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Tibet: Zwischen Emanzipation und Ressentiment

| Sal Macis

Was hat sich vom 10. bis 16. März 2008, beim Aufstand der TibeterInnen in Lhasa abgespielt? Zu schnell gingen die Medienberichte über von Versuchen der Rekonstruktion der Ereignisse zu diplomatischen Erklärungen, der Wiedergabe der hinausgeschrieenen chinesisch-offiziellen Denunziationen, Statements der Ohnmacht des Dalai Lama und dann der Olympia-Diskussion. (Red.)

Ein Team von JournalistInnen der französischen Tageszeitung „Le Monde“ hat ZeugInnenaussagen von TibeterInnen und bis zum Beginn der chinesischen Repression anwesenden TouristInnen und JournalistInnen gesammelt und in einer minutiösen Dokumentation am 4. April (S.18-19) noch einmal die gesamte Entwicklung des Aufstands dargestellt.

Auf dieser Quelle basiert folgender Bericht.

Ablauf der Revolte in Lhasa

Alles begann am Montag, dem 10. März 2008, dem 49. Jahrestag des letzten tibetischen Aufstands in Lhasa (1959), als der damals 23-jährige Dalai Lama nach Dharamsala in Indien floh.

An diesem 10. März 2008 verlassen morgens um 6 Uhr 200 bis 400 buddhistische Mönche die Pagode von Drepung, 8 km westlich von Lhasa.

Als sie in die Stadt marschieren, fordern sie lediglich die Freilassung der Gefangenen vom Oktober 2007, die fatalerweise gefeiert hatten, dass der Dalai Lama damals aus den Händen Bushs die goldene Medaille des US-amerikanischen Kongresses verliehen bekam.

Einige Mönche hatten am nächsten Tag begonnen, die Außenmauern ihrer Pagode mit der Farbe weiß zu streichen, dafür waren sie von der chinesischen Polizei verhaftet worden.

Als die Drepunger Mönche am 10. März marschieren, stoßen sie ein im Weg stehendes Polizeigitter um. Am Macadam-Platz stehen sie einem Spalier beschilderter Polizisten gegenüber und – setzen sich auf den Boden. Das Sit-In dauert einige Stunden, dann zerstreuen sich die Mönche.

Die Polizei greift nicht ein, hat offensichtlich die Order, sich zurückzuhalten. Abends versammeln sich die Mönche erneut, diesmal mitten im Zentrum, auf dem Platz Barkhor. StudentInnen kommen dazu. Sie bilden einen Kreis und halten sich an den Händen. Massen an Polizisten in Uniform und Zivil sind da, sechs oder sieben Demonstranten werden festgenommen.

Am nächsten Tag, Dienstag, 11. März, demonstrieren die Mönche von Drepung erneut, diesmal für die am Vorabend Festgenommenen. Nun kommen Mönche von der Sera-Pagode hinzu, die 4 km nördlich von der Altstadt liegt. Letztere schwenken erstmals tibetische Fahnen. Kurz vor Mittag kommt es zum Eingreifen der chinesischen Polizei und paramilitärischer Einsatzkräften. Tränengasgranaten werden geworfen, die Mönche werden mit Knüppeln geschlagen.

Am Mittwoch, 12. März, erhitzt ein Gerücht von Suizidversuchen zweier Mönche in Drepung die Gemüter. Sie sollen sich das Handgelenk abgetrennt haben. Andere Mönche in Sera beginnen einen Hungerstreik. Nach Angaben eines Zeugen von der BBC werden diese Mönche von der Polizei innerhalb der Pagode zusammengeschlagen.

Ein europäischer Tourist, auf Urlaub in Lhasa, berichtet, dass von diesem Moment an die tibetischen Altstadtviertel von der Polizei abgeriegelt werden. Alle 10 bis 15 Meter werden auf der Straße um die Pagode Jokhang, das Heiligtum tibetischer Pilger im Herzen von Alt-Lhasa, Tische, Stühle und eine Reihe Polizisten stationiert.

Die Mönche von Jokhang verschanzen sich in der ersten Etage der Pagode.

Am Donnerstag, 13. März, öffnet einer der Mönche ein Fenster zu einer noch Zugang zur Pagode habenden Touristentraube hin und schreit: „Not so good here!“

Am Freitag, 14. März, setzen sich nun die Mönche von der Pagode Ramoche in Aktion.

Nach einem Gebet verlassen sie die Pagode, werden aber sofort von der Polizei aufgehalten. Die Mönche setzen sich daraufhin auf den Boden. Um 14 Uhr sehen TouristInnen viele Militärlastwagen in die tibetischen Stadtviertel fahren.

„Die Mönche haben sich nicht vom Ort bewegt“, erklärt ihnen ein Touristenführer, „die Polizei hat sie angegriffen und die Leute haben darauf einen Militärlastwagen in Brand gesetzt.“ Erstmals haben sich nun also tibetische Schaulustige oder ZuschauerInnen der Ereignisse eingemischt.

Steine trommeln auf die Schilder der paramilitärischen Polizei, die sich zurückzieht.

Die nun plötzlich wütende Menge geht auf die Pekinger Straße, die Hauptarterie Lhasas, und verteilt sich weiter in der Altstadt. Die Wut der TibeterInnen, von einzelnen Mönchen wie aus der Zivilbevölkerung, entlädt sich gegen alle Anzeichen der chinesischen Kolonisation, Polizeifahrzeuge, Büros der Presseagentur Neues China, Gebäude der chinesischen Sicherheitskräfte, das Einkaufszentrum Baiyi.

Gleichzeitig wird die Eingangstür einer Moschee muslimischer Hui-ChinesInnen in Brand gesetzt, den Weg der Menge kreuzende Han-ChinesInnen werden geschlagen, alle nicht-tibetischen Verkaufsstände und kleine Geschäfte werden in Brand gesteckt. Eine Rauchwolke bildet sich über Lhasa.

Der lange aufgestaute Hass der TibeterInnen gegen Han-ChinesInnen und muslimische Hui-ChinesInnen schlägt in nackte Gewalt um. Der Aufstand bekommt einen offen rassistischen Einschlag.

„Es war ein Ausbruch ethnischer Gewalt schlimmster Natur“, erzählt James Miles, der Pekinger Korrespondet für „The Economist“, der einzige ausländische Journalist, der an diesem Tag noch in Lhasa anwesend ist und dem man kaum ein Interesse wird nachsagen können, den tibetischen Aufstand grundlos zu kritisieren.

Am folgenden Tag, Samstag, 15. März, kommt der deutsche „Zeit“-Reporter Georg Blume noch in Lhasa an und kann vor Beginn der chinesischen Repressionswelle durch die zerstörten und nun verlassenen Altstadtviertel gehen.

Er zeigt sich „überrascht vom Ausmaß der Zerstörungen und den Spuren einer Gewalt, die einige Tibeter schockiert hat, auch wenn sie anti-chinesisch eingestellt sind“. Einige tibetische Jugendliche stellen sich ihm in den Weg und rufen: „Jetzt haben wir den Chinesen mal gezeigt, wozu wir fähig sind!“

Die gewaltsamen Aktionen dauern bis Samstagmittag.

Nach chinesischen Angaben gibt es 22 Tote, davon die meisten „Unschuldige“, die durch die Brandstiftungen in ihren Häusern oder Geschäften verbrannten. Im Umkreis des Dalai Lama wird von 140 Toten gesprochen, davon seien die meisten während der chinesischen Repression, die noch folgen sollte, umgekommen.

Allein im Gefängnis Drapchi habe es 26 tote Tibeter gegeben. Doch es gibt aus Lhasa kein Fernsehbild mit Aufnahmen von der blutigen chinesischen Repression, während es zahlreiche Bilder gibt, die rassistische Anti-Han- und Anti-Hui-Aktionen der tibetischen Bevölkerung dokumentieren.

Diese Tatsache wird zur Stärke der chinesischen Propaganda.

Freitags und Samstagmorgen haben TouristInnen keinen Zugang mehr zu den abgeriegelten Stadtvierteln. Sie sehen gepanzerte Fahrzeuge und Truppentransporter die Ausfallstraßen hinunterfahren. Und sie hören Schüsse und Maschinengewehrfeuer. Tibetische BewohnerInnen bezeugen, dass sie seit Freitag Menschen mit eigenen Augen haben sterben sehen. „Die Polizei hat mit scharfer Munition mitten in die Menge geschossen“, erzählt ein tibetischer Augenzeuge später „Radio Freies Asien“.

Der Aufstand in den chinesischen Provinzen. Erste Schlussfolgerungen

In der abgeriegelten Altstadt hat die Repression erst ab Samstagmittag in vollem Ausmaß eingesetzt, als niemand mehr Aufnahmen machen konnte und TouristInnen wie auch westliche JournalistInnen keinen Zugang mehr hatten. Bekannt ist, dass es massenhaft Hausdurchsuchungen und Polizeirazzien gegeben hat, aber niemand kennt die genauen Umstände oder die Zahl der Opfer.

Ein anderes Faktum des Ablaufs ist erklärungsbedürftig: Obwohl bereits eingetroffen, haben die massiven chinesischen Truppen und Sicherheitskräfte ab Freitag noch einmal 24 Stunden gewartet, bis sie alle Mittel einsetzten.

Sie ließen die Aufständischen plündern, brandschatzen und zerstören, wie sie wollten.

Hatten die Truppen Anweisung, ein Blutbad in Bildern zu vermeiden, eine Art tibetisches „Tienanmen“ (nach der gewaltlosen Revolte 1989 in Peking), das für die Veranstaltung der Olympischen Spiele hätte fatal sein können? Oder war es reiner Macchiavellismus des Staates – um den Preis unschuldiger chinesischer Opfer -, um dann eine Repression ohne störende Bilder durchführen zu können?

Danach hat sich der Aufstand in der Folgewoche auf Gebiete der tibetischen Bevölkerung in den chinesischen Provinzen Quinghai, Gansu, Szechuan und Yunnan ausgeweitet.

Am 16. März, kam es dabei zu Ausschreitungen, die in kleinerem Ausmaß denen in Lhasa glichen, aber keine chinesischen Opfer kosteten.

Den Mönchen einer Pagode in Kirti gelang es, die Leichen von 15 durch Schüsse ermordeten Tibetern zu bergen. Die Fotos von 8 dieser Leichen gelangten an die Öffentlichkeit und stellen bis heute die einzigen Fotodokumente der chinesischen Repression dar. Doch viele Aufstände in den chinesischen Provinzen blieben auf tibetischer Seite weitgehend gewaltlos und waren von Forderungen nach einer Rückkehr des Dalai Lama nach China begleitet.

Aus Szechuan stammt die Zeugenaussage eines einheimischen Tibeters über den örtlichen Aufstand am 24. März:

„Es waren die Nonnen, die am 24. März gegen 16 Uhr als erste auf die Straße gingen. Ihre Pagode, Ngyoe-go, liegt ungefähr 10 Kilometer von der Distrikthauptstadt entfernt. Sie forderten die Rückkehr des Dalai Lama. Die bewaffnete Polizei hat sie aufgehalten und gezwungen, auf Lastwagen zu steigen, die sie zur Pagode zurück brachten. Nun kamen die Mönche der nahegelegenen Pagode Chokri zu Hilfe und gingen in die Stadt, gefolgt von zahlreichen DorfbewohnerInnen.

Die Polizei wollte ihnen den Zugang zu öffentlichen Gebäuden verbieten. Die Leute sangen Lieder, forderten Freiheit für Tibet und die Rückkehr des Dalai Lama. Kleine Kieselsteine wurden auf die Polizisten geworfen. Nachher sagten die Chinesen, dass ein Polizist von einem Stein getötet worden sei, aber niemand hat so etwas gesehen. Die Polizei hat nun geschossen. Ein junger Mönch ist gestorben. (…) Am selben Abend sind die Polizeikräfte in die Nonnenpagode gegangen, haben die Nonnen dazu gezwungen, vor ihnen hinzuknien und haben sie alle festgenommen, bis auf die in hohem Alter.“

Aus diesem Ablauf lassen sich m.E. folgende erste Schlüsse über den Charakter der tibetischen Revolte ziehen: Der Aufstand begann als gewaltlose Revolte buddhistischer Mönche mit konkreten Forderungen und richtete sich direkt gegen die chinesischen Unterdrückungsbehörden.

Unmittelbar nachdem der Aufstand in Gewalt umschlug, veränderte sich der zuerst emanzipatorische, legitime Charakter der Revolte in ressentimentgeladene, rassistische Gewalt besonders von Seiten der jugendlichen tibetischen Zivilbevölkerung, die nun gegenüber den Mönchen die Initiative übernahm und den Ablauf bestimmte.

Trotz der Kritik an den Gewaltaktionen auf eigener Seite durch den Dalai Lama im Exil bleibt er als geistige und charismatische Führungsperson innerhalb Tibets populär, was die Forderungen nach seiner Rückkehr bei den tibetischen Aufständen in den chinesischen Provinzen bezeugen.

Die Distanzierungen des sich ebenfalls im indischen Exil befindlichen „Tibetischen Jugendkongresses“ von der gewaltlosen Strategie des Dalai Lama und die Forderung des Jugendkongresses nach absoluter Unabhängigkeit Tibets (im Gegensatz zu kulturellen Autonomieforderungen des Dalai Lama) halte ich einerseits für verständlich, weil aus Sicht der jugendlichen Generation 50 Jahre gewaltloser Kampf für Tibet keinerlei Erfolge gebracht hat.

Andererseits nimmt deren gewaltbefürwortende und -idealisierende Sicht aus dem indischen Exil die mit zunehmender Militanz schnell eingeleitete rassistische, ressentimentgeladene Kehrtwende nicht wahr, die beim Aufstand in Lhasa entstanden ist.