schwerpunkt: anarchie und musik

Chorsingen: Anatur oder Diktarchie?

Ein Erfahrungsbericht

| Rüdiger Haude

Seit einiger Zeit nehme ich ein paar mal im Jahr an so genannten Singfreizeiten teil, zu denen sich einige befreundete Familien und Einzelkämpfer eine Woche lang an einem schönen Ort treffen, um miteinander mehrstimmig zu singen. Obwohl große Teile des dort gepflegten Repertoires der christlichen Singtradition entstammen, macht das einen Heiden-Spaß. In den meistens mit Rotwein und Doppelkopf-Runden durchgebrachten Nächten kommt dann jedes Mal ein Streit auf, der zwar freundschaftlich, aber unerbittlich ausgetragen wird: Welches sind die politischen Implikationen der Chormusik?

„Chorsingen verträgt sich nun einmal nicht mit Demokratie“, pflegt dann die Chorleiterin – nennen wir sie hier einmal Sabine – zu sagen, „wenn da jeder mitreden wollte, kämen wir zu nichts! Chorsingen ist Diktatur!“ Und jedes Mal entgegne ich: „Ja freilich brauchen wir beim Singen deine Anweisungen; und dennoch ist Chorsingen, gerade wenn es fluppt, Demokratie, genauer gesagt sogar Anarchie – insbesondere, solange du den Chor leitest!“ Sie will und will es mir nicht glauben. Also: Schauen wir uns das Problem einmal etwas näher an.

Kanon

Glücklicherweise gehört zu den Evergreens all dieser Singfreizeiten ein Lied, welches diese Frage direkt thematisiert. Es hat den Titel „Chorsingen ist Diktatur“ und folgenden Text: „Chorsingen ist Diktatur, / Da ist von Demokratie keine Spur! / Die Leute singen, singen, singen immer nur, / Was der Chorleiter will – ganz stur!“

Es ist ein Kanon, der mit bis zu acht Stimmen gesungen wird. Das Schöne an diesem Lied ist, dass es seinen Text so gründlich Lügen straft, dass dies allein unsere Frage schon klärt.

  • Ein Kanon hat die Eigenschaft, dass alle Sänger, wenn auch nicht zur gleichen Zeit, dasselbe singen. Er ist insofern strikt egalitär und kann zugleich komplexe und spannende Harmonien hervorbringen. Unser vorliegender Kanon hat überdies zwei Einsätze pro Liedzeile, d.h. die zweite Stimme setzt schon ein, wenn die erste bei ihrem langgezogenen „-tur“ von „Diktatur“ ankommt, die dritte Stimme, wenn die erste „Demo-“ singt, usw. Das gibt dem Lied eine etwas chaotische Nuance, obwohl auch dies seinen harmonischen Charakter nicht beschädigt.
  • Dieser Kanon wird stets auf ausdrücklichen Wunsch der Teilnehmer, besonders der mitsingenden Kinder, gesungen. Von wegen „Was der Chorleiter will, ganz stur“! Wenn unsere Chorleiterin überhaupt dabei ist, dann gibt sie die Tonhöhe des Anfangstons und die Einsätze an, das war’s. Aber es klappt auch ohne koordinierende Person. So richtig politisch wird es aber erst, wenn Sabine das (in anderen Fällen unentbehrliche) Zeichen zum Beenden der Darbietung gibt. (Bei einem Kanon singt man ja den Text im Prinzip in einer Endlosschleife.) Viele hören dann tatsächlich auf, andere – je jünger, desto mehr – singen einfach weiter, manche wechseln in andere Stimmen hinüber, andere variieren den Text, und wenn nicht alles in Gelächter zusammenbricht, stehen nach 20 Sekunden alle Stimmen wieder und singen unverdrutzt weiter – unter Beteiligung der milde lächelnden Sabine. Der „Diktator“ hat kapituliert. Das tatsächliche Ende des Kanons ist erreicht, wenn der oder die Letzte aufhört zu singen. So einfach ist das.

 

Chorsingen ist Diktatur

 Macht ≠ Herrschaft

Hier sehen wir das Prinzip der Selbstorganisation in Aktion. Bei anderen Musikstücken ist dies nicht so offensichtlich. Wird zum Beispiel eine Motette von Johann Sebastian Bach geprobt, dann würde ein politischer Beobachter Entscheidungsfindungen wahrnehmen, die größtenteils den Charakter von Anweisungen haben. Freilich: Auch hier wird Sabine zuweilen in Diskussionen verstrickt, die bestimmte musikalische Entscheidungen anzweifeln oder Verbesserungen vorschlagen. Wer singt in welcher Stimme? Welchen Ausdruck erheischt diese oder jene Textstelle? Kann die Sopran-Stimme ab Takt x noch mal separat proben? Usw. Aber hier hat die Chorleiterin unangefochten das letzte Wort, und es mag Kollegen von ihr geben, die sich überhaupt nicht in die Art ihrer ‚Amtsführung‘ hineinreden lassen.

Doch selbst wenn es sich bei solchen musikalischen Führungspersonen um machtgeile Säcke, und bei den Sängern um unterordnungswütige Subjekte handelt, ist die politische Struktur eines Chores objektiv noch immer näher am Typus der Anarchie als an jenem der Diktatur. Dies nicht deswegen, weil bei dauerhaft bestehenden Chören die Chorleiter-Stelle in der Regel durch Wahl seitens der Sängerinnen und Sänger besetzt wird. Sondern aus folgenden drei Gründen.

  • Zwar liegt im Chor ein klares Machtungleichgewicht vor, das bis zur Anweisungsbefugnis der Chorleiterin reicht. Aber diese Befugnis ist strikt begrenzt, zeitlich, räumlich und vor allem sachlich. Eine Chorleiterin, die von den Chormitgliedern verlangen würde, ihre Wohnung zu staubsaugen oder bei den nächsten Landtagswahlen eine bestimmte Partei zu wählen, würde sich bestenfalls lächerlich machen.
  • Die Anweisungsbefugnis wächst der Chorleiterin durch ihren Wissens- und Könnens-Vorsprung im Hinblick auf die zu singende Musik zu. Dazu kommt in vielen Fällen – z.B. auch bei Sabine – eine Begeisterungsfähigkeit, eine ansteckende Ergriffenheit von der Musik, eine Ausstrahlung, kurz: das, was der Soziologe Max Weber vor hundert Jahren „Charisma“ genannt hat. Charisma kann eine Quelle von Herrschaft sein (das war Webers Thema), aber auch von herrschaftsfernen Machtkonstellationen. Ein Mechanismus, der verhindern kann, dass charismatische Führung sich zu Herrschaft verfestigt, ist der ständige Bewährungszwang des Charismas. When the soul is gone, dann ist die Grundlage des Machtungleichgewichts weggefallen, und das Ungleichgewicht selber fällt dann regelmäßig kurz darauf. Voraussetzung dafür ist, dass keine herrschaftsspezifischen Institutionen im Hintergrund stehen, also etwa einige dezente Polizeibeamte, die hinter den Tenören stehen, um die Einhaltung der Tonhöhe zu kontrollieren, oder eine Peitsche als Taktstock. Beides ist bei Chormusik eher unüblich.
  • Das bringt uns zum dritten und entscheidenden Punkt. Die Teilnahme an einem Chor ist freiwillig. Die Initiative zum Mitmachen geht von den einzelnen Sängern und Sängerinnen aus, und wenn die Chorleiterin unmusikalisch oder uninspiriert ist oder die Diktatorin heraushängen lässt, steht es jedem frei, einfach wegzubleiben. Vor allem dies: die ständig offen bleibende Möglichkeit, die Kooperation aufzukündigen, die unveräußerliche exit option, garantiert, dass das Machtgefälle im Chor nicht die Form von Herrschaft annimmt, sondern von Autorität.

Solche Autorität ist ein Machtmodus, welcher in herrschaftsfreien Vergesellschaftungen sehr häufig vorkommt. Sie wird immer wieder in der Ethnographie staatsloser Gesellschaften beschrieben, nicht zuletzt im Hinblick auf die Häuptlinge der „Gesellschaften gegen den Staat“, die Pierre Clastres so eindringlich beschrieben hat. Stets sind die drei Merkmale – strikte Begrenzung der Anweisungsbefugnis (nämlich auf den Fall eines Krieges), Bewährungspflicht des Charismas, Freiwilligkeit der Teilnahme – miteinander verknüpft, um die Entstehung von Herrschaft zu verhindern. Man könnte unsere Chorleiterin auch mit einem karibischen Piratenkapitän vergleichen: Von der Mannschaft gewählt und stets gewärtig, bei Versagen oder bei Entwicklung von Kommandeursallüren wieder abgewählt zu werden; mit Aussicht auf denselben Beuteanteil wie die KameradInnen; aber durchaus mit so etwas wie ‚Befehlsgewalt‘ während des Kampfes, wenn es schnell gehen muss – eine Kompetenz, die in ruhigeren Fahrwässern sofort wieder erlosch.

„Yo ho ho – und ’ne Buddel voll Rum!“ Dieser Vergleich mag mancher Leserin, manchem Leser absurd erscheinen. Wer als Kind von seinen Eltern in einen Chor gezwungen wurde, konnte vielleicht eventuellen Anmaßungen des Chorleiters nicht ohne weiteres entgehen; und in Kirchenchören ist die exit option zuweilen durch den sozialen Druck der Peers, also der Mitsängerinnen und Mitsänger, erschwert („Du kannst uns doch nicht gerade jetzt im Stich lassen“). In der Hauptsache sind dies jedoch Faktoren, die der Machtstruktur zwischen Chorleitung und Sangeskollektiv äußerlich sind. Und die eine allgemeine Lehre bereithalten: Elternmacht und horizontale soziale Kontrolle werden – das wage ich zu prophezeien – auch nach der libertären Revolution zu den verzwicktesten Problemen zählen.

Der Ton macht die Musik – das Wort auch

Was die Plausibilität meiner Argumentation eher bedroht, ist die soziale Trägerschaft vieler tatsächlich vorhandener Chöre. Kirchenchöre und, stärker noch, Männergesangsvereine existieren häufig in konservativen Milieus – ein Eindruck, den die gesungene Literatur oft noch verstärkt. Aber beim näheren Betrachten wird das Bild auch hier schon deutlich bunter, und außerdem widerlegt selbst ein herrschaftsfroher Inhalt keineswegs die anarchische Form. Er lädt eher dazu ein, ihm einen ‚angemesseneren‘ Inhalt entgegenzustellen. (Wenn Neonazis auf punkähnliche Musik abfahren, ändert das ja auch nichts daran, dass Punk vom Prinzip her eine Graswurzel-Musik ist.)

Als der alte grantelnde Musikphilosoph Adorno 1968 dekretierte, Chorsingen spiegele „falsches Bewusstsein“, die „Chorgeselligkeit“ zeitige „künstliche Wärme“, den „fatalen Anschein einer heilen, geborgenen Welt inmitten der ganz anderen“, und ihre Verteidigung sei daher „nicht zu verantworten“ – da hatte er wohl überreichliches Anschauungsmaterial zur Hand, das ihn bestätigte. Aber dass der Anschein einer geborgenen Welt auch den Anspruch auf eine wirklich geborgene Welt aufbewahren kann, kam ihm nicht in den Sinn. Erst recht nicht die Frage nach der Veränderbarkeit der textlichen und musikalischen Inhalte dessen, was von Chören gesungen wird.

Wie groß muss wohl der ungehobene Schatz alter Sauf-, Kampf-, Freiheits- und Liebeslieder sein, die in irgendwelchen Archiven verschimmeln? Wer hat zuletzt Thomas Müntzers revolutionäre Kirchenlieder gesichtet? Aber auch: Wo steht geschrieben, dass die genialen Chorsätze alter Meister nur den Konservativen gehören, oder dass wir deren teilweise etwas sonderbare Texte als direkte Handlungsanweisungen für unsere Gegenwart nehmen müssen, wenn wir versuchen, die Stimmung einzufangen, die bei ihrer Entstehung im, sagen wir, 17. Jahrhundert Pate stand? Wir können ja selbst viele Texte von Ton Steine Scherben aus den 70er Jahren heute nicht mehr ganz ernst nehmen, und hören sie vielleicht dennoch gerne.

Gegenüber dem Hören, also dem Konsum von Musik, ist die musikalische Selbsttätigkeit, vom Standpunkt libertärer Politik aus betrachtet, entschieden im Vorteil. Und unter den Formen musikalischer Produktion hat das Singen den sehr handfesten Vorzug, dass fast jeder Mensch mit dem dafür Notwendigen ausgestattet ist. Mit Stimmbändern und einem Kehlkopf; aber auch mit hinreichender Musikalität. Doch braucht es zuweilen eine SpezialistIn wie Sabine, um letztere ans Licht zu bringen.

Nichts spricht daher dafür, die großartigen individuellen Effekte gemeinsamen Singens den Freunden von Befehl und Gehorsam zu überlassen. Als da sind:

  • Im Chor singen auch schwache Stimmen besser. Die stimmliche Stützung durch den Nachbarn reduziert die Unsicherheit, es findet tendenziell eine ‚Egalisierung nach oben‚ statt, und das Ganze ist wesentlich mehr als die Summe seiner Teile.
  • Auch daraus kann ein starkes Gefühl von Gemeinschaft entstehen, wie bei allen Hervorbringungen, die man gemeinschaftlich schafft. Aber dieses Gefühl ist an sich ungerichtet. Das heißt, es kann sich auch an politische Ziele andocken, die mehr oder weniger unerfreulich sind. Gerade militärische und faschistische Systeme haben stets eine feine Sensibilität für die gemeinschaftsstiftende Kraft des kollektiven Singens gehabt. Das heißt aber nicht, dass man nun darauf verzichten sollte, zugunsten freiheitlicherer Ziele auf jene Gemeinschaftsstiftung zu bauen. Zumal z.B. schon der Dreivierteltakt jedem Militarismus subversiv ist!
  • Wenn man ein bisschen Ausdauer aufbringt, kann Chorsingen zu veritablen psychedelischen Effekten führen, also zu Effekten, wie man sie von Rauschdrogen kennt. Viele haben wahrscheinlich einschlägige Erfahrungen mit dem Konsum ihrer jeweiligen Lieblingsmusik gemacht (bei Live-Konzerten oder beim Hören mit gut aufgedrehten Kopfhörern). Wenn man selbst an der Produktion der Musik beteiligt ist, kann es, zumal bei der Kombination bestimmter Harmonien mit entsprechender Lautstärke, zu noch grandioseren ekstatischen Erlebnissen kommen.

Auch dieser Effekt ist an sich politisch neutral. Er sagt nichts über Anarchie und Diktatur aus. Aber warum sollte man ihn nicht libertär fruchtbar machen? Erinnern wir uns an den grandiosen Weihnachtswaffenstillstand 1914 an der Westfront des Ersten Weltkriegs, herbeigeführt durch das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern (GWR 304). Erinnern wir uns an die spontanen Massen-Perkussionen und „No Rain!“-Sprechchöre in Woodstock 1969. Adorno hätte das kitschig und ideologisch gefunden, wenn er nicht eine Woche vorher gestorben wäre. Doch die Los Angeles Times schrieb damals als verblüfften Kommentar zu dem Festival: „Menschen sind fähig, sich selbst zu verwalten, wenn man sie lässt.“ Recht so: Diese Lehre am eigenen Leib zu erfahren, kann niemandem schaden. Musik kann dabei helfen; nicht nur die dekonstruktive Musik von Dada oder Punk, sondern mehr noch die traditionelle harmonische von Renaissance bis Rock’n’Roll.

Why don’t we do it in the road?

P.S.: Ein Vorschlag zur Güte, an Sabine:

Chorsingen ist Anarchie