Aufstand in Tibet, Erdbebenkatastrophe, Olympiade. Die Welt blickt auf China - und sie sieht plötzlich, dass hinter den atemberaubenden Wachstumsraten eines angeblich stabilen Systems der Abgrund lauert. Mao Zedong ist 1976 gestorben, seit 1978 führt die Kommunistische Partei Chinas an der Macht, eingeleitet von Deng Xiaoping (1904-1997), einen wirtschaftlichen Kurswandel zur Einführung des Kapitalismus durch. Heute gibt es eine riesige Kluft von Arm und Reich, Land und Stadt, die Umweltprobleme nehmen katastrophale Ausmaße an. (Red.)
Zu Anfang der prokapitalistischen Wende priesen viele frustrierte Ex-MaoistInnen oder ihre langjährigen SympathisantInnen den neuen Kurs fast euphorisch als Orientierung „an den Bedürfnissen der Bevölkerung“ und politische Abkehr vom Stalinismus Maos. (1)
Dann brachte Tienanmen 1989, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking (2), den Wunsch nach Bruch mit den diktatorischen Strukturen der politischen Herrschaft deutlich zum Ausdruck. Vom Kaiserreich über die von Warlords dominierte Republik (1911-1949) bis zum Maoismus wurden die diktatorischen Strukturen der Herrschaft nie wirklich unterbrochen.
Wie ist Chinas politisches System heute zu analysieren?
Wer sich von der Mao-Ära nicht immer noch oder wieder neu blenden lässt und die Geschichtsfälschungen und Verbrechen Maos in ihrer gesamten Dimension mit einbezieht (3), muss hier Kontinuität und Wandel in den Formen der Autorität gleichzeitig benennen.
Ich möchte vorschlagen, Chinas Staat als System der zynischen Herrschaft, bestimmt durch Geschichtsfälschung, Korruption und persönliche Bereicherung, zu beschreiben – ein Zynismus der Herrschaft, der sich erst jüngst wieder in den sich überschlagenden Denunziationen der aufständischen TibeterInnen von chinesischer Regierungsseite offenbarte.
Ich stütze mich dabei maßgeblich auf die jüngsten umfassenden Analysen der chinesischen Journalistin und Dissidentin Qinglian He, „China in der Modernisierungsfalle“, deren Publikationen heute in China verboten sind und die seit 2001 im US-amerikanischen Exil lebt. (4)
Sie schreibt: „China ist ein Staat mit einer kommunistischen Einparteien-Diktatur, in dem Partei und Regierung eine einheitliche Interessengemeinschaft bilden. Zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung hat die KP immer nur zu ein und demselben Mittel gegriffen, nämlich ‚alle instabilen Faktoren im Keim ersticken‘. Unermüdlich ist die KP bestrebt, faktisch keine organisierte Kraft als Konkurrenz für die KP-Herrschaft über China hochkommen zu lassen, die sie womöglich abzulösen vermöchte, denn der Untergang der KP würde ihrer Meinung nach zwangsläufig zum Zusammenbruch Chinas führen.“ (S. 32f.)
Geschichtsfälschung: Systematische Lüge als Instrument für Machterhalt
Da sich personale Herrschafts- und Führungskonflikte ausschließlich innerhalb der kommunistischen Partei abspielen, waren Instrumentalisierungen, Seilschaften, perfide politische Tricks und Taktiken sowie persönliche Denunziationen von Anfang an zentrale Mechanismen der innerparteilichen Machteroberung und dann des Machterhalts. Im sowjetischen Stalinismus führte dies schnell zur Ausbildung des Personenkults einerseits, von systematischer Geschichtsfälschung andererseits. Die öffentliche Lüge war Mittel zur Popularisierung Stalins. Genauso bei Mao. Realität und Mythos etwa schon beim Langen Marsch 1934/35 klaffen meilenweit auseinander. Viele Begebenheiten sind frei erfunden, z.B. die legendäre Überquerung der Brücke über den Fluss Dadu, mitten in der Schlacht, was als wichtigster militärischer Erfolg des Langen Marsches überhaupt in die Geschichtsbücher einging. Erzählt hat das Mao dem ergebenen und naiven britischen Journalisten Edgar Snow, der 1936/37 die erste Mao-Biographie schrieb, die Mao weltweit bekannt machte. Mao-Kritikerin Jung Chang hat noch lebende ZeitzeugInnen, die an der Brücke leben, interviewt: „Das alles ist frei erfunden. Es gab keine Schlacht an der Dadu-Brücke. Wahrscheinlich entstand die Legende aufgrund des spektakulären Schauplatzes: Eine Kettenbrücke über einem reißenden Fluss lieferte einen hervorragenden Hintergrund für Heldentaten. Als die Roten am 29. Mai (1935; d.A.) die Brücke erreichten, befanden sich dort keine Nationalistischen Truppen. Die Kommunisten behaupten, die Brücke sei von einem Nationalistischen Regiment unter einem gewissen Li Quan-shan verteidigt worden, aber Telegramme, die an das Regiment gingen oder von ihm versandt wurden, zeigen, dass es sich weit weg in einem Ort namens Hualinping befand.“ (5)
Das ist nur ein nachgewiesenes Beispiel unter vielen. Stalin hat westlichen BesucherInnen à la Edgar Snow die heute bekannten potemkinschen Dörfer aufgetischt, Modelldörfer, die nichts mit der Realität auf dem sowjetischen Land zu tun hatten. Die Mythen des Maoismus sind keine potemkinschen Dörfer, sie sind potemkinsche Großstädte!
Aus der Instrumentalisierung der Geschichtsfälschung für Zwecke des internen Machtkampfs und des Machterhalts hat sich in China ein System der Fälschungen ausgebildet. So ist es geradezu ulkig, wenn noch die gewendeten Helmut Forster-Latsch und Jochen Noth Mitte der 1980er Jahre in ihrem Pro-Deng-Buch einen riesigen Statistik-Anhang präsentieren, der vertrauensvoll aus den „Statistischen Jahrbüchern der Volksrepublik China zusammengestellt“ (6) wurde.
Quinglian He räumt mit dieser Zahlengläubigkeit auf: Die Regierung „ist die Urheberin und Verbreiterin falscher Informationen. Was sie an gefälschten statistischen Daten und Nachrichten ‚zur Aufrechterhaltung des Ansehens von Partei und Regierung‘ herausgibt, ist einzigartig auf der ganzen Welt.
(…) Die meisten Regierungsmitglieder haben zwei Gesichter. Geschickt bahnen sie sich ihren Weg als Beamte und wechseln jederzeit mühelos von einer Rolle in die andere: Gewohnheitsmäßig spulen sie im Beamtenjargon alle möglichen Lügen ab, an die sie selbst nicht glauben.“ (S. 35) Und: „In den Schulen wird die ideologische Erziehung verschärft, in den Fächern Sprache, Geschichte und Politik werden Kindern und Jugendlichen alle möglichen Lügen eingetrichtert.“ (S. 37)
Ein Kapitel widmet die Autorin der Tatsache, dass die Finanzberichte vieler chinesischer Unternehmen von den Buchhaltungsbüros manipuliert und gefälscht werden. Die Menschen in China wissen, was sie davon halten sollen: „(…) in ganz China gibt es niemanden, der den statistischen Zahlen vertraut.“ (S. 290)
Die Folgen zeigen sich in allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Wirtschaft (nur 60 % aller Verträge werden eingehalten) bis hin zur Bevölkerungspolitik. So ist der Ein-Kind-Haushalt in China reine Statistik und damit reine Illusion. Auf dem Lande gibt es kaum Ein-Kind-Familien. Fast alle Familien in den chinesischen Dörfern haben drei, vier Kinder oder mehr, die örtlichen Parteikader eingeschlossen. Die Vergabe von Geburtserlaubnisscheinen an Familienklans oder gegen Bezahlung ist Teil der Korruption. Die Kinder über Eins werden einfach nicht registriert. So gibt es heute viel mehr ChinesInnen als statistisch erfasst sind. Sie haben keine Papiere, sie existieren nicht in der Statistik, aber in Wirklichkeit – die Situation wäre ein guter Romanstoff für B. Traven gewesen.
Korruption: Mittel zur allgemeinen Bereicherung
Verbunden mit einer Kultur der Fälschung ist die Tendenz zur Korruption. „1995 listete die Uni Göttingen in einem Evaluationsbericht 41 Länder nach dem Grad der Korruption auf. China nahm den 40. Platz ein, das Schlusslicht bildete Indonesien; das heißt, China nimmt hinsichtlich der Verbreitung von Korruption den zweiten Platz ein.“ (S. 159)
In China haben sich alte und moderne Formen der Korruption gegenseitig verstärkt. Gebrochen wurde nie mit ihnen. Bereits für alle Kaiser-Dynastien galt, dass es Korruption gab, „jeweils gegen Ende einer jeden Dynastie nahm sie noch erheblich zu. (…) Die ‚Korruptionskultur‘ unter der späteren Guomindang-Herrschaft ist wohl jedem bekannt. (…) Die gegenwärtigen Korruptionsphänomene sind nichts anderes als eine Fortsetzung der alten chinesischen Korruptionskultur.“ (S. 159f.) „Seit ihrem Machtantritt predigt die KP Chinas die ‚Theorie der Nachfolger‘, die ihrer Kernaussage nach den Kindern und Angehörigen der politischen Führungsschicht von Geburt an das Privileg einräumen, das Machtmonopol der Vätergeneration erben zu können. (…) In der politischen Oberschicht Chinas hat es noch nie jemanden gegeben, der diese Art der Vererbung von Macht wirklich bekämpft hätte; schon immer hat man dabei geholfen, den Kindern und Verwandten von Kollegen die Türen zum Erfolg weit zu öffnen. Da die Macht der Oberschicht wie gehabt vererbt werden kann, wollen die Kader mittlerer und unterer Ebenen natürlich nicht zurückstehen und ahmen dies in großem Stil nach. (…) Dieser Vererbungsmechanismus von Macht (…) ist in Wirklichkeit die unausrottbare systemimmanente Wurzel der Korruption im heutigen China. (…) Jede Regierung, die mittels politischer Unterdrückung die Gesellschaft zu stabilisieren sucht, muss den Beamten ausreichende Vorteile bieten, um sich deren Loyalität zu sichern.“ (S. 468f.) Gelegentliche Anti-Korruptions-Kampagnen der Regierung bekämpfen nicht die Korruption, „sie dienen lediglich zur Durchführung interner Säuberungen“. (S. 36)
Selbstverständlich sind deshalb die politisch Mächtigen die gesellschaftliche Gruppe, die seit den pro-kapitalistischen Reformen Deng Xiaopings „als erste reich wurde; der Verlierer hingegen ist die große Masse der Bevölkerung. Die fünf Prozent der chinesischen Bevölkerung, die den ‚Machtadel‘ darstellen, mächtige und einflussreiche Funktionäre, sind durch die Ausplünderung von 80 Prozent der Bevölkerung, der Unterschicht, zu ihrem großen persönlichen Reichtum gekommen.“ (S. 31)
Die Deng-Reformen begannen nach 1978 mit zwei wirtschaftlichen Einschnitten: Die maoistischen Volkskommunen wurden aufgelöst und die großen Staatbetriebe nicht etwa dezentralisiert, sondern sofort in Aktienfirmen umgewandelt. Unter dem Vorwand der Teilhabe wurde den ArbeiterInnen so ihr Kapital aus der Tasche gezogen. Als Rente abgetragen haben das Aktienkapital, oft auf Kosten der Betriebe, im Laufe der Zeit dann lokale Parteikader im Verbund mit oft aus Klanfamilien stammenden neuen Unternehmern.
Kritische ForscherInnen bezeichnen den Prozess als „Vermarktung der Macht“.
Auf dem Land wurde der kollektivierte Boden zunächst den Kleinbauernfamilien zur Nutzung übergeben, wodurch Bauern/Bäuerinnen an Land kamen – ein Hauptgrund dafür, dass 1989 Tienanmen eine städtische Bewegung blieb und somit scheiterte: „Die Unzufriedenheit der chinesischen Unterschichten setzte bereits nach 1992 ein. Die Ereignisse des 4. Juni 1989 hatten sich nicht zu landesweiten Unruhen ausgedehnt. Der Schlüssel dafür lag in der Tatsache, dass die Arbeiter damals noch zu den Reformgewinnern zählten und die Bauern noch die Vorteile des familiären Verantwortungssystems genossen.“ (S. 472)
Das änderte sich seit Anfang der 1990er Jahre durch die so genannte „Einhegungsbewegung“. In einem großangelegten Industrialisierungsplan wurden „Entwicklungszonen“ eingerichtet. Dabei kam es zu Abrissen alter Häuser in Städten und zur Beschlagnahme von Land. Grundlage war die Tatsache, dass die Kleinbauern zwar ein Nutzungsrecht für ihren Boden hatten, aber kein Eigentumsrecht. Das war schon 1978 beim Staat geblieben, und so konnte bei Bedarf relativ schnell Boden für neue Industriebetriebe oder Immobilien enteignet werden.
„Seit dem Jahr 2000 führte die ‚Einhegungsbewegung‘ in den Städten durch den Abriss zahlreicher Häuser und die Umsiedlung ihrer Bewohner zur Enteignung eines Teils der Stadtbevölkerung, auf dem Land degenerierte sie zur Okkupation von Ackerland der Bauern, die nur äußerst geringe Entschädigungen erhielten. Sehr heftige Proteste waren die Folge, denn die Existenz der Betroffenen war bedroht oder wurde vernichtet.“ (S. 77)
Seither gibt es in China jedes Jahr Tausende lokale und regionale Bauernaufstände, die isoliert stattfinden, brutal unterdrückt werden und nicht annähernd soviel weltweite Aufmerksamkeit hervorrufen wie der tibetische Aufstand.
So „haben insgesamt mehr als 60 Millionen Bauern ihren Boden verloren, von dem ihre Existenz abhing. Ebenso gibt es viele Stadtbewohner, die durch den Abriss ihrer Häuser und Wohnungen (ähnlich wie die Beseitigung illegaler Gebäude in Simbabwe) gezwungen sind, als Obdachlose umherzuziehen. Es kam dadurch zu einer Reihe von Widerstandsaktionen, bei denen sich Leute aus Protest selbst verbrannten. Grad und Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen sind in China viel schlimmer als in Simbabwe.“ (S. 502)
Im Zuge der staatlichen Einhegung, dieser großangelegten Enteignungspolitik von lokalen Kadern im Bündnis mit Immobilienhaien, sind deshalb viele Bauern und Bäuerinnen (die Landbevölkerung Chinas macht ca. 70 % der Gesamtbevölkerung aus) in die Städte gezogen und stellen seither ein Heer von sogenannten WanderarbeiterInnen dar. Doch es gibt einen eklatanten Bildungsunterschied zwischen Stadt und Land. Die auf dem Land aufgewachsenen WanderarbeiterInnen hatten weder ausreichend Zugang noch die nötige Qualität einer Bildung für die sich modernisierende chinesische Stadt. Ungelernte oder angelernte Arbeit wurde dort rar.
High-Tech-Studiengänge und sich ständig erhöhende Ausbildungsgebühren im Rahmen einer propagierten „Industrialisierung der Bildung“ ließen die WanderarbeiterInnen zu ModernisierungsverliererInnen werden. Sie wurden so genannte „Drei-ohne“-Bauern: „ohne Land, das sie bestellen können, ohne Beschäftigung, die sie ausüben können, und ohne Ort, an den sie gehen können. (…) Diese ‚Drei-ohne‘-Bauern, die ihr Land verloren haben, bilden das Epizentrum für große Erschütterungen in China.“ (S. 378) Jedes Jahr kommen rund 90 Millionen WanderarbeiterInnen neu hinzu. (S. 487)
Verarmt, ohne Bildung, ohne Arbeit und ohne Überlebensperspektive wandten sich viele WanderarbeiterInnen in mittleren und größeren Städten Chinas dann schnell der organisierten Kriminalität zu, was zu Mafia-Strukturen, einer Familienklan-Mentalität und einem enormen Anstieg der Kriminalität in den Städten beitrug.
Die sich dabei herausbildenden Mafia-Chefs bestechen wiederum lokale Beamte und arbeiten zu beider Wohl zusammen. Gelegentlich setzt sich auch ein Mafia-Boss die „rote Mütze“ auf und lässt sich als Gemeindevorsteher oder lokaler Parteikader wählen. Andersherum tendieren die durch Korruption verursachten mafiösen Tendenzen in der Regierung in dieselbe Richtung: „Bei den Abriss- und Umsiedlungsfällen und den Protestaktionen der Bauern, die in den letzten Jahren überall gehäuft auftreten, erhielten die das Volksvermögen plündernden wirtschaftlichen Eliten mal offene, mal versteckte Rückendeckung von Seiten der lokalen Regierungen.
Bei genauerer Analyse erkennt man, dass das Handeln der lokalen Regierungen sich immer mehr dem Agieren der Mafia-Organisationen annähert.
Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Gewalt der Mafia-Organisationen illegal und die der lokalen Regierungen legal ist. Diese ‚legale Mafia‘ lässt im Vergleich zur illegalen Mafia ihre Gewalt überall wüten und den Menschen bleibt kein Ausweg.“ (S. 491)
Es ist kurios, dass sich bei den Entrechteten und Marginalisierten in dieser Lage, in der sie mit korrupten und zynischen lokalen Kadern und deren willkürlicher Gewalt konfrontiert sind, eine Art Muschik-Mentalität, die wir aus dem russischen Zarismus kennen, einstellt: Viele Menschen „führen die Gründe für die zahlreichen gravierenden Probleme in China einfach darauf zurück, dass die ‚Schriften‘ der Zentrale gut seien, sie würden nur durch ‚perfide Mönche‘ der unteren Ebene verzerrt. So etwa der Fall der vielen Bauern des Kreises Shangcai in der Provinz Henan, die sich durch Blutspenden mit Aids infiziert hatten. Obwohl sie die lokalen Regierungsbeamten als ‚Geister und Monster des Bösen‘ betrachteten, die mit allen erdenklichen Mitteln unterdrückt werden müssten, hegten sie aber weiterhin die Hoffnung, dass ihr einziger gerechter Richter – die gerechten und aufrichtigen Funktionäre der Zentralregierung – ihnen beistehen würde. Die Aids-Patienten sagten: ‚Im Grunde ist die Politik der Zentrale gut, nur die Ausführung unten an der Basis ist schlecht‘.“ (S. 492)
Für Quinglian He ist „diese Illusion vom ‚modernen heiligen Herrscher und tugendhaften Beamten‘ die moderne Version der in der traditionellen bäuerlichen Kultur verbreiteten und tief im Volk verankerten Ansicht ‚bestechliche Beamte bekämpfen, aber nicht den Kaiser‘. Das Ergebnis der langen ideologischen Erziehung durch die KP China war nicht die Umgestaltung dieser Kultur, sondern in der Ära Mao Zedong wurde diese Vorstellung durch die ‚Schaffung von Göttern‘ sogar noch auf die Spitze getrieben, nur dass sich die ‚heiligen Herrscher‘ von den Kaisern der feudalen Zeit in führende Persönlichkeiten wie Mao Zedong und Deng Xiaoping verwandelt hatten.“ (S. 493)
Transformation zur zynischen Herrschaft
Seit Deng Xiaoping gibt es keine über die persönliche Bereicherung hinausgehenden ideologischen Ziele mehr: „Deng Xiaoping wollte die von Mao etablierte autokratische Macht niemals aufgeben. Er hatte von Natur aus kein Interesse an Theorie (…). Gestützt auf seine eigene politische Autorität beschränkte er sich auf zwei äußerst kurzsichtige Methoden: Erstens griff er die Lehre ‚Die Praxis ist das einzige Kriterium der Wahrheit‘ auf und legte ein philosophisches Mäntelchen darum. Zweitens erließ er das Denkverbot, man dürfe ‚keine Dispute‘ veranstalten.“ Einziger Maßstab waren nunmehr Effizienz und Reichtum: „Lasst einige zuerst reich werden; das fördert den gemeinsamen Wohlstand des gesamten Volkes.“ (S. 467) „Seine ‚Null-Disput-Direktive‘ führte zu einer Diskrepanz zwischen ‚dem, was man sagt, und dem, was man tut‘, wodurch die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftet wurde.“ (S. 464)
Fälschung und Korruption wurden nun systematische Mittel der Bereicherung von Beamten, die wegsahen, keine Qualitätskontrollen im Warenmarkt mehr machten oder gleich bei Fälschungen mitmachten.
So kam der wegen hoher unmittelbarer Profite lukrative Markt gefälschter und nachgemachter Waren Chinas zustande: Lebensmittelfälschungen, Fälschungen von Arzneimitteln, illegale Ausübung medizinischer Behandlungen, illegales Sammeln und Vertreiben von Blut und Blutplasma (in Henan gibt es ganze „Aids-Dörfer“).
So ist es kein Zufall, dass SARS, die Vogelgrippe, in China entstanden ist. Die ökologischen Folgen sind verheerend: „38 Prozent der Oberfläche Chinas sind bereits von Desertifikation betroffen, was die sowieso schon knappe Anbaufläche pro Kopf noch verringert. Der bedenkenlose, räuberische Abbau von Mineralien hat ein widersprüchliches Phänomen zur Folge: Die Nutzungsrate ist auf ein Minimum gefallen, der Ressourcenverbrauch hingegen ist extrem hoch (…), die geförderten Rohstoffe werden jedoch nur zu einem Drittel zu Fertigprodukten verarbeitet.“ (S. 34)
So entstand ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit, des politischen und ökonomischen Zynismus: „Die Beziehungen zwischen den oberen und unteren Beamtenrängen waren ausschließlich von den jeweiligen Interessen bestimmt, profitgieriges politisches Spekulationsverhalten wurde zum einzigen Maßstab für die Beamten. (…) Solange die eigenen Interessen gewahrt bleiben, kümmert es keinen, wenn andere vor den eigenen Augen unterdrückt werden und ihre Rechte verlieren, manche weiden sich sogar am Unglück der anderen.“ (S. 471f.)
International besteht gegenwärtig ein stillschweigendes Übereinkommen aller westlich-kapitalistischen Regierungen zur Zusammenarbeit mit Chinas zynischen Herrschenden und ein stark abnehmendes Interesse an Kritik, weil riesige Investitionssummen westlicher Konzerne nach China geflossen sind. Auch das ist zynische Herrschaft. Auf der UN-Menschenrechtskonferenz in Genf 2003 haben die USA keinen Antrag zur Kritik der Menschenrechte in China eingebracht. Dies gilt als Einschnitt und als Symbol des außenpolitischen Umschwungs der USA.
„Obwohl es in den westlichen Gesellschaften nach wie vor viele Organisationen und Persönlichkeiten mit großem Interesse am Zustand der Menschenrechte und an der politischen Freiheit in China gibt, sind sie gegenüber der Wirtschaftswelt und der Regierungspolitik in ihren Ländern machtlos.“ (S. 504)
So werden wohl auch zu Tibet noch ein paar Krokodilstränen geweint werden – und dann wird zur Tagesordnung übergegangen. Brot und Spiele?
Diesmal nur Spiele – die olympischen…
(1) vgl. Kurzvorstellung im Buch von Helmut Forster-Latsch und Jochen Noth: Chinas Weg in die Moderne. Anders als Moskau? Sendler Verlag, Frankfurt/M. 1986.
(2) Vgl. mehrere Artikel in Graswurzelrevolution Nr. 135, Sommer 1989 und 136, September 1989; sowie Klaus Haag: Der Tausendköpfige Drache. Herrschaftssystem und Protesttradition in der Geschichte Chinas. Das Massaker in Peking 1989. Mink Verlag, Berlin 1991.
(3) Jung Chang und Jon Halliday: Mao. Blessing Verlag, München 2005.
(4) Qinglian He: China in der Modernisierungsfalle. Hamburger Edition, Hamburg 2006. Wie schon bei vielen sowjetischen DissidentInnen ist es auch bei vielen chinesischen RegimekritikerInnen wie Qinglian He so, dass ihrer genauen, radikalen und scharfsichtigen Kritik von Chinas Herrschaftssystem ein geradezu naiver, illusionärer und affirmativer Blick auf westlich-kapitalistische Gesellschaften wie den USA gegenübersteht. Dies vermindert jedoch nicht die Qualität ihrer Analysen zu China.
(5) Jung Chang, a.a.O., S. 204f.
(6) Forster-Latsch/Noth, a.a.O., S. 292 u. 297-327.