transnationales

Tibet und wir

Positionen aus der indischen Tibet-Solidarität

| Jogin S.

Die nachfolgenden Positionen stammen von Jogin S., einem indischen Graswurzelrevolutionär, Mitglied der Freundschaftsgruppe Calcutta, von der wir in dem 2000 im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen und inzwischen vergriffenen Buch "Das andere Indien. Anarchismus, Frauenbewegung, Gewaltfreiheit, Ökologie" eine Analyse zur Geschichte und Kritik der indischen Linken und maoistischer Guerillagruppen veröffentlicht haben (S. 27-150). Jogin S. engagiert sich seit Jahren in der indischen Tibet-Solidarität. Sein 17-seitiges Positionspapier "Tibet and Us" über Lerneffekte und Erfahrungen innerhalb der tibetischen Befreiungsbewegung im Exil stammt von Ende Dezember 2007. Bei der folgenden Übersetzung handelt es sich um stark gekürzte Passagen dieses Textes. (Red.)

Die Ming-Dynastie (1368-1644) bestand aus Han-ChinesInnen – der dominanten Nationalität in China. Sie bauten die Große Mauer aus Angst vor mandschurischen und mongolischen Warlords aus dem Norden.

Sie anerkannten und respektierten die Unabhängigkeit Tibets (und bestätigten sie explizit in Verträgen).

Dann besetzten die Manchus China und errichteten ihre Qing-Dynastie von 1644 bis 1911/12. Sie besetzten auch Territorien Tibets und aller nationalen Minderheiten außerhalb der Großen Mauer. So wurde China um 60 % seiner ursprünglichen Fläche vergrößert. Aber auch dann noch blieb die Verwaltung Tibets autonom und die Regentschaft des Dalai Lama unangetastet.

Als die Qing-Dynastie geschwächt war, erklärte Tibet 1911/12 die Unabhängigkeit und verbannte alle imperialistischen Truppen aus dem Land.

Kurze Zeit später erklärte die tibetische Bevölkerung ihre Unabhängigkeit. Von dieser Zeit bis Ende der 1940er Jahre war Tibet unabhängig. Es wurde auf internationale Konferenzen geladen, unterzeichnete Verträge und gab Pässe aus. Tibetische Handelsdelegationen besuchten Indien, Britannien, die USA und China. Tibet nahm an den innerasiatischen und afro-asiatischen Konferenzen in Delhi 1947 und 1948 teil.

1950 überrannte die chinesische Armee Tibet und begann den Prozess der Kolonisierung. Sie zwang den 14. (jetzigen) Dalai Lama, Tenzin Gyatso, den Vertrag von 1951 zu unterzeichnen, der Tibet zu einem Teil Chinas erklärte. Doch auch noch in diesem Vertrag wurde eine ausgeweitete Autonomie und die Regentschaft des Dalai Lama in innenpolitischen Angelegenheiten respektiert. Seither wurde Tibet zur vollständigen Kolonie degradiert. Der Dalai Lama floh 1959 nach Indien und die TibeterInnen schufen eine unabhängige Exilregierung.

Der längste Kampf um Unabhängigkeit für die größte Kolonie der Welt setzt sich bis heute fort. Es entstand keine kulturelle Annäherung seit 1950, weder in der Sprache, noch in den Bereichen der Religion, dem politischem und dem wirtschaftlichen System.

Die tibetische Sprache ist eine Lautschrift, hat ein dem Sanskrit ähnliches Alphabet und wird von links nach rechts geschrieben. Die chinesische Sprache ist keine Lautschrift, hat kein Alphabet, sondern Bildzeichen (Piktogramme; ideographische Schrift) und wird vertikal, von oben nach unten geschrieben.

Über Mythen zu Tibet und China, die in indischen „progressiven“ und „radikalen“ Kreisen noch immer aufrecht erhalten werden (1)

1. „Die chinesische Okkupation Tibets war eine Befreiung für unterdrückte Sklaven und Leibeigene unter einer theokrati-schen Diktatur des Lamaismus.“

Jedes Mal in der Geschichte, wenn ein mächtiger Staat eine schwächere Gemeinschaft überfällt, wird eine Reihe von Mythen erschaffen, die auf Halbwahrheiten basieren und auf weltweite Unwissenheit bauen. Als die Briten Indien kolonisierten – und die USA heutzutage den Irak -, so geschah und geschieht das immer im Namen der Befreiung des Volkes, das unter einer despotischen und reaktionären Regierung leidet.

Sollte es nicht zu unserem Prinzip werden, da erstmal auf die Unterdrückten selbst zu hören?

Wenn wir den tibetischen Flüchtlingen zuhören, von denen die meisten in Alt-Tibet ganz normale, arbeitende Menschen waren, ergibt sich ein anderes Bild. Auch WissenschaftlerInnen zeichnen ein anderes Bild von der präkolonialen, feudalen tibetischen Gesellschaft.

Die Volksrepublik China behauptet zum Beispiel, dass Leibeigene im alten Tibet fast täglich körperliche Strafen zu erleiden hatten. Nun ist das Ausmaß der Repression, die ein Staat gegen seine Bevölkerung ausübt, abzulesen an der Macht und der Größe seiner bewaffneten Truppen und seiner Gefängnissysteme. Das alte Tibet hatte fast keine Armee und keine Kriegstradition. Eine nur aus einer Hundertschaft bestehende externe Armee konnte jederzeit Lhasa besetzen.

Alt-Tibet hatte kaum Gefängnisse und keine Tradition der Todesstrafe. Im Gegenteil ist richtig, dass das koloniale Tibet ein Vielfaches mehr an Gefangenen, Exekutionen und an Militärpräsenz kennt!

All das will nicht sagen, dass das frühere Tibet kein feudales System gewesen wäre. Eine kleine, wohlhabende Klasse und große religiöse Institutionen lebten von der Arbeit und den Diensten der Bauern- und Nomadenbevölkerung. Die Regierungsform war paternalistisch und autoritär, manchmal despotisch und brutal für die Arbeitenden, aber manchmal auch wohltätig und mit Autonomie für örtliche Gemeinden.

Es ist interessant, hierzu die Position der Kommunistischen Partei Chinas aus den 1930er Jahren heranzuziehen, als sie von ihrer staatlichen Machteroberung noch weit entfernt war. Historische Dokumente beweisen, dass die KP und ihre Volksbefreiungsarmee während des Langen Marsches, als sie durch von han-chinesischen Kuomintang und Warlords besetzte Regionen Tibets marschierten, im Jahre 1936 die Kampagne „Tibetische Autorität“, organisiert von tibetischen NationalistInnen und tibetischen KommunistInnen unterstützten.

Die Rote Armee respektierte darüber hinaus die vom Dalai Lama geführte Kashag-Regierung Tibets und drang deshalb nicht ins tibetische Kernland ein.

Heute haben die tibetische Regierung im Exil und der Dalai Lama Gesetze zur Landreform beschlossen, welche das alte feudale System entlegalisieren. Ironischerweise ist das heutige politische System Tibets im Exil weitaus demokratischer als dasjenige Chinas – in der Verfassung und in der Praxis.

2. „Ein China unter der Herrschaft einer Kommunistischen Partei kann ein anderes Land gar nicht kolonisieren, wie es die westlichen Imperialisten tun.“

Wir sind heute weiser. Eine Partei sollte nicht nach ihrer Ideologie beurteilt werden – ob sie sich marxistisch oder demokratisch oder wie auch immer nennt. Auch wenn sie einmal irgendwo gegen Unterdrückung gekämpft haben sollte, bedeutet das nicht, dass sie nicht anderswo rücksichtslos unterdrückerische Handlungen begehen könnte.

3. „Wie könnt ihr nur eine Bewegung unterstützen, die von einem ‚religiösen Autokraten‘, dem Dalai Lama, geführt wird, und die auch noch für die Errichtung des neuen Nationalstaates für tibetische Eliten und Machtgruppierungen eintritt?“

Schaut auf die tibetische Graswurzelbewegung. Sie wird nicht von einer einzigen Partei organisiert, über die der Dalai Lama und seine Religion befiehlt. Die größte politische Organisation der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung ist der „Tibetische Jugendkongress“ (Tibetan Youth Congress; TYC) mit 25.000 Mitgliedern. Er respektiert den Dalai Lama, ist aber in seinen Entscheidungen autonom. So hat der Dalai Lama vor kurzem von seiner früheren Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit Abstand genommen. Er sprach von einem autonomen Tibet innerhalb der Grenzen Chinas. Der TYC jedoch hielt an der Forderung nach völliger Unabhängigkeit fest.

Was die Religion anbetrifft, erklärt der TYC: „Der TYC stützt sich nicht auf eine spezielle Religion oder religiöse Sekte.“

Des Weiteren gibt es über 400 tibetische Solidaritätsgruppen, die über die ganze Welt verteilt sind und ein großes Kräftereservoir für den Kampf darstellen. (2) Menschen aller politischen und religiösen Glaubensrichtungen – von NationalistInnen bis hin zu InternationalistInnen gegen Militarismus, Grenzziehungen und Globalisierungsstrategien der multinationalen Konzerne tummeln sich dort. Sie arbeiten in losen, koordinierten, horizontal funktionierenden Bündnissen zusammen. Obwohl viele ihrer AktivistInnen den Buddhismus und den Dalai Lama respektieren, sind sie unabhängig.

Schließlich: Versucht der Dalai Lama heute, an der traditionellen Autorität, die er als Teil des geschichtlichen Erbes über die TibeterInnen ausgeübt hat, festzuhalten? Im Gegenteil: Heute bemüht sich er sich darum, die orthodoxen Traditionen der Vergangenheit zu transformieren. Früher waren religiöse und politische Autorität in der Person des Dalai Lama vereint.

Heute sind sie getrennt. (3)

Die tibetische Exilregierung basiert auf einer gewählten Körperschaft, und das politische System umfasst eine Vielfalt an Parteien und eine demokratische Verfassung.

Hinzu kommt, dass der Dalai Lama nicht mehr nur eine bestimmte Schule des Buddhismus repräsentiert. All die verschiedenen Schulen des Buddhismus und sogar nicht-buddhistische religiöse Strömungen wie die der Bon, die über das gesamte Gebiet des tibetischen Himalaya verbreitet sind, betrachten die Kolonisierung, die Militarisierung und die ökologische Verwüstung der Himalaya-Berge als eine Zerstörung ihres geistigen Inspirationszentrums. Die Befreiung Tibets ist für sie und ihre Tradition eine Überlebensfrage. Darum haben sie beschlossen, zusammenzuarbeiten. Sie haben den Dalai Lama als ihren Sprecher und Koordinator im Befreiungskampf gewählt.

Letztlich besteht die Hauptfrage darin, mit welchem Recht der chinesische Staat beansprucht, sein Modell der „Befreiung“ einem unabhängigen Land aufzuzwingen?

Die TibeterInnen kämpfen für ihre nationale Befreiung gegen einen despotischen Kolonialismus – unter extrem repressiven Bedingungen. Heute wird ihnen ihr Recht auf ihr Land, ihre Identität als TibeterInnen, ihre Kultur und auf ihren Glauben verweigert. Der Dalai Lama und der Glaube der Menschen, ihre nationale Identität, waren entscheidende Faktoren für ihren Zusammenhalt, die Aufrechterhaltung ihrer Hoffnung und den Geist des Widerstandes die letzten 58 Jahre hindurch.

Wir müssen auch unsere alte atheistische Tradition in Frage stellen, jede Strömung sozialer Emanzipation entlarven zu wollen, wenn sie nur irgendwie mit Religion oder Spiritualität liiert ist wie beim Kampf der TibeterInnen. Müssten wir nicht auch die indischen, subalternen Folk- (kabir/ravi dasi) Widerstandstraditionen der Adivasi (4) gegen die Repression der Brahmanen (5) unterstützen; den buddhistischen Widerstand der Dalits (6); die gandhianischen Strömungen; den Widerstand der Indigenas weltweit; die Zapatistas, die christliche „Theologie der Befreiung“; die Landlosenbewegung MST in Brasilien; die Traditionen schwarzer Befreiung in den USA; viele Strömungen innerhalb der Umwelt-, Ökologie und deep-ecology-Bewegung; Anti-Konsum- und Friedensbewegungen; den Aktivismus von Bewegungen wie der Quäker oder engagierter BuddhistInnen. Es gibt so viele Bewegungen, in denen Religion und Spiritualität für positive Ziele nutzbar gemacht werden?

Sollten wir nicht endlich von ihnen lernen?

(1) Und in manchen Kreisen der europäischen Linken ebenfalls; Anm. von Sal Macis.

(2) Siehe momentan deren direkte gewaltfreie Aktionen zum Ausblasen der olympischen Flamme, die in nahezu jedem Land stattfinden. Am 7. April musste der Fackellauf der olympischen Flamme wegen dieser Proteste gar vorzeitig abgebrochen werden; Sal Macis.

(3) Vgl. hierzu auch: "Dalai Lama denkt an Rücktritt", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.3.08. Dort heißt es: "Ein Rücktritt wäre aber nicht mit der Demission eines Politikers zu vergleichen. (...) Schließlich sei der Dalai Lama nicht einmal Chef der tibetischen Exilregierung"; Sal Macis.

(4) Adivasi: indische UrbewohnerInnen/Stammesbevölkerungen; Sal Macis.

(5) Brahmanen: Erste Kaste der Priester in der orthodox-hinduistischen Kastenhierarchie; Sal Macis.

(6) Dalit: Ausgestoßene; Selbstbezeichnung der früher sogenannten Unberührbaren am unteren Ende der indischen Kastenhierarchie; Sal Macis.

Anmerkungen

Passagenauswahl und Übersetzung: Sal Macis