Ende Januar 2006 versammelten sich in einem (von Chinesen erbauten und schon arg ramponierten) Stadion am Rande Nairobis etwa 50.000 AktivistInnen recht unterschiedlicher sozialer Bewegungen (und solcher, die sich dafür halten), um mittels eines relativ kunterbunten Treibens das jährliche Weltsozialforum (WSF) zu zelebrieren.
Es war nicht ganz der erhoffte Erfolg und hatte andauernde Strategiedebatten zur Folge. Jenseits des Unbehagens, was es denn mit dem WSF eigentlich genau auf sich hat, blieb aber auch bei vielen der ausländischen Teilnehmenden der Eindruck, dass es sich bei dem Schauplatz Nairobi zwar um ein Terrain mit ausgeprägtem Hang zu Eigentumsdelikten handelt, nicht aber um die Hauptstadt eines chaotischen afrikanischen Landes, in dem die Barbarei an jeder Ecke lauert. – Ein Jahr später aber hätte das WSF an dieser Stelle angesichts der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse wohl kaum stattfinden können.
Seit Ende Dezember 2007 weckten die Hiobsbotschaften aus Kenia erneut die alten Stereotypen hinsichtlich eines afrikanischen Kontinents, in dem sich skrupellose machtgeile Despoten (und jene, die es gerne werden wollen) keinen Deut ums Volk scheren. Letzteres kommt nur zupass, wenn es entgegen des seit der Dekolonisierung als offiziellem Diskurs bemühten „nation building“ entlang partieller Regionalidentitäten instrumentalisiert und gegeneinander aufgehetzt werden kann. Der „Tribalismus“ feierte so seit dem offenen Konflikt zwischen Raila Odinga und Mwai Kibaki als Folge des vermuteten Wahlschwindels – wohl nicht nur als klischeehafte Worthülse, sondern relevante (wenn auch nicht ausreichende) Kategorie – traurige Urständ.
Ganz so simpel ist die politische Realität auf dem Kontinent im 21. Jahrhundert allerdings nun doch nicht. Was vielleicht noch vor ein paar Jahren als intriganter Machtkampf zwischen zwei ähnlich korrupten Geldsäcken mit unterschiedlicher ethnisch-regionaler Verankerung hätte über die Bühne gehen können, läuft nicht mehr so ganz automatisch nach den alleinigen Regieanweisungen der Macht versessenen Politiker ab. Während das Szenario in Bezug auf die Projektionsfläche Afrika nur allzu vertraut war, ließen die innerafrikanischen Reaktionen eine neue Sensibilität erkennen. So wurde dem sich flugs zum neuen alten Staatschef kürenden Kibaki die Anerkennung seiner Amtskollegen in den anderen Staaten der Afrikanischen Union (AU) weitgehend verweigert.
Dadurch ließ sich nicht zur Tagesordnung übergehen und den Machtkampf mit den herkömmlichen Mitteln der physischen Gewalt beenden, die auch aufgrund gedungener Mörderbanden in den Ghettos wütete. Nach deren Ausbruch fanden sich binnen Wochenfrist mit Joaquim Chissano, Kenneth Kaunda, Benjamin Mkapa und Ketumile Masire gleich vier ehemalige afrikanische Präsidenten in Nairobi ein, um mit dem Gewicht der „elder statesmen“ zu einer Vermittlungsinitiative beizutragen. Zwar war das Quartett wenig erfolgreich, signalisierte aber dennoch mit seiner Präsenz ein gewandeltes Politikverständnis auf dem Kontinent. Sie erklärten ihre Anwesenheit mit dem Bedürfnis, sich in Zeiten der Not auf die Seite des kenianischen Volkes zu stellen. Das sind neue und ungewohnte Töne (deren Grad an Glaubwürdigkeit gesondert zu diskutieren wäre). Immerhin schaffte es Kofi Annan – unterstützt von Graça Machel und anderen politischen „celebrities“ – ein paar Wochen später, einen Kuhhandel (sprich: eine Machtteilung) zwischen den beiden Konkurrenten auszuhandeln, von denen sich der „newcomer“ (Odinga) wohl nicht ganz zu unrecht vom alten und neuen Amtsinhaber (Kibaki) um seinen Teil geprellt sah.
Tatsächlich ließ sich mit dem Übergang von der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) zur Afrikanischen Union (AU) seit Beginn des Jahrhunderts eine Zäsur im kontinental organisierten Politikverständnis ausmachen. Das bis dahin sakrosankte Nichteinmischungsgebot in die Angelegenheiten von Mitgliedsstaaten wurde von der Pflicht zur Intervention durch die Staatengemeinschaft in besonders schweren Fällen der Missachtung völkerrechtlicher Grundprinzipien abgelöst. Die, wenn auch unzureichende, Präsenz afrikanischer Truppen in Darfur ist nur ein prominentes Beispiel.
Das neue Engagement für menschliche Sicherheit funktionierte seither zwar nicht immer und auch meist nicht sonderlich überzeugend, kam aber dennoch einem grundsätzlichen Kurswechsel gleich. Der signalisierte, dass es ohne ein Minimum an Legitimität auch auf dem afrikanischen Kontinent mittlerweile (fast) nicht mehr geht. – Auch wenn dies in dem aktuellen Fall des Tschad zu der ironischen Situation führt, dass sich ein Diktator, der sich an die Macht putschte, nunmehr vor Ereilung desselben Schicksals wie das seines Vorgängers durch Truppen der ehemaligen Kolonialmacht mit ausdrücklicher Billigung durch die AU schützen lassen kann.
Besonders zynische BeobachterInnen könnte dies in Erinnerung an Zeiten eines Mobutu Sese Seko zu der Schlussfolgerung reizen, dass sich entgegen der bislang hier vorgebrachten Behauptungen eigentlich rein gar nicht geändert habe. Hat sich aber doch. Denn der (verhinderte) Fall von Idriss Déby im Tschad zeigt ebenso wie die derzeit sich abzeichnende Kompromisslösung in Kenia, dass es ohne ein Minimum an Einhaltung formaler Spielregeln schwerer wird, sich die Rückendeckung der afrikanischen Staatengemeinschaft zu sichern. – Dass es dessen ungeachtet nach wie vor möglich ist, das Volk gründlich zu bescheißen, zeigen leider nur allzu viele Beispiele, zu denen eben auch Kenia gehört.
Anmerkungen
Dr. habil. Henning Melber ist Direktor der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala, wo er bis Ende 2006 als Forschungsdirektor am "Nordic Africa Institute" (NAI) war. Von 1992 bis 2000 leitete er die "Namibian Economic Policy Research Unit" (NEPRU) in Windhoek. Seit 1974 ist er Mitglied der "SWAPO of Namibia".