68 war für mich ein unglaubliches, verrücktes Jahr, mit Höhen und Tiefen, die ich mir vorher nicht hatte vorstellen können.
Es war eine beschissene Zeit, ich hatte nur Probleme, in der Schule, mit den Eltern, mit der Polizei, mit der ganzen verlogenen, aggressiven, damals so genannten „Schweigenden Mehrheit“, die mich anrempelte, mir Prügel androhte, die Polizei auf mich hetzte. Trotzdem stand mir die Welt offen, wie ich es seitdem selten erlebt habe.
Alles war möglich, eigentlich war es so schlimm, dass es nur noch besser werden konnte.
Und das war großartig!
Der höchst persönliche „Mai“ fing nicht erst im Mai an, er hatte eine Vorgeschichte von mehreren Monaten. Ich hatte zum ersten Mal vor Gericht gestanden, Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz, war von zwei Schulen geflogen und hatte mit dem bürgerlichen Leben abgeschlossen, wenn ich denn je eins besessen hatte.
In der Zeitung stand jede Menge über revoltierende Studenten, doch das war nur halb so spannend wie die neuen Songs von Bob Dylan oder ein paar neue Gitarren-Akkorde, die ich mir am Gammler- oder Hippie-Treff in Dortmund abgeschaut hatte.
Gegen die Phrasen von der „revolutionären Arbeiterklasse“ aus dem Mund von Kindern reicher Eltern war ich ziemlich immun, schließlich war ich selbst ein Spross dieser Klasse und kannte außerhalb der Schule nur Malocher oder Malocherkinder. Ich kannte Kohlenhalden und Kokereien und fand sie nicht so romantisch wie meine späteren, studentischen Freunde.
Vieles aus den Monaten vor dem Mai 68 verliert sich bei mir allerdings im Dunkel von Hauseingängen, Parkbänken, Industriebrachen und anderen zugigen Orten, an denen wir unbemerkt alles, was sich als Droge eignete, ausprobierten. Ich muss gestehen, mein Gedächtnis hat in dieser Zeit gelitten, und mir fehlen die Erinnerungen an fast ein halbes Jahr.
Doch der Mai begann glorreich. Während irgendwo Studenten und Gewerkschafter den „Kampftag der Arbeiterklasse“ feierten, versammelten sich die Gammler und Hippies in einem schönen Park, um das Leben zu feiern. Und noch etwas mehr. Zum ersten Mal hatten es richtig gute LSD-Trips über die Grenze von Amsterdam ins Ruhrgebiet geschafft!
Die Sonne schien von morgens bis abends. Glücklicherweise passte eine Freundin den ganzen Tag auf mich auf. Während ich durch die Wolken schwamm, mit Bäumen tanzte und was weiß ich für verrückte Dinge tat, hielt sie meine Hand und sorgte dafür, dass ich nicht auf Nimmerwiedersehen davon flog. Vielen Dank dafür, an dieser Stelle!
Doch das war nur der Auftakt zu Größerem!
Wir, drei Jungs und zwei Mädchen, hatten abgeschlossen mit dem trägen, langweiligen Leben in einer Provinzstadt. Wir waren in Amsterdam, in Kopenhagen und Berlin gewesen und wollten jetzt endgültig zum Puls der Zeit.
Wir trafen uns an einem Morgen, statt zur Schule zu gehen, auf einer abgelegenen Wiese und verbrannten in einem schönen Ritual sämtliche Schulhefte und -bücher. Am nächsten Tag wollten wir uns gemeinsam in die große weite Welt davonmachen. Leider wurde nichts daraus, genau an diesem Morgen flog ich aus der dritten Schule mit dem Hinweis, es gäbe keine andere Schule mehr, die mich in Zukunft aufnähme.
Zwei Wochen später waren wir dann doch in Amsterdam, ein Grinsen im Gesicht und Interpol auf den Fersen.
Wir wurden von linken Studenten aufgenommen, die uns Löcher in den Bauch fragten, wie denn die Unruhen in Deutschland abliefen. Die Revolte war mit den Amsterdamer Provos längst bis ins Hippie-Paradies vorgedrungen. Wenig später erwischte die Polizei erst die beiden Jungen, dann die beiden Mädchen, steckte alle in den Knast und schob die vier kurz darauf nach Deutschland ab.
Ich legte eine falsche Fährte und verschwand nach England.
Die ersten Wochen in der Illegalität hatten mir gut getan. Ich war vorsichtig und offen gleichzeitig. Beschwatzte die englischen Zöllner, die sich wunderten, einen 16-Jährigen allein auf großer Fahrt vorzufinden. Dazu ohne Gepäck. Ich hatte gerade mal 20 Mark in der Tasche, ich hatte in den Ferien auf dem Bau gearbeitet, und meinen Pass. In London konnte ich dann für mein letztes Geld im An- und Verkauf eine schlechte Gitarre kaufen und in den U-Bahn-Stationen als Busker mein Geld verdienen. Ich wohnte manchmal in Abbruchhäusern, im Obdachlosenasyl, manchmal bei Au-pair-Mädchen, schließlich in einer Hippie-Kommune. Ich ging ins Middle-Earth, sah die angesagten Beat-Bands und spielte mir selbst die Finger wund.
Es war eine unglaubliche Szene auf der Straße zu dieser Zeit. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, es war die gesellschaftliche Elite, die sich in allseits akzeptierter Verachtung bürgerlicher Werte aufmachte, sich der Gesellschaft zu verweigern und die Welt zu erneuern.
Kam ich in eine neue Stadt, brauchte ich nur zu warten, bis ich jemanden traf, der ähnlich lange Haare oder ähnliche Klamotten trug – schon hatte ich Freunde, was zu essen und einen Schlafplatz.
Die Halblegalität und die Ablehnung der miefigen Gesellschaft vereinte uns. Es war eine friedliche und doch explosive Mischung von Kids, die jeder für sich eine eigene Vision einer anderen Welt in sich trugen. Es gab viele Gemeinsamkeiten und genauso viel, was uns trennte. In der Schule hatte ich mich strikt geweigert, irgendwelche Literatur zu lesen, jetzt schleppte ich Bücher von Bakunin, Khalil Gibran und Georg Büchner mit mir herum, las Schiller und E.T.A. Hoffmann.
Irgendwann unterhielt ich mich nachts auf der Straße mit Marianne Faithful, sah einen wütenden Mick Jagger auf der anderen Straßenseite. Dann erfuhr ich, dass die Polizei mich in London gesehen hatte. Marie wollte gerade zurück nach Frankreich und nahm mich mit.
Diesmal beschwatzte sie die Zöllner, und wenige Tage später war ich Teil der internationalen Hippie-Gemeinschaft in Cannes.
Schlechte Nachrichten und Gerüchte kamen aus Spanien. Die faschistische Guardia Civil machte sich einen Spaß daraus, Hippies einzufangen, in den Knast zu stecken, ihnen eine Glatze zu schneiden, um sie dann über die Grenze nach Frankreich abzuschieben.
Aber auch die warmen Nächte an den Stränden der Cote d’Azur wurden ungemütlich.
Zu viele reiche Leute fühlten sich mit uns abgerissenen Figuren in der Nähe nicht wohl. Ich machte mich auf den Weg nach Paris, laut Aussage aller, die da gewesen waren, der derzeitige Mittelpunkt der gesamten lebenden Welt.
Ich stellte mich auf den Boulevard St. Michel, schnappte meine Gitarre und begann, Geld zu verdienen. Schnell hatte ich Freunde und Freundinnen gefunden. Es war eine aufrührerische Aufbruchsstimmung.
Ein paar Schritte neben mir rezitierte ein Franzose alte Revolutionsreden, ein Stück weiter gab es Straßenmaler, mehr Musiker… es war das richtige Leben.
Irgendwann sah ich einen offenen Wagen mit Fahnen schwenkenden Rechtsradikalen über den Boulevard brausen. Plötzlich flog ein Molotow-Cocktail auf das Auto, Sekunden später gab es nur noch das brennende Wrack, und die Straßen waren leer.
Befreundete Studenten nahmen mich mit zu einem besetzten Teil der Uni. Vermummte mit Helm patrouillierten mit Knüppeln vor dem Gebäude.
Innen gab es eine Sammlung von erbeuteten Polizeihelmen zu bestaunen. Ich bekam den Schlüssel zu einem wunderbaren Raum, der mich an ein „Klassenzimmer“ erinnerte, mit Tischen, Bänken und Wasseranschluss. Ich hatte schon etliche Nächte in Parks, Telefonzellen, unter Brücken und auf Parkbänken verbracht. Das war jetzt das Paradies. Wir feierten Partys und ließen es uns gut gehen.
Eines Nachts wurde das Haus geräumt, ich hatte glücklicherweise bei Freunden übernachtet. Alles wurde anders.
Die Polizei wollte das ganze Gesindel endlich loswerden und die Stadt wieder unter Kontrolle bekommen.
Ein paar Nächte später weckte mich ein Polizeiknüppel unsanft, als ich unter einer Brücke schlief. Alle, die sie erwischten, wurden einkassiert und auf die nächste Wache gebracht. Dort angekommen, mussten wir durch ein Spalier von ziemlich schlecht gelaunten Uniformierten laufen, die gerade, wie sie Lust hatten, mit dem Knüppel oder der Faust zuschlugen.
Es wurde eine ziemlich blutige Angelegenheit, bei der meine Nickelbrille (ich war so stolz auf die Brille, weil John Lennon eine ähnliche trug) zu Bruch ging und meine Gesichtszüge für die nächsten Tage ruiniert wurden. Dann hieß es warten. Als die nächsten Uniformierten mich abholten, schauten sie mich schon etwas respektvoller an. Mein Französisch war schlecht bis gar nicht vorhanden, aber dennoch begriff ich warum.
Sie hatten rausbekommen, dass Interpol hinter mir her war.
Ab zur nächsten Polizeiwache. Dort hatten sie erst mal keine Zeit für mich. Zeitgleich wurde ein Araber auf die Wache geschleppt. Rassismus kannte ich bis dahin eigentlich nur aus den üblen Sprüchen, die mit den Worten: „Beim Adolf wäre das quak quak quak…“ begannen, oder aus Holland, wo ich öfter mal von älteren Leuten als Scheißdeutscher beschimpft wurde. Das hier hatte eine andere Qualität.
Als die Uniformierten mit dem Mann fertig waren, konnte ihm nur noch die Intensivstation helfen. Obwohl ein dreckiger Hippie und Deutscher dazu, war ich in den Augen dieser rassistischen Polizisten doch noch etwas mehr Mensch als ein französisch sprechender Araber.
Nächste Station – Knast und eine miese Zelle, die ich mir mit einem professionellen Autodieb teilte. Tage später kam ein Dolmetscher, der mir erzählte, ich wäre eine Treppe heruntergefallen und hätte mir dabei meine Verletzungen zugezogen.
Dann wurde ich abgeschoben und stand in Deutschland unter Polizeiaufsicht.
In der Schule hatte ich immer gehört, ich würde fürs Leben lernen – jetzt hatte ich in wenigen Monaten so viel begriffen und gelernt, wie alle Lehrer, vom alten Nazi bis zum Schöngeist, mir in all den Jahren nicht hatten beibringen können.
68 war für mich ein Jahr der totalen Gegensätze. Die schönste und wildeste Zeit meines jungen Lebens und die totale Depression, die dann folgte.
In den darauf folgenden Monaten hat mich nur eins am Leben gehalten. In jeder freien Sekunde hatte ich meine Gitarre in der Hand und spielte, bis mir die Finger bluteten. Dafür bin ich der Gitarre noch heute dankbar.
Das, was viele Nachgeborene mit 68 verbinden, hat für mich erst später stattgefunden. Die StudentInnen waren 68 für Ideen und die Dritte Welt auf die Straße gegangen. Viele sind später bei ihrem Marsch durch die Institutionen ins Eigenheim nach und nach handzahm geworden.
Dieser Weg stand meinen FreundInnen und mir nicht offen. Wer von uns die ersten Jahre überlebt hat, konnte den neuen Parteien und Dogmen und den späteren Karrieren nicht über den Weg trauen.
Anfang der Siebzigerjahre waren wir für uns selbst auf der Straße, haben Häuser besetzt, AKWs verhindert, uns an vielen Orten der Republik blutige Köpfe geholt, gesellschaftliche Freiräume geschaffen, neue Lebensformen ausprobiert und damit eine zumindest kleine Kulturrevolution angezettelt, die dieses Land ein für allemal verändert hat. Nicht so sehr, wie wir es wollten, aber immerhin!
Die absolute Lebensfeindlichkeit und Verklemmtheit der Fünfziger- und Sechzigerjahre können sich die Jugendlichen heute nicht in ihren bösesten Albträumen vorstellen. Trotzdem würde ich ihnen mehr von unserem damaligen rebellischen Selbstbewusstsein wünschen.
Anmerkungen
Pit Budde ist Musiker, Autor und Journalist. Bekannt wurde er als Songwriter von Cochise, einer Folkrockband, die neben Ton Steine Scherben in den 80er Jahren zu den einflussreichsten anarchistischen Bands in der BRD gehörte. Vgl.: "Wirklich filmreif, die Geschichte". Zur Geschichte der Folkrockband Cochise. Ein Gespräch mit Pit Budde, in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, S. 32-44