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Streik als Mittel des Zivilen Ungehorsams

Ein Interview mit Holger Marcks und Matthias Seiffert

| Interview: Andy Gehling und Torsten Bewernitz

Im Sommer 2008 ist der Sammelband "Die großen Streiks. Episoden aus dem Klassenkampf" im Unrastverlag erschienen. Grund genug für ein Gespräch mit den Herausgebern Holger Marcks und Matthias Seiffert.

Graswurzelrevolution: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, ein Streik-Buch zu machen?

Matthias Seiffert (MS): 2005 hatten wir eine Serie gleichen Namens – ‚Die großen Streiks‘ – in der anarchosyndikalistischen ‚Direkten Aktion‘ veröffentlicht.

Der Anstoß dazu war, dass damals diskutiert wurde, ob der Streik sich überholt hätte – er sei ‚unzeitgemäß‘.

Das kam uns merkwürdig vor. Wir recherchierten über das Thema und stellten fest, dass es stiefmütterlich behandelt wird und dass das Bild, Streik sei etwas Langweiliges, wo es nur um Lohnauseinandersetzungen geht, weit verbreitet ist. Wir entdeckten, dass Streiks eine größere Dimension haben.

Holger Marcks (HM): Die Resonanz auf die Serie war gut, daraus entwickelte sich die Idee. Wir entwickelten ein Konzept dafür und meldeten uns beim Unrast-Verlag. Er hat sich durch gute Bücher ausgezeichnet. Wir wollten unser Scherflein dazu beitragen.

GWR: Ihr habt ein Spektrum von elf Streiks von 1905 bis 1995 vorgestellt, von den USA über Argentinien bis Europa. Gibt es Gemeinsamkeiten, einen schwarz-roten Faden, der die Streiks miteinander verbindet?

MS: Wir wollten die Bandbreite von Streiks aufzeigen, aber das ist es auch, was sie miteinander verbindet: Wir zeigen, was alles mit Streiks möglich ist, aber auch, welche Fehler möglich sind, worum es in Streiks gehen kann. Der Streik in Südafrika 1976 (S. 153-171) etwa ist ein klassischer ‚politischer‘ Streik, es gibt Streiks von internationalem Charakter usw.

HM: Ein roter Faden besteht darin, dass die Dynamik von Streiks sich aus der konkreten Interessenlage von ArbeiterInnen entwickelt.

Wir wollen zeigen, dass es Strukturen gibt, gerade von ArbeiterInnenorganisationen, die entweder dieser Dynamik gerecht werden oder aber diese verebben lassen.

MS: Ein anderer Punkt, der alle vorgestellten Streiks miteinander verbindet, ist, dass bei vielen die Machtfrage gestellt wird, auch wenn sich nicht alle ProtagonistInnen dessen bewusst sind. Oft erklärt das, warum ein Streik gescheitert ist.

GWR: Nach welchen Kriterien habt ihr die Streiks ausgesucht?

HM: Grundlegend darf man den Titel ‚Die großen Streiks‘ nicht so verstehen, dass wir eine Hitliste der größten Streiks der Weltgeschichte gesammelt hätten. Es gibt Hunderte, die das Prädikat ‚groß‘ verdient haben. Die Streiks, die wir ausgewählt haben, stehen exemplarisch für bestimmte Phasen der ArbeiterInnenbewegung in einer bestimmten Region oder für bestimmte Streikformen. Wir haben bewusst Streiks ausgeklammert, die von Weltruhm sind und zu denen entsprechend Literatur vorliegt. Stattdessen wollten wir uns Streiks zuwenden, die in Vergessenheit geraten sind. Vor allem wollen wir dazu anregen, sich mit der eigenen Situation zu beschäftigen und Lektionen aus der Geschichte zu ziehen.

GWR: Als Beispiele aus Deutschland beschreiben die AutorInnen den Ruhrkampf 1919/1920 (S. 33-46) und die Hungermärsche 1946/47 (S. 103-115).

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?

HM: Das Beispiel der Ruhrgebietsstreiks 1919 ist ein herausragendes in der Geschichte der deutschen ArbeiterInnenbewegung, das in Vergessenheit geraten ist. Wir werden oft darauf angesprochen, ob wir nicht den Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920 meinen, der vielen präsent ist. Nein, den meinen wir nicht. Wir meinen eine 1919 eigenständig agierende Bewegung, die ein schönes Beispiel in der deutschen Geschichte ist, wie ArbeiterInnen sich gegen ein entmündigendes sozialdemokratisches Gewerkschaftsmodell emanzipieren können und Politik und Kampf auf eigene Faust machen.

MS: Vergessen ist auch die Streikbewegung von 1946 bis 1948. Was viele kaum glauben, ist, dass dieser Streik eine ernsthafte Entnazifizierung in der Wirtschaft forderte. Viele haben das Bild, die deutsche ArbeiterInnenschaft wäre durch und durch braun gewesen. Dem ist jedoch nicht so gewesen. Es hat auch im Dritten Reich zahlreiche Streiks gegeben, was kaum bekannt ist. Man kann sich nun nicht vorstellen, dass die ArbeiterInnen 1946 allein davon ablenken wollten, dass sie alle Dreck am Stecken gehabt hätten. Es war eine Massenbewegung, in der gerade heimgekehrte AntifaschistInnen eine herausragende Rolle gespielt haben als InitiatorInnen, die in den Betrieben mobilisiert haben.

Es ist erstaunlich, wie sich der, mit Unterstützung der West-Alliierten gegründete DGB in dieser Situation verhalten hat. Von Anfang an bekam er die Aufgabe, diese Streikbewegung zu befrieden und in Zukunft Sorge dafür zu tragen, dass die deutsche ArbeiterInnenschaft sich nicht radikalisiert oder ‚kommunistisch‘ würde. Die Behauptung des DGB, er sei als Konsequenz aus dem Fehlverhalten der SozialdemokratInnen und KommunistInnen bei der Machtergreifung der Nazis entstanden, ist dreist. Dass sie deshalb eine Einheitsgewerkschaft gegründet hätten, ist Augenwischerei. Die Einheitsgewerkschaft DGB bedeutet vor allem, dass es keine politische Gewerkschaft mehr gibt und Politik nur noch Sache der Parteien ist. Dadurch wird keine antifaschistische ‚Arbeitereinheitsfront‘ geschaffen, sondern im Gegenteil die Entmündigung der ArbeiterInnen.

GWR: Was macht einen Streik zum Streik?

MS: Das ist eine philosophische Frage. Lohnstreiks sind auch Streiks, aber sie sind in Deutschland derartig ritualisiert und juristisch eingebunden, dass sie kaum noch etwas damit zu tun haben, was ein Streik eigentlich sein sollte. Ich glaube, dass es da Zusammenhänge mit dem Aufbau des DGB gibt, wie Gewerkschaften in das politische, juristische und ökonomische System eingebunden sind: dass gerade den streikenden ArbeiterInnen die politische Dimension entzogen werden soll, dass die politische Machtfrage nicht mehr aufgeworfen werden soll. Was einen Streik zum Streik macht, ist die Dimension, dass es um Macht geht, ohne dass es bewaffnete Auseinandersetzungen sind. Es kommt zu Konflikten, die die Frage aufwerfen: Wer hat hier das Sagen: die Unternehmer, der Staat oder die ArbeiterInnen?

HM: Wir betrachten den Komplex Streik weniger aus einer theoretischen Ebene, man darf den Streik nicht zu sehr in ein definitorisches oder theoretisches Korsett zwängen.

Für uns ist ein Streik das Mittel der ArbeiterInnenklasse, sich für ihre Probleme Gehör zu verschaffen, soziale Verbesserungen zu erreichen oder wenigstens soziale Verschlechterungen abzuwenden.

Er ist ein Mittel des Zivilen Ungehorsams.

GWR: Wo lagen die größten Erfolge einer ArbeiterInnenbewegung? Welche Streiks und Bewegungen haben euch persönlich besonders gefallen?

HM: Erfolg oder Niederlage ist relativ. Wir haben auch Streiks dargestellt, die sich im konkreten historischen Moment als Niederlage dargestellt haben, aber teilweise neue Impulse gesetzt haben und langfristig historische Zäsuren darstellen, z.B. wenn daraus ein neuer Arbeiterkampfzyklus ausgelöst wurde. Bei anderen Streiks wurden die konkreten Forderungen zwar nicht durchgesetzt, aber sie führten dazu, dass etablierte Gewerkschaften, die vorher erstarrt waren, durch die Bewegung in Zugzwang gerieten und ein Reformierungsprozess begann, was auch eine Grundlage sozialer Verbesserungen war. Generell haben wir Streiks vorgestellt, die zeigen, wo die Ursachen eines Scheiterns einer Streikbewegung liegen, die teilweise auch Katastrophen waren, z.B. der Streik der Landarbeiter in Patagonien (Argentinien) 1921 (S. 47-62). Das ist auch die Geschichte des Versagens einer anarchosyndikalistischen Massenorganisation, die nicht begriffen hat, wie hier die Situation eskalierte und zur Machtfrage wurde.

MS: Mir hat bei der Recherche besonders der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 (S. 172-190) imponiert, der aber ein Fiasko war. Das war der Genickbruch der ArbeiterInnenbewegung Britanniens. Aber es ist beeindruckend, wie leidenschaftlich und ausdauernd die ArbeiterInnen gekämpft haben.

Ich habe mit ZeitzeugInnen gesprochen, die daran teilgenommen haben, die sehr offen waren. Der Bergarbeiterstreik der 1980er bewegt und spaltet die britische Gesellschaft bis heute, und es ist unmöglich, mit Briten darüber zu sprechen, ohne dass es emotional wird.

HM: Die meisten Streiks, die wir behandeln, waren keine Erfolge. Genau da wollen wir den Finger in die Wunde legen, da wir der Überzeugung sind, dass sie gescheitert sind, weil die Strukturen der ArbeiterInnenorganisationen nicht adäquat waren, weil diese nicht in der Lage waren, der aus einem Streik entstehenden Dynamik gerecht zu werden. Wären die von uns vorgestellten Streiks erfolgreich gewesen, hätten wir heute eine andere historische Situation.

MS: Bei einigen Streiks haben wir festgestellt, dass viel mehr möglich gewesen wäre. Da hat sich ein Zeitfenster aufgetan und in diesem war eine Chance da, die niemand ergriffen hat. Z.B. beim Generalstreik 1936 in Frankreich (S. 63-79), der eigentlich ein erfolgreicher Streik war, denn er hat dazu geführt, dass weltweit erstmals bezahlter Urlaub gesetzlich eingeführt wurde.

GWR: In Sachen Streik hat sich auch hier etwas getan. Alle haben den Streik der GDL bei der Deutschen Bahn in Erinnerung. Es gab spektakuläre Streiks wie die Besetzung der Fahrradfabrik Bike Systems in Nordhausen, deren ArbeiterInnen einen Selbstverwaltungsversuch begonnen haben (vgl. GWR 323); der zweitlängste Streik der bundesdeutschen Geschichte beim Flughafen-Caterer Gate Gourmet in Düsseldorf, der ‚wilde Streik‘ bei Opel Bochum oder der Streik bei den Bosch-Siemens-Haushaltsgerätewerken in Berlin. Können die LeserInnen eures Buches aus diesem Konsequenzen für das heutige Streikgeschehen ziehen?

MS: Jeder Streik zeigt Lehren auf, die man daraus ziehen kann. Sei es, was Organisationsformen betrifft, was Methoden betrifft, sei es, dass man sich vorher einen Plan zurechtlegt. Bei dem jüngsten Streik von ver.di in Berlin im Öffentlichen Nahverkehr, bei der BVG, habe ich den Eindruck, dass man gar nicht daran gedacht hat, dass der Arbeitgeber auch sagen kann ‚Nö, machn wa nich‘. Gehn wa nich drauf ein. Streikt ma schön weita, wa‘. Und dann waren sie ratlos. Es gab keinen Plan B – das ist dilettantisch. ver.di will eine moderne Gewerkschaft sein und sie haben es verlernt, richtig zu streiken. Die sollten sich dieses Buch mal kaufen.

HM: Die Idee des Buches entstand gerade vor dem Hintergrund, dass die deutsche Gewerkschaftslandschaft so arm war an alternativen Ideen, was Streik und Protestkultur bedeuten könnten. Da ist mittlerweile auch durch die benannten Streiks etwas aufgebrochen. Die haben Impulse in soziale und ArbeiterInnenkämpfe gebracht, auch und gerade jenseits des DGB, und diesen unter Zugzwang gesetzt. Wir zeigen Beispiele auf, die typisch für eine solche Situation sind, die sich in der Geschichte öfter wiederholt hat. Z.B. bei dem Streik von McKees Rocks 1909 in den USA (S. 15-31), wo mit der IWW (Industrial Workers of the World) eine Gewerkschaft jenseits des großen Gewerkschaftsapparates der AFL (American Federation of Labour) die Bühne betrat und eine neue Streikkultur entwickelte, die auch den Apparat der AFL unter Zugzwang und damit die Grundlage für Verbesserungen in den USA setzte. Genauso wie die autonomen Organisierungsversuche im Heißen Herbst 1969 in Italien (S. 134-152), die einen Reformierungsprozess der etablierten und erstarrten Gewerkschaften zur Folge hatten. Eine Situation, die mit der momentanen in Deutschland vergleichbar ist, wo es möglich werden könnte, auch jenseits des DGB-Mainstreams gewerkschaftliche Strukturen zu etablieren.

GWR: Eine Frage zum Untertitel ‚Episoden aus dem Klassenkampf‘: In Zeiten der Globalisierung wird behauptet, dass Klassenkampf kein zeitgemäßes Konzept wäre.

MS: Das Gegenteil ist der Fall. Klassenkampf findet statt. Viele wundern sich, wenn vom ‚Klassenkampf von oben‘ die Rede ist, weil der Begriff missverstanden wird. Klassenkampf bedeutet nicht, dass es eine militant organisierte ArbeiterInnenbewegung gibt, die auf den Putz haut, sondern eine permanente Auseinandersetzung zwischen den Interessen des Kapitals und denen derjenigen, die für es arbeiten müssen.

Das haben wir in den letzten Jahren gerade in der EU gesehen, wo es einen Rollback gab: Sozialabbau, Abbau gewerkschaftlicher Rechte, Austritte aus Tarifgemeinschaften und Unternehmerverbänden mit den Konsequenzen, dass die Reallöhne sinken, die Arbeitszeit verlängert wird, die Zahl der Arbeitslosen steigt.

HM: Streiks können subversive Momente sein, die beflügeln.

Das sind Kämpfe, die aus konkreten Alltagsinteressen entstehen und in denen man den Produktionsalltag überwindet, gelebte Solidarität unter Belegschaften erfährt und wo daher auch ein Bewusstsein heranreift. Die Frage ist: Wie können sich solche subversiven Momente des Streiks in einer Organisation, die in der Lage ist, der neoliberalen Offensive entgegenzutreten, verstetigen?

GWR: Was muss man tun?

MS: Aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken. Gerade wenn ich an die vielen Leute denke, die von Hartz IV leben, bei denen es verbreitet ist, sich depressiv in die eigenen vier Wände zurückzuziehen und damit das Falscheste zu machen, was man tun kann.

Der erste Schritt ist, raus auf die Straße zu gehen, Leute suchen, die in einer ähnlichen Situation sind, und gemachte Erfahrungen auszutauschen. Dann ergibt sich vieles von selbst.

Holger Marcks/Matthias Seiffert (Hg.): Die großen Streiks. Episoden aus dem Klassenkampf, Unrast, Münster 2008, 264 Seiten, ISBN 978-3-89771-473-1, 14,90 Euro