Im Jahre 1993 bricht mit Unterstützung der Association francaise d’action artistique (AFFA) eine fast hundertköpfige Gruppe von KünstlerInnen auf, um in einem aus Schrottteilen zusammengebastelten Zug mit 21 bunt bemalten Waggons durch Kolumbien zu fahren.
In den Bahnhöfen soll durch ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm der Bevölkerung die französische Kultur nähergebracht werden.
Die marode Schienenstrecke ist seit 15 Jahren nicht mehr befahren worden.
Und die von der liberalen Presse gefeierte und von Sponsoren finanzierte Beglückungstour in das von Armut, Drogen und Guerilla malträtierte Land wird zu einem sechswöchigen Himmelfahrtskommando, von dem im Laufe der Zeit immer mehr TeilnehmerInnen abspringen.
Idealistischer Kopf der Gruppe ist der junge Manu Chao, der seinem Papa Ramon großzügig erlaubt hat, mitzufahren und den Chronisten zu spielen – aber nur, wenn er nicht so geschwollen daherschreibt wie in seinem letzten Roman.
Ramon erfüllt seine Aufgabe mit abgeklärter Hingabe. Er schildert nicht nur die zahllosen Zwischenfälle und den Alltag, sondern die LeserInnen bekommen einen intensiven Eindruck vom „Innenleben“ der KolumbianerInnen entlang der Bahnstrecke.
Um nicht von rivalisierenden Banden und Guerilla auf offener Straße niedergestreckt zu werden, muss sich die libertär inspirierte KünstlerInnengruppe strikt neutral verhalten und politische Anspielungen vermeiden. Nur als einmal der prestigeträchtige KünstlerInnenauftritt dreist von einer schwerbewaffneten Politikerbande okkupiert wurde, platzt Manu der Kragen und er intoniert „El pueblo unido“. Das Buch ist auch eine mit viel Musik und Zirkus angereicherte Landeskunde. Wer es gelesen hat, den wundert keine Nachricht aus Kolumbien mehr. Hier eine kleine Kostprobe aus aneinandergereihten, kaum veränderten Originalzitaten:
Mano Negra. French Lovers. Les Négresses Vertes. Trapezkünstler. Belustigungshausierer.
Hoffnungsmaschine. Fahrender Waffenstillstand. Märchenhafte Zigeunerkarawane. Eisbär, der Freund der Kinder.
Feuerspuckender Leguan als Drache. Alice im Guerillaland.
Wolkenkratzer für Eskimos.
Warme Leichen am Wegesrand.
Marmorschleifer, Sargträger, Pfarrer … die Liste der Gewerbe, die von Gewalt profitieren, ist lang. Sanfte Träumer mit Ohrringen und Irokesenschnitten. Schneckentempo 15 km/h, Entgleisungen inklusive. Marseillaisesingender Kinderchor als Empfangskomitee im Bahnhof. Heute gab es sieben Morde, vorgestern drei, alles Raubmorde. Dreiviertel der Männer zwischen 20 und 60 Jahren, die gekommen waren, um uns zu sehen, hatten eine Knarre in der Tasche. Worte haben keinerlei Wert, sie sind von Politbonzen und ihren ständigen Lügen entwertet worden.
Wirtshaus-Trash und brutaler Pogo aus dem Cigale. Lotterie in Babylon: Trapezabstürze begeistern das Publikum. Wir geben ein Stück Traum, sie schenken uns ein paar Momente Frieden.
Zettel im Traumbüro: „Friede für Kolumbien, und dass die Gewalt in diesem Land ein Ende nimmt. Keine Kriminalität mehr, und dass das mit den Drogen aufhört.“ Arturo Cáceres, 18 Jahre. Die Schneemaschine funktioniert nicht. Der Chronist lernt, im Bär besser zu atmen. Die Skinheads, die Fabrice und seine Freundin angegriffen haben, wollen sich tätowieren lassen. Kein Tattoo ohne Entschuldigung! Die Guerilla kesselt die Stadt einmal pro Monat ein und plündert die Bank genau am Zahltag. Die French und Manu passen ihren Rhythmus dem Takt der Hupen an.
Oben im weißen Krematorium unterbricht ein Leichenzug seine Trauer und tanzt, während wir vorbeifahren, als ein letztes Adieu einen Musettewalzer.
Hundert Jahre Einsamkeit. Holsteiner Kühe grasen. Ausbleibende Sponsorengelder. Das Publikum weigert sich, zu gehen. Wir werden uns wiedersehen, wir werden wiederkommen.
Versprochen. Wir schwören. El pueblo / unido / jamás será vencido.
Ramon Chao: Ein Zug aus Eis und Feuer. Mit Mano Negra durch Kolumbien, Edition Nautilus, Hamburg 2008, 240 Seiten, 30 Fotos. ISBN 978-3-89401-564-0,14,90 Euro