Am 4. April 1968 wurde der afroamerikanische Bürgerrechtsaktivist Dr. Martin Luther King Jr. (*15.1.1929) von einem Rassisten in Memphis erschossen.
Clayborne Carson war Mitglied im SNCC, der in den sechziger Jahren bedeutendsten Organisation der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der Autor von "Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren" (Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2004, 638 Seiten, ISBN 3-9806353-6-8) ist Geschichts-Professor an der Stanford University und Direktor des Martin Luther King Jr. Papers Project. Für sein Buch wurde er von der Organization of American Historians ausgezeichnet. Für die LeserInnen der Graswurzelrevolution hat er den folgenden Artikel "King's Dream and Nightmare" geschrieben (GWR-Red.).
Anfang 1968 wurde Martin Luther King Jr. bewusst, dass er vom Gipfel des Berges in ein Tal der Verzweiflung hinabgestiegen war. 1963 hatte er auf dem Marsch nach Washington für Arbeit und Freiheit über seinen Traum gesprochen, Amerika werde „sich erheben und der wahren Bedeutung seines Glaubensbekenntnisses gerecht werden“, aber in der Zwischenzeit war dieser Traum dem Alptraum einer eskalierenden militärischen Intervention in Vietnam und zunehmender Gewalt zwischen Schwarz und Weiß in den US-amerikanischen Großstädten gewichen (1).
Die überschwängliche revolutionäre Rhetorik der AntikriegsaktivistInnen der Neuen Linken und der Black-Power-Protagonisten stand in scharfem Gegensatz zu Kings Ernüchterung.
Einige von uns glaubten, er radikalisiere sich zunehmend, in Wirklichkeit jedoch war er ein Prophet mit wachsenden Zweifeln.
Seit Beginn seines geistlichen Wirkens war seine Botschaft eines sozialen Evangeliums trotz der sich ändernden Umstände dieselbe geblieben. Inmitten der antikommunistischen Hysterie Anfang der 50er Jahre hatte King an seine spätere Frau Coretta Scott geschrieben: „Der Kapitalismus kann nicht mehr als nützlich gelten, da er den Massen das Notwendige nimmt, um die herrschende Klasse mit Luxusgütern zu versorgen.“ (2) Den Kommunismus lehnte er ab, sah ihn jedoch als „notwendiges Korrektiv eines allzu passiven Christentums und einer allzu trägen Demokratie“ (3).
Ab Mitte der 50er Jahre, als er im Zuge des Busboykotts von Montgomery zur prominenten schwarzen Führungsfigur geworden war, behielt King diese Ansichten größtenteils für sich, aber er sprach oft zuversichtlich davon, „zwischen zwei Welten“ zu stehen – „der sterbenden alten und der werdenden neuen Welt“. Schon bald nach dem Erfolg des Boykotts machte er darauf aufmerksam, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung systematisch unterdrückt wurde – „all diese Menschen wurden politisch beherrscht, wirtschaftlich ausgebeutet, diskriminiert und gedemütigt“. Schon bevor die nationalistischen Bewegungen Afrikas die Oberhand gewannen, sah er „die alte Ordnung des Kolonialismus und des Imperialismus verschwinden und die neue Ordnung der Freiheit und Gerechtigkeit entstehen“ (4).
1957 wohnte King den Unabhängigkeitsfeiern in Ghana bei. Das Ende der Kolonialherrschaft in Afrika und Asien sah er als Inspiration für die Massenproteste, die in den USA fundamentale Bürgerrechte und ihre gesetzliche Verbriefung erkämpften. Dass er 1964 den Friedensnobelpreis erhielt, stärkte Kings globales Sendungsbewusstsein: „Ich bin so kühn zu glauben, dass die Menschen überall drei Mahlzeiten am Tag für ihren Körper, Bildung und Kultur für ihren Geist und Würde, Gleichheit und Freiheit für ihre Seele haben können.“
Er betonte: „Die wohlhabenden Nationen müssen alles tun, um die Kluft zwischen der reichen Minderheit und der armen Mehrheit zu überbrücken.“ (5)
Allerdings teilten viele von Kings Verbündeten in der Bürgerrechtsbewegung seine Vision von Frieden und sozialer Gerechtigkeit nicht in vollem Umfang, und seine immer klarer hervortretende Kriegsgegnerschaft belastete sein Verhältnis zu Präsident Lyndon Johnson. Obwohl King Johnsons „Great Society“-Programm (6) unterstützte, konnte keiner der beiden Männer das Auseinanderfallen der liberaldemokratischen Koalition verhindern. Der Voting Rights Act von 1965 (7) war der letzte größere Sieg, den Kings gewaltfreie Proteststrategie in Form eines Gesetzes verbuchen konnte.
King hegte mehr und mehr den Verdacht, dass sich die Prioritäten der Nation stärker an den Sachzwängen des Kalten Krieges als an demokratischem Idealismus orientierten. Zunächst vermied er es, Johnsons militärische Eskalation in Vietnam öffentlich zu kritisieren; im privaten Umfeld jedoch beklagte er die Zeichen globalen Rückschritts – die US-amerikanische Besetzung der Dominikanischen Republik, den von der CIA unterstützten Sturz des ghanaischen Staatspräsidenten Kwame Nkrumah, den vom Westen gesteuerten Mord am kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba und die fortgesetzte Unterstützung des südafrikanischen Apartheidregimes durch die USA.
Erst im April 1967, in seiner Ansprache in der Riverside Church in New York, wandte sich King in aller Deutlichkeit öffentlich gegen den Vietnamkrieg. Der Krieg habe „ein leuchtendes Moment“ des Kampfes ausgelöscht, der „den Armen wahrhaft Hoffnung versprochen habe“. Johnsons Programm der Armutsbekämpfung sei „zerbrochen und ausgeweidet worden, als wäre es ein verächtliches politisches Spielzeug einer durch den Krieg verrückt gewordenen Gesellschaft“. Eine „tiefsitzende Erkrankung des amerikanischen Geistes“ führe dazu, dass „die Anwesenheit US-amerikanischer Militärberater in Venezuela“ ebenso wie „konterrevolutionäre“ Interventionen in Guatemala, Kambodscha und Peru für richtig gehalten würden. „Ich bin überzeugt, dass unser Volk eine radikale Revolution der Werte durchlaufen muss, wenn es sich auf die richtige Seite der Weltrevolution stellen will.“ (8)
Kings Rede in der Riverside Church bewahrt noch Spuren seines früheren Optimismus: „Die barfüßigen und hemdlosen Bauernmassen erheben sich, wie sie es nie zuvor getan haben. Das Volk, das im Finstern sitzt, sieht ein großes Licht. (9) Wir im Westen müssen diese Revolutionen unterstützen.“ Zugleich jedoch spottet er über die „traurige Tatsache, dass die westlichen Nationen, die den revolutionären Geist der modernen Welt recht eigentlich begründeten, aus Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, krankhafter Angst vor dem Kommunismus und der Neigung, Ungerechtigkeiten als unvermeidlich hinzunehmen, nun zu ausgemachten Revolutionsfeinden geworden sind“ (10).
Die zu Beginn des Jahres 1968 einsetzende Poor People’s Campaign (Kampagne der armen Leute) spiegelte Kings verbliebene Hoffnung wie auch seine wachsende Verzweiflung.
Die radikalen AntikriegsaktivistInnen und die Hitzköpfe aus der Black-Power-Bewegung zeigten nur halbherzige Unterstützung für seinen Versuch, Tausende armer Leute zusammenzubringen, um die Regierungsvertreter in Washington, D.C. zur Rede zu stellen. Dennoch wurde King im FBI-Spionageabwehrprogramm zur Störung, Fehlleitung, Diskreditierung oder anderweitigen Neutralisierung „schwarzer nationalistischer Hassgruppen“ (COINTELPRO) prompt als Zielperson aufgeführt. Im März 1968 bezeichnete Edgar J. Hoover, der Leiter des FBI, King als „sehr ernst zu nehmenden Kandidaten“ für die Rolle „eines ‚Messias‘, der die Bewegung des militanten schwarzen Nationalismus einigen und elektrisieren könnte“.
Obwohl King in seinen Überzeugungen fest blieb, geriet sein Optimismus ins Wanken, während er sich mühte, arme Menschen für seine Kampagne zu gewinnen. Seine Verbündeten aus der Bürgerrechtsbewegung kritisierten seine neue Richtung und seine traditionellen Kritiker verstärkten ihre Angriffe. King fühlte sich isoliert und ahnte seinen bevorstehenden Märtyrertod. „Als ich das Kreuz auf mich nahm, kannte ich seine Bedeutung“, sagte er zu seinen Kollegen auf der Southern Christian Leadership Conference. „Das Kreuz ist etwas, das du trägst und an dem du letztlich stirbst.“ (11)
Zu seinem Vater sprach er von Hinweisen „aus privaten, aber auch aus Regierungskreisen“, dass ein Mordversuch auf ihn geplant war. „Ich muss meine Arbeit weiterführen, ganz gleich, was nun geschieht, denn ich bin zu sehr Teil dieser Sache, um aufzuhören. Manchmal möchte ich einfach eine Weile wegfahren, irgendwohin, mit Coretta und den Kindern, und privat ein paar ruhige Tage verbringen, wie andere Amerikaner das auch tun – Pfarrer King und seine Familie. Aber ich weiß, dass es dafür jetzt zu spät ist.“
Seine Predigt in der Ebenezer Church von Atlanta am 3. März 1968 war eine Abhandlung über das Leben als „ununterbrochene Geschichte zerbrochener Träume“. Mahatma Gandhi sei „mit gebrochenem Herzen gestorben“, weil er die Teilung Indiens nicht habe verhindern können, und Woodrow Wilson sei gestorben, ohne seinen „Traum eines Völkerbundes“ verwirklichen zu können. Vor diesem Hintergrund gestand King seine eigene Entmutigung ein. „Einige von uns versuchen, einen Tempel des Friedens zu bauen. Wir wenden uns gegen den Krieg, wir protestieren, aber es scheint, wir rennen mit dem Kopf gegen die Wand.“
Kings frühe prägende Erfahrungen des Zusammenhalts in der Familie hatten ihn einst mit Vertrauen in die menschliche Natur erfüllt, aber über die Jahre war er sich zunehmend der Macht und Hartnäckigkeit sozialer Missstände und individueller Sünde bewusst geworden. „Im Herzen der menschlichen Natur besteht eine Spannung, und wenn wir uns aufmachen, unsere Träume zu leben und unsere Tempel zu erbauen, müssen wir so ehrlich sein und diese Spannung anerkennen“, forderte King. Trost fand er in der biblischen Geschichte von David, der es nicht schaffte, einen festen Tempel zu erbauen, aber dennoch Gnade vor Gottes Augen fand. „Ich bin ein Sünder wie alle Kinder Gottes“, bekannte King, „aber ich möchte ein guter Mensch sein. Und ich möchte eines Tages eine Stimme hören, die mir sagt: ‚Ich nehme dich auf und ich segne dich, denn du hast es versucht.'“ (12)
Im letzten Monat seines Lebens reiste King nach Memphis, um die streikenden Müllarbeiter zu unterstützen, deren hartnäckiger Kampf seine schwindenden Hoffnungen auf weltweite Gerechtigkeit und individuelle Erlösung belebte. In seiner letzten Rede am Abend des 3. April 1968 gestand King ein, die Welt sei „total durcheinander“, betonte aber auch, er hätte kein anderes Zeitalter wählen mögen: „Ich sehe in dieser Phase des zwanzigsten Jahrhunderts Gott am Werk. In unserer Welt geschieht etwas. Die Massen erheben sich. Und wo immer sie sich heute versammeln, ob in Johannesburg, Südafrika; Nairobi, Kenia; Accra, Ghana; New York City; Atlanta, Georgia; Jackson, Mississippi; oder Memphis, Tennessee – ihr Ruf ist stets derselbe: ‚Wir wollen frei sein!'“ Gott habe ihm erlaubt, auf den Berg zu steigen und „das Gelobte Land zu sehen“.
Wie Moses werde er selbst vielleicht nicht mehr im Land, wo Milch und Honig fließen, leben dürfen, „aber ich will, dass ihr heute wisst: Unser Volk wird das Gelobte Land erreichen.“
Dieser letzte Ausbruch von Optimismus lenkte die öffentliche Wahrnehmung weg von dem Pessimismus, der Kings letztes Lebensjahr beherrscht hatte.
King hatte das Ende langjähriger Unterdrückungssysteme erlebt – der Rassentrennung in den USA und des europäischen Kolonialismus-, war aber auch Zeuge des unerwarteten Beginns einer neuen, konservativen Weltordnung. Die radikalen Wortführer der Neuen Linken und der Black-Power-Bewegung, die sich über ihn lustig machten, würden niemals an die Macht kommen. Johnson sollte der letzte demokratische US-Präsident sein, der von einer Mehrheit weißer Wähler unterstützt wurde. Bald würde der Konservatismus den Liberalismus aus dem ideologischen Zentrum der amerikanischen Politik verdrängen.
Heute wird King für den Optimismus seines Traums geehrt, aber sein Dienst am sozialen Evangelium endete, wie er begann – mit unerfüllten Träumen von einer gerechten Gesellschaftsordnung, die nach wie vor nicht existiert. Das Wissen um sein Leben und seinen Tod kann uns jedoch helfen, mit den beunruhigenden Verhältnissen des 21. Jahrhunderts zurechtzukommen: den Nachwirkungen vergangener Unterdrückung, der breiter werdenden Kluft zwischen Arm und Reich und der unvermeidlichen Spannung zwischen mehr Demokratie und kultureller Vielfalt.
King hat diese Probleme nicht gemeistert, aber er hat es bis zu seinem Tod versucht.
(1) Autobiography of Martin Luther King, Jr., S. 226.
(2) Autobiography, S. 36.
(3) King, "Communism's Challenge to Christianity," 9. August 1953, in The Papers of Martin Luther King, Jr., Volume VI, Advocate of the Social Gospel, September 1948 - March 1963
(4) "Facing the Challenge of a New Age," Address Delivered at the First Annual Institute on Nonviolence and Social Change," 3 December 1956, Papers 3
(5) Autobiography, S. 260.
(6) innenpolitisches Programm zur Bekämpfung von Armut und Rassismus (Anm.d.Ü.)
(7) Wahlrechtsgesetz mit dem Ziel, der Diskriminierung von Minderheiten im einzelstaatlichen Wahlrecht entgegenzuwirken (Anm.d.Ü.)
(8) Autobiography, S. 337, 340.
(9) nach Jesaja 9,1 (Anm.d.Ü.)
(10) Autobiography, S. 341.
(11) "Das Kreuz kann auch den Tod deiner eigenen Popularität oder den Tod deiner Brücke zum Weißen Haus bedeuten." Autobiography, Kap. 31
(12) Autobiography, S. 357, 358, 359
Dies ist ein Beitrag aus dem GWR-Archiv. Schnupperabos der Druckausgabe der GWR zum Kennenlernen gibt es hier