusammengefasst, wurden überhaupt erst und ausgerechnet die Studierenden zu TrägerInnen des Protests.

Tschombé, Transformation und Tomatenwurf – Internationale Dimension und politische Inhalte

Auch als sozialer Konflikt reicht der Generationenkonflikt aber bei weitem nicht aus, um die Motive und Motivationen der 68er-Bewegungen hinreichend zu erläutern. Und zwar vor allem aus zwei Gründen.

Zum einen kann es die internationale Dimension, die trotz bzw. neben der Eingebundenheit in die nationale Geschichte auch für die westdeutsche Bewegung zentral war, nicht angemessen beschreiben.

Wichtige Inhalte wie die Ablehnung des Vietnam-Krieges oder die positive Identifizierung mit der palästinensischen Befreiungsbewegung wurden zwar, wie oben erwähnt, in einem spezifisch deutschen Erklärungskontext gedeutet bzw. „geframed“.

Sie sind aber dennoch ohne die allgemeine antiimperialistische Ausrichtung und die Bezugnahme auf die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen in der so genannten Dritten Welt nicht denkbar.

Dementsprechend bezeichnete auch Rudi Dutschke die Proteste gegen den kongolesischen Ministerpräsident Moise Tschombé im Dezember 1964 als „Beginn unserer Kulturrevolution“. (12)

Tschombé galt als einer der Verantwortlichen für die Ermordung seines Vorgängers und antikolonialen Hoffnungsträgers Patrice Lumumba.

Würde man nun versuchen, auch die internationalen Bewegungen um 1968 im Rahmen von Generationenkonflikten zu erklären, müsste man schließlich vollends scheitern.

Zwar gab es auch in anderen Ländern, wie in Frankreich hinsichtlich des Algerienkrieges, Abgrenzungen von den Taten der älteren Generation. (13)

Bewegungen wie die in Jugoslawien oder in Mexiko, wo explizit an die Errungenschaften der Eltern- bzw. Großelterngeneration (im Kampf der Partisaninnen und Partisanen bzw. in der Revolution) angeknüpft und deren vollständige Durchsetzung gefordert wurde, geraten mit dem Generationenkonflikt-Paradigma allerdings völlig aus dem Blick.

Hinzu kommt, dass die Bewegungen um 1968 im internationalen Maßstab keinesfalls dermaßen von Studierenden geprägt waren, wie das in Westdeutschland der Fall gewesen ist. (14)

Der Generationenkonflikt spielt sich aber hauptsächlich in aufstiegsorientierten, also bürgerlichen Milieus ab und ist für andere gesellschaftliche Bereiche, insbesondere Arbeitermilieus, wesentlich weniger relevant.

Zweitens können auch die politischen Inhalte der Bewegung vor dem Hintergrund dieses Paradigmas kaum angemessen verstanden werden. Antikoloniale Befreiung, rätesozialistische Modelle, Neomarxismus, Neoanarchismus oder Feminismus werden dann zu austauschbaren „Ideologien“, die sich die Bewegungen mehr oder weniger zufällig angeeignet haben.

Stattdessen müssen sie aber als wesentliche Mobilisierungsfaktoren betrachtet werden.

Es war also weniger das abstrakte „Problem des Sinnhungers“ (15) einer Generation, das Elias fokussiert, als vielmehr die konkrete Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, die die Bewegungen mit hervorgebracht haben: kein Wiederaufleben der Idee von Rätedemokratie ohne die Analyse einer reaktionären „Transformation der Demokratie“ (Agnoli/Brückner) während der großen Koalition, kein feministischer Tomatenwurf gegen den SDS-Vorstand ohne die Kritik an den patriarchalen Strukturen auch innerhalb der Bewegung, etc.

Dass emanzipatorische Kritik an herrschenden Verhältnissen Protestbewegungen hervorbringen und tragen kann, wird aber mit dem Fokus auf allgemeine Sinnsuche, die das Generationenparadigma vorschlägt, übersehen bzw. geleugnet.

Um aber die Fragen, die, wie Wallerstein schreibt, um 1968 im Hinblick auf die Zukunft aufgeworfen wurden, auf emanzipatorische Weise zu beantworten, muss auch die Vergangenheit, in deren Abgrenzung sie gestellt wurden, immer wieder rekonstruiert werden.

(1) Wallerstein, Immanuel: 1968 - Revolution im Weltsystem, in: Francois, Etienne, Matthias Middel, Emmanuel Terray und Dorothee Wierling (Hg.): 1968 - ein europäisches Jahr? Leipzig 1997 (Leipziger Universitätsverlag), S. 19-33, hier S. 33.

(2) Elias, Norbert: 5. Der bundesdeutsche Terrorismus - Ausdruck eines sozialen Generationenkonflikts, in: ders.: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992 (Suhrkamp Verlag), S. 300-389.

(3) Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Chiffre, Mythos und Zäsur, Hamburg 2000 (Hamburger Edition).

(4) Negt, Oskar: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995 (Steidl Verlag).

(5) Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001 (Verlag Kiepenheuer und Witsch), S. 34.

(6) Krahl, Hans-Jürgen: Angaben zur Person [1969], in: ders.: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Frankfurt a. M. 1971 (Verlag Neue Kritik), S. 19-30.

(7) Vgl. Meinhof, Ulrike: Zum 20. Juli [1964], in: dies.: Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken, Berlin 1988 (Verlag Klaus Wagenbach), S. 49-51, hier S. 50.

(8) Vgl. Papenbrock, Martin: Happening, Fluxus, Performance. Aktionskünste in den 1960er Jahren, in: Klimke, Martin und Joachim Scharloth (Hg.): Handbuch 1968. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007 (Verlag J. B. Metzler), 137-149.

(9) Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005 (Hamburger Edition).

(10) Vgl. Krug, Uli: Gefühltes Gas. Der Mythos von der Vernichtungshaft. Wie sich die RAF an die Stelle der ermordeten Juden setzte und das Land der Überlebenden zum faschistischen Staat erklärte, in: Jungle World, Berlin, Nr. 18, 2. Mai 2007, www.jungle-world.com/seiten/2007/18/9862.php

(11) Elias 1992, a.a.O., S. 316.

(12) Zit. n. www.glasnost.de/hist/apo/DutschkeTschombe.html (03.01.2008)

(13) Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA, München 2003 (Verlag C.H. Beck), 2. Aufl., hier S. 56ff.

(14) Vgl. Bernd Gehrke/Gerd Rainer Horn (Hg.): 1968 und die Arbeiter. Studien zum "proletarischen Mai" in Europa, Hamburg 2007 (VSA).

(15) Elias 1992, a.a.O., S. 313.

Anmerkungen

Vom Autor erscheint in Kürze der gemeinsam mit David Mayer herausgegebene Band "Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive", Mandelbaum Verlag, Wien 2008.