Liebe Leserinnen und Leser,
Emma Goldman (1869-1940) ist vielleicht bis heute die einflussreichste Anarchistin weltweit. Ihre Schriften sind bewegend und haben oft erstaunlich wenig an Aktualität verloren. Das gilt auch für ihren in unterschiedlichen Versionen überlieferten und immer wieder als Motto z.B. für sozialrevolutionäre Demos genutzten Ausspruch:
„Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution!“
Er bringt das zum Ausdruck, was auch ein Merkmal des Anarchismus ist. Der war nämlich nie „nur politisch“, er ist immer auch eine kulturelle, soziale Bewegung, die den Herrschenden jeglicher Couleur mit Vergnügen auf der Nase herumtanzt.
Musik spielt in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle.
„Die Musik ist eine kooperative Kunst, von Grund auf organisch, sozial. Sie ist bestimmt die edelste Form des Sozialverhaltens, zu der wir fähig sind. Und ganz sicher eine der edelsten Aufgaben, die ein Einzelner übernehmen kann. Außerdem ist sie, wie jede Kunst, durch ihr Wesen etwas, das geteilt wird. Der Künstler teilt, das ist das Wesen seiner Darbietung“, so steht es in Ursula K. Le Guins großartigem Roman „Planet der Habenichtse“. (1)
Der große Erfolg der AnarchistInnen während der Spanischen Revolution 1936 wäre ohne ihre musikalischen und sonstigen kulturellen Leistungen gar nicht denkbar gewesen.
Und es ist vielleicht auch kein Zufall, dass sich in Deutschland während der Nazizeit im Untergrund aktive AnarchistInnen konspirativ in Schach- und vor allem in Gesangsvereinen organisiert haben.
Womit wir bei einem Thema dieser GWR wären: Ist Chorsingen Anatur oder Diktarchie?
Rüdiger Haudes Erfahrungsbericht auf Seite 20 sorgt diesbezüglich für Aufklärung, und ist Teil des achtseitigen „Anarchie und Musik“-Schwerpunkts dieser GWR.
Das Thema „Anarchie und Musik“ ist so vielfältig, dass wir vieles, was wichtig ist, diesmal noch nicht beleuchten können. Wir beschäftigen uns z.B. nicht mit der Anarchopunkband CRASS und auch nicht mit dem libertären Komponisten John Cage. Das hat 1991 aber die TRAFIK-Redaktion getan. Vielleicht kann mensch diese sehr empfehlenswerte „Libertäre Musik von Folk bis Punk“-Ausgabe des leider nicht mehr existenten „Internationalen Journals zur libertären Kultur und Politik“ noch antiquarisch bekommen, z.B. bei Anares (www.anares.org)?
Wir lassen in der 330sten Graswurzelrevolution den bakunistischen Sound der Einstürzenden Neubauten auf uns wirken. Auf den Plattenteller legen wir außerdem „The Boy Bands Have Won“, das neue Album der britischen Anarcho-Agitpopband Chumbawamba, sowie anschließend den neuesten Anarchopunk-Silberling von Daddy Longleg und den „Cinemascopic Alternative Rock“ von Sinew.
Der Rapper Chaoze One äußert sich im GWR-Interview: „Ich bin vielleicht die Symbiose aus HipHop und Anarchismus“.
Teodor Webin surft durch das Thema „Libertäre Bewegung und subkulturelle Musik“ und stellt bisweilen gewagte Thesen zur Diskussion.
Mit einem ganz anderen Themenkomplex beschäftigt sich der Soziologe Thomas Wagner.
Er spricht mit dem Musiker Reinald Döbel über die partizipative Musiktradition in Sambia.
Erinnert wird in der „Musik-GWR“ auch an das Leben und Werk von Joe Hill (1879-1915), den Sänger, Liedermacher und Agitatoren aus den Reihen der anarchosyndikalistischen International Workers of the World (IWW).
Die für diese GWR eigentlich eingeplanten Artikel u.a. zum französischen Chansonnier Georges Brassens, zu Bob Dylan, zu Free Jazz und Ton Steine Scherben sind leider nicht rechtzeitig zum Redaktionsschluss eingetrudelt. Vielleicht werdet Ihr sie in einer der nächsten Ausgaben finden?
In der GWR 330 findet Ihr viele weitere, interessante Texte, etwa zum chinesischen Herrschaftssystem, zum gewaltfreien Widerstand in Westeuropa gegen Abschiebungen, Gendreck, Atommafia, Staatsterror, …
Unser „Mexikokorrespondent“ Luz Kerkeling beschreibt, welche Auswirkungen die „Nordamerikanische Allianz für Sicherheit und Prosperität“ (ASPAN) auf die Menschen in Kanada, Mexiko und den USA hat.
Und auf den Aufschrei der Chávez-Fans, den Rafael Uzcáteguis Artikel „Venezuela: Eine Revolution mit einem Kadaver im Mund (2.0)“ hervorrufen dürfte, freue ich mich jetzt schon.
Ein Grund zur Freude ist auch die fünfte Utopia-Ausgabe, die Ihr in der Mitte dieser GWR findet und die Ihr wieder massenhaft zum Auslegen bestellen könnt. Auflage: 16.000!
Insgesamt dürftet Ihr in dieser, mit 24 Seiten besonders dicken Graswurzelrevolution einiges an Lesestoff finden, um die zweimonatige GWR-Sommerpause zu überstehen.
Anarchie, Glück und einen schönen Sommer wünscht Euch und uns
(1) Heyne-Verlag, München, 4. Aufl. 1993
P.S.: Einen interessanten Blick von außen bietet Sandra Henseler mit ihrer im April 2008 verfassten, 29 DIN A4-seitigen Arbeit über "Die Entwicklung der Alternativpresse am Beispiel der 'Graswurzelrevolution'". Diese, im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Seminars "Alternative Medien im digitalen Zeitalter" an der Uni Bremen entstandene Studie haben wir dokumentiert unter: www.graswurzel.net/ueberuns/