40 jahre 68

Seelisches Tauwetter und magische Bilder

Persönliche Erinnerungen an "1968"

| Lutz Schulenburg

Eingefroren

Wie lebten wir vor „68“, vor der revolutionären Explosion?

Ich würde sagen: Wir waren emotional eingefroren im Kalten Krieg. Wir lebten mitten in einer postfaschistischen Gesellschaft, in einer gesäuberten Atmosphäre der Konterrevolution. Es herrschte eine latente Angst vor der Rückkehr des Krieges.

Innerhalb eines Traumas lebte man in einer Familie, dann in einer Straße, in einem Stadtteil, einer Stadt und so weiter. Und die Schule, die uns als Kinder als erste Institution nach der Familie schluckte, ist mir nur wie eine Kaserne in Erinnerung geblieben. S

elbst die wenigen jüngeren Pädagogen wurden in der verdorbenen Atmosphäre narkotisiert und stillgestellt.

Es ist die Erfahrung der Schule, die mir den ersten Begriff von Klassengesellschaft vermittelte. Noch heute ist sie für mich nur ein Ort des Grauens, der Pein, die die Willkür der Klassenspaltung, die zunächst unverstanden blieb, bewirkt.

Dennoch hatte ich eine glückliche Kindheit: Ich war frei, der Nachmittag gehörte mir.

Meine Oma, die eigentlich nur eine bereits betagte Nachbarin war – von ihr lernte ich den fluchbeladenen Begriff „Kleinrentnerin“ – kümmerte sich um mich, weil meine Eltern, wie die meisten aus unserer Straße, beide arbeiten mussten.

Sie gingen früh und kamen spät heim. Ich wohnte sogar die ersten Lebensjahre bei ihr, in einer engen Dachwohnung.

Zwischen ihrer Wohnung und der meiner Eltern, die ebenfalls nur eine Streichholzschachtel war, befand sich ein geräumiger Trockenboden.

Mit der großartigen Dora Meyer saß ich oft zusammen am Bodenfenster und schaute auf die Straße – wenn wir nicht zusammen auf Besuchstour bei ihren vielen Verwandten waren. Etwa in „Klein-Moskau“, dem Arbeiterviertel hinterm Bahndamm, mitten im Industrieviertel unserer Vorstadt.

Die Fabriken wurden nach den Klassenerfahrungen benannt, so hieß eine Flaschenfabrik „Hunger und Durst“.

Manchmal waren wir auch in einem Schrebergarten, wo es ländlich und gesellig zuging. Zusammen sammelten wir Buntmetall und Bucheckern, brachten Altpapier und Felle zum Schrott- und Plünnenhöker, dessen Lagerhaus aus einem Roman von Dickens entsprungen zu sein schien.

Nebenan wohnte ein weiterer Verwandter meiner Oma, ein Maler und Tapezierer, der Emil hieß und dessen Frau mich eines Nachmittags mit Bienenstich überfütterte, den ich seitdem nicht mehr sehen kann.

Meiner Oma verdanke ich meine kommunistische Seele, denn sie war die Einzige, im näheren Umkreis meiner Kindheit, die eine einfache, aber schöne Ethik lehrte: Sei solidarisch, tu nur, was du wirklich meinst, hüte dich vor der Polizei und teile, was du hast, mit denen, die nichts haben.

Im Rückblick war sie der erste rebellische Mensch, den ich kennen gelernt habe, eine Frau, die für den flüssigen Anteil meiner Psyche von Bedeutung sein dürfte.

Beginn meines Langen Marsches

Ich hörte im Radio die Nachricht vom Attentat auf Kennedy. Ich sah in der „Wochenschau“, bevor das Kino mit seinem „Jugendfilm“ am Sonntag begann, die Kubaner, wie sie bewaffnet in den Schützengräben auf die „Yankies“ warteten. Sie hatten die Krempen ihrer Hütte wie im Western hochgeklappt. Anschließend erlebten meine Freunde und ich die Verzauberung durch Hollywood.

Diese Sonntagnachmittagsfilme weckten meine Phantasie. Daneben waren es die Comic-Hefte, mit der meine Bildung, die nur eine des Herzens sein konnte, begann.

Kurz und gut, wie viele unserer Generation, waren wir bestens gerüstet, uns in ein großes Abenteuer zu stürzen, denn wir hatten nichts außer einer Sehnsucht, unsere Kräfte zu erproben. Aus der Musikbox meiner echten, familiären Oma, die meinen Bruder mit aufzog, wurde Katharina Valente gespielt, „Ich will einen Cowboy als Mann“, und natürlich: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ von Rudi Schuricke.

Die Revolution, die Erweckung des Bedürfnisses nach Befreiung, kam zuerst mit Rudi Dutschke ins Haus. Als Fernsehbild. Er platzte in die familiäre Enge, als wir ihn mit Günter Gaus in dem berühmten Gespräch sahen. Noch heute habe ich Rudis Stimme im Ohr und spüre die anfeuernde Rhetorik im Körper. Er war für mich der Vorbote und das Menetekel für die niedergedrückte Welt meiner Eltern. Mit den Freunden meiner Kindheit zusammen experimentierte ich mit jenem primitiven Sprengstoff, dessen Hauptbestandteil das Pflanzengift „Unkrautex“ war, das damals noch jede Gartenhandlung verkaufte.

Mit meinem Vater übte ich zielgenaues Schießen, Fährten lesen, wie man im Wald zurechtkommt und welche Ausdauer die Jagd erfordert.

In der Schule hatte ich außer in Geografie, Geschichte, 50 Meterlauf und Weitsprung keine Erfolge vorzuweisen. Allerdings wurde nicht mehr geschlagen, denn wir hatten einen alten Reformpädagogen, der uns mit Hausarbeitsverbot bestrafte. Das gefiel mir. Eine andere Lehrerin erzählte uns von ihrem Engagement in der Gewerkschaft gegen die Notstandsgesetze. Sie fuhr einen flotten Karmann Ghia.

Der Aufruhr war inzwischen überall spürbar, wie ich besonders aus den Reden meiner Mutter entnahm. Es waren die Frauen, die unmittelbar die Aufbruchsstimmung ihrer Kinder erlebten: „Mit nichts sind sie mehr zufrieden“, ging die Klage, die stets mit dem Satz: „und wir hatten damals nicht einmal einen Putzlappen“, beschlossen wurde.

Die Arbeitslast und Niedergeschlagenheit der Elterngeneration war eine entsetzliche Misere. Wir bekamen sie täglich vorgeführt. So nicht, dachten wir, nur das nicht.

Die Konflikte verstärkten sich. Aufsässigkeit griff um sich. Es hieß nur noch: „wie Dutschke“. Die bösartige Drohung: „Unter Adolf hätte es das nicht gegeben“, war ein oft zu hörender Standardsatz. Nur von den Älteren hörte man anderes: Streikerfahrungen, Mitempfinden durch selbst erlittenes Leid.

Dora Meyer erzählte davon, wie sie nicht nur ihrem Mann, der als Maurer im Winter Kohlensäcke schleppte, das Essen zur Arbeitsstelle gebracht hatte, sondern wie sie auch für die Kriegsgefangenen, russische Zwangsarbeiter, kochte. „Iss nie vor jemandem, ohne mit ihm zu teilen!“ Wenn die Männer bei Familienfeiern stumm blieben, eingesponnen in ihre Kriegstraumata und andere Niederlagen, die im Schweigen verborgen blieben, so waren die Frauen aggressiver, wenn es um die „Vergangenheit“ ging. Die hieß immer: Elend und Krieg. Der Hass auf den Krieg bleibt für mich die erste Berührung mit dem Erleben von Geschichte. Ansonsten war die gesellschaftliche Wirklichkeit wie in Watte verpackt. Sie war da und zugleich auf eigenartige Weise verschwunden.

Als Bote für die führende Buchhandlung unserer Vorstadt brachte ich bestellte Bücher und abonnierte Fachzeitschriften zu den Kundinnen und Kunden.

Dreimal in der Woche radelte ich durch den Stadtteil.

Das erste Buch, das ich mir zum Kollegenrabatt leistete, war ein Gedichtband von Karl Krolow. Aber auch eine Geschichte der Geheimbünde gehörte zu den Werken, die ich erwarb.

Das Kapitel über die andalusische „Schwarze Hand“ darin war meine erste Begegnung mit dem Anarchismus.

Eines Tages nahm ich das vom Seniorchef als „Fehleinkauf“ deklarierte „Klau mich“ mit, das Buch der Kommune 1.

Die Aufsässigkeit in der Schule und gegen die Eltern nahm Formen an. Den Treffpunkt und Termin hatte ich dem „Veranstaltungskalender“ unseres Lokalblattes entnommen, das ich nachmittags an die Abonnenten austrug.

Ich war aufgeregt und gehemmt, als ich das erste Mal zur örtlichen AUSS-Gruppe ging. Erwartungsvoll saß ich in einer Ecke zwischen den zwei Dutzend aufgekratzten Schülerinnen und Schülern.

Ich hatte vorher einen älteren politischen Aktivisten abgepasst, der gerade eine Lehre als Fotograf begonnen hatte.

Er war der einzige „Radikale“, den ich kannte, in der Schule wurde er „Ho Chi Minh“ gerufen. Ihn fragte ich, ob denn jeder beim Aktionszentrum Unabhängiger Sozialistischer Schüler mitmachen könne.

„Klar doch, nach den Ferien geht’s wieder los“, sagte er und eilte weiter. Ich war angekommen. Nicht mehr allein, sondern mitten im „Wärmestrom der Geschichte“.

Alle, die auf dem Weg waren, trafen sich bei der APO-Basisgruppe. In unserer Vorstadt hieß das Versammlungslokal „Demokratisches Zentrum“.

Eigentlich war es sogar mit „II“ nummeriert, denn das erste, das sich in einem ehemaligen Schulgebäude befand, war von den städtischen Größen der SPD mit allerlei Tricks geschlossen worden. Unsere Vorstadt war der Wahlkreis von Helmut Schmidt. Diesem Umstand verdankt der Stadtteil eine bundesdeutsche Bedeutung, denn in Bundestagsprotokollen hieß es stets, wenn er das Wort ergriff: „Helmut Schmidt-Bergedorf“. Ihm und dem örtlichen Großindustriellen, die einen politisch-wirtschaftlich einflussreichen „Gesprächskreis“ betrieben, zu dem auch der verbrecherische Kissinger anreiste, verdanken wir einige Polizeieinsätze, inklusive Wasserwerfer, als Antwort auf den APO-Protest. Die unbändigen Aktivistinnen und Aktivisten verschönerten den „Granit-Tiger“, den der kunstsinnige Großindustrielle vor dem Wasserschloss im Stadtpark aufstellen ließ, wo die Zusammenkünfte stets stattfanden, mit der Parole: „Ich bin der imperiale Tiger, bereit zum Sprung in den Osten“.

Das Hauptanliegen des „Gesprächskreises“ war die wirtschaftliche Durchdringung des „Ostens“.

Das AUSS, die Vollversammlung und Arbeitskreise der APO-Stadtteilgruppe waren meine Elementarschule.

Hier lernten wir unsere Interessen zu erkennen, zu verteidigen und zu erweitern. Dass unsere Wünsche wirklich sind und Familie, Schule, Fabrik bloße Zuchtstätten der Ausbeutung.

Dass das revolutionäre Bewusstsein, die Form kollektiven Handelns ist: basisdemokratisch, solidarisch und egalitär.

Man handelte unmittelbar, im eigenen Namen in einer lokalen Sphäre (wir waren überall, in den Schulen, verschiedenen Betrieben und sogar in der örtlichen Verwaltung); und mit der Zunahme an lokaler Bedeutung wuchs auch das internationalistische Selbstverständnis der Einzelnen.

Vier Sequenzen aus dem jugendlichen Heldenleben

Der Reformismus scheitert: Als sozialistische Schüler propagierten wir die Idee der „Klassenkollektive“.

Diese sollten den Unterricht umwälzen. Dass wir für die sofortige Abschaffung der Zensuren waren, dürfte auch heute noch einleuchten.

Der Staat schuf dagegen die sogenannte „Schüler-Mitverantwortung“. Dagegen wurde zu Streiks aufgerufen, um die Idee der „Klassenkollektive“ zu popularisieren. An unserer Schule, wir waren nur zwei Aktivisten, scheiterten alle Streikbemühungen. Der Direktor verbot mir nicht bloß das Tragen des Vietcong-Ansteckers, sondern natürlich jede Agitation in der Schule. Er rief uns am Streiktag zu einer „Diskussion“ in der Aula zusammen und hielt eine zweistündige Rede.

Die Umsetzung der „SMV“ verlangte die Wahl eines Schulsprechers, so dass ich, das einzige Mal in meinen Leben, gezwungen war, als „Sozialistischer Kandidat“ aufzutreten.

Mein kriecherischer und opportunistischer Gegenkandidat, er hatte bereits meine wenig aussichtsreiche Streikagitation an den Direktor verpfiffen, forderte einen Cola-Automaten. Neben den „Klassenkollektiven“ wollte ich dem, für die Lauen, etwas ebenso Handfestes entgegensetzen und geriet auf diese Weise auf die schiefe Bahn des Reformismus. Als Gegenprogramm verlangte ich eine Raucherecke.

Der Opportunist wurde gewählt und der Cola-Automat blieb ein leeres Versprechen.

Theologie und Revolution: In weihnachtlicher Öde traf ich zwei meiner AUSS-Genossen. Niemand sonst war an den Treffpunkten, weder bei „Käthi“ noch bei „Metha“, den zwei Kneipen, wo sich APO-Aktivistinnen und Aktivisten sonst immer aufhielten. Nach Hause wollten wir nicht.

Mürrisch machten wir uns auf, eine Veranstaltung in der Kirche, die auf Initiative einiger unserer Freunde aus der „jungen Gemeinde“ und des örtlichen Befreiungstheologen organisiert war, auf zusuchen. Diese „Predigt“ war eine Sensation, denn immerhin sollte der rituelle Weihnachtsgottesdienst zu einer Veranstaltung für die „Dritte Welt“ umgebaut werden. Brot und Gerechtigkeit.

Dagegen hatten wir Radikalen, als wir im Vorfeld davon hörten, denn auch wir drei „Störer“ verkehrten in diesem Arbeitskreis, leidenschaftlich polemisiert. Wir hatten angekündigt, nicht mitzumachen, was den Initiatoren der Sache ganz gelegen kam. Die Veranstaltung hatte gerade begonnen, als wir drei hereinplatzten. Es entstand eine kleine Pause. Alle blickten auf uns wie auf ungebetene Gäste, besonders unsere Freunde aus der kritischen Gemeinde. Niemand hielt uns für die drei Könige aus dem Morgenland. Ich stieg auf die Kirchenbank und geißelte ohne Umschweife (ganz getrieben von der Angst, in meiner Rede stecken zu bleiben), wie verlogen „Brot für die Dritte Welt“ sei. Die Armen bräuchten kein weihnachtliches Mitleid, sie bräuchten Waffen. Und ich rief der erstaunten und etwas entgeisterten Gemeinde zu, dass nur die Revolution den Armen in dieser Welt garantiere, dass ihnen das Brot nie ausginge. Sie sei unterwegs, heute noch in den Tälern der Anden, morgen erhebe sich ganz Lateinamerika, und uns erreiche diese Welle spätestens dann auch … so wie es Che Guevara prophezeit hätte. Es fielen dann noch die drei Namen, wie eine Anrufung von Zeugen oder eine magische Formel, des kolumbianischen Priesters Camillo Torres, des Leaders der venezuelanischen Guerilla Douglas Bravo und des peruanischen Bauernführers Hugo Blanco.

Der Schluss der Ansprache war die Aufforderung abzustimmen, ob über diese Frage jetzt und sofort zu diskutieren sei. Mitleidig zischte uns eine Frau zu, „die Abstimmung verliert ihr doch!“

So war es dann auch. Wir verschwanden aus der Kirche und gingen zu „Käthi“, Bier trinken und Pichelsteiner-Eintopf löffeln. Käthis Mann, Werner, ließ auf seinem „Blaupunkt“ ein klassisches Konzert erklingen – in dieser Kneipe habe ich sämtliche Konzertübertragungen, die der Rundfunk freitags und sonnabends bot, als Hintergrundmusik gehört. Wir fühlten uns unbesiegbar und sicher: Die Revolution bringt nicht nur Brot, sondern auch eine neue Demokratie. Überall wird unter Gleichen entschieden. Oben und unten in der Gesellschaft hören auf zu existieren. Das Wort gehört allen.

Dass unsere Freundinnen und Freunde in der jungen Gemeinde noch wochenlang sauer waren, war eine andere Sache.

Nicht aber, dass die Revolution auf dem Marsch war.

Revolution und Pop: Nachdem ich aus der Schule geflogen war, gelang es meinem Vater, mich im Kaufhaus unserer Vorstadt als Dekorateur-Lehrling unterzubringen. Hier versuchte ich mich als Revolutionär im Beruf. Zwei Schaufenster der Ladenfront waren dem Porzellan vorbehalten. Regelmäßig musste ein Fenster mit der Rosenthal-Kollektion dekoriert werden. Mein Chef las derweil Pardon und Konkret, gelegentlich auch die St. Pauli-Nachrichten. In ein solches Fenster hängte ich ein riesiges Vierfarbplakat mit dem Che-Porträt, das für eine US-Zeitschrift warb und im ständig wachsenden Geschenkartikelbereich des Kaufhauses, neben harmlosen Pop-Postern, verkauft wurde. Der Che blickte zwischen Teegeschirr und Tafelservice auf die flanierenden Massen.

Es dauerte nicht mehr als 10 Minuten, bis mich der geschäftsführende Laufbursche des Chefs anpfiff und verlangte, „auf der Stelle“ das Plakat aus dem Fenster zu nehmen.

Seitdem bin ich skeptisch, wenn ich höre, „’68“ hätte nur der popkulturellen Unterhaltungsindustrie zum Durchbruch verholfen. Später schaffte ich es noch, in einem weniger exponierten Schaufenster ein Poster von Jimmy Hendrix unterzubringen, auf dessen Rückseite das erfundene Interview aus der „883“ abgedruckt war, in dem Jimmy davon sprach, die „Black Panthers“ zu unterstützen. Den von unserer anarchistischen Propaganda beeinflussten Deko-Lehrlingen bei Karstadt an der Mönckebergstraße mitten in Hamburgs City gelang es, sich mit einer Vietnam-Demonstration, die an dem Kaufhaus vorbei zog, zu solidarisieren. Sie waren am Umdekorieren, steckten den nackten Fensterpuppen rote Fahnen in die Hände und ließen, lachend und winkend, die unendlich lange Marschkolonne vorbeiziehen.

Der Zauber: Die ersten Demos, die ich miterlebte, haben ihren Zauber in der Erinnerung nicht verloren. Das Gefühl, nicht allein zu sein, war prägend. Alle Fremdheit und Distanz zwischen den Einzelnen war verschwunden und das Vertrauen in die Gemeinsamkeit ohne Grenzen.

Bevor ich zurück in meine Vorstadt fuhr, stand ich in der Vorhalle der S-Bahnstation zwischen den anderen. Dicht gedrängt hörte ich den Neuigkeiten über den Stand der Bewegung zu, was sich zwischen Hamburg und Feuerland, Wladiwostock und Pinneberg ereignet hatte. Einmal hörte ich, wie einer, der vorher besonders standhaft gegenüber den Polizisten war, als die uns wieder einmal auseinander knüppelten, und dem der halbe linke Arm fehlte – es hieß, er habe im Mai 68 in Paris eine Polizeigranate zurückwerfen wollen – mit starkem französischen Akzent zu einem Passanten sagte: „Sei kein Kälbe, sei ein Mänsch“.

Rückblick nach vorn

„’68“ ließen wir eine geschlagene Generation zurück. Wir tauten auf. Begannen zaghaft, als unvollständige Individuen, unsere eigene Befreiung zu betreiben. Zunächst einzelne, dann viele und in kürzester Zeit waren wir überall und sind seitdem unterwegs. Das war ein kollektiver Lernprozess, eine lange Welle, die die alte Welt der ausbeuterischen Ökonomie unterspült hat. Und der nächste Schlag dieser aufständischen Welle wird dieses lecke Wrack hinwegspülen.

Leider sind einige Mitkämpferinnen und Mitkämpfer zwischenzeitlich abhanden gekommen, aber noch ist die Geschichte, die uns „’68“ wieder erreichte, nicht beendet.

Wir wollen alles, und wenn nicht heute, dann eben morgen.

Anmerkungen

Lutz Schulenburg (* 1953) ist Gründungsmitglied des libertären Verlags Edition Nautilus. Vgl.: Subversive Kopffüßler? Ein Interview mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg, in: B. Drücke (Hg.), ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, S. 80 ff.