Einen spannenden Einblick in US-amerikanische anarchistische Diskurse gibt Gabriel Kuhn mit seinem Band „Neuer Anarchismus in den USA“.
Anhand von 19 erstmals übersetzten Originaltexten der anarchistischen Bewegung in den USA führt er in diese Landschaft ein, bietet einen ausgewogenen Überblick über verschiedene Strömungen wie Pagan-Anarchism, Lifestyle-Anarchism, Primitivismus und Postanarchismus. Vorgestellt werden Debatten, Aktionsfelder und aktuelle Diskurse seit den Auseinandersetzungen um das WTO-Treffen in Seattle 1999.
Daneben stellt der Herausgeber aktuelle Kontroversen dar, zur ‚White Supremacy‘, zur Militanz, zur männlichen Dominanz in der Szene, zu der Frage nach Organisationsformen und zum Umgang mit anderen (radikal) linken Bewegungen, zu post-linkem Sektierertum und zu dem Entgegensetzen solidarischer Antworten.
Die Texte für sich sprechen lassend, stellt Kuhn diese zudem durch individuelle Einleitungen in jedes Kapitel in ihre Kontexte, erläutert Diskussionsprozesse und Auseinandersetzungen und zeichnet so die Entwicklungen sensibel und kompetent nach.
In einer ausgezeichneten Einleitung, einem historischen Überblick über die Geschichte des Anarchismus in den USA, verdeutlicht Kuhn auch die Bedingungen für das mögliche Erstarken der Szene. Er beschreibt die Phase (1928-1968), in der der Anarchismus „als öffentliches Phänomen beinahe gänzlich verschwand und nur von einigen Individuen und vereinzelten Gruppen als Idee aufrechterhalten wurde“ (S. 22f.). Auch wenn 1968-1990 die US-amerikanische anarchistische Bewegung wieder in Erscheinung trat, es in den 80er Jahren zur Gründung einiger Projekte kam und in den 90ern „zu einer Reihe von Ereignissen, welche die anarchistische Szene entscheidend wandeln sollten“ (S. 26), so überraschten die Ereignisse in Seattle und die mediale Resonanz darauf auch die Szene selbst, die sich zuvor völlig marginalisiert sah. „Wenn es auch nur für einen Tag war: Wir hatten gewonnen! … Einen Tag lang waren die Straßen von der Hoffnung erfüllt, dass wir vielleicht wirklich die Zukunft mitbestimmen könnten“, so ein Aktivist (S. 36).
Die AnarchistInnen, die immer als Minderheit innerhalb der Linken galten, wurden plötzlich zum linken Referenzpunkt, zur breiten politischen Bewegung, die durch ihre vorherige Arbeit den Grundstein für diese Prominenz selbst legte.
Dieser geschichtliche Einblick verdeutlicht die Notwendigkeit, Strukturen zu erhalten, auch wenn die konkrete Perspektive nicht absehbar ist, verdeutlicht, dass Ereignisse, die Bewegung bringen, nur selten vorausschaubar sind, dass aber die Möglichkeitsbedingungen, um in Bewegung zu kommen, permanent geschaffen werden können.
Wie die beiden vorherigen im Unrast-Verlag erschienenen Bücher Kuhns liefert auch dieser Band eine wertvolle Diskussionsgrundlage für nächtelange Diskussionen, die neue theoretische Impulse setzen könnten.
So ist Kuhns Buch nicht nur spannende Geschichte US-amerikanischer anarchistischer Bewegung, nicht nur ein lebendiges Bild des Reichtums und der Vielfalt, der Schwächen und Konflikte, sondern auch ganz praktischer Anstoß zur Bewegung.
Ein Buch, dessen Lektüre sich in vielerlei Hinsicht lohnt.
Gabriel Kuhn (Hg.): Neuer Anarchismus in den USA. Seattle und die Folgen, Unrast, Münster 2008, 304 Seiten, ISBN-13: 978-3-89771-474-8, 16,80 Euro