Gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit hat der Bundestag am 16. Oktober mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und FDP das Mandat für die Verlängerung des Kriegseinsatzes am Hindukusch um weitere 14 Monate und eine Aufstockung der dort stationierten Bundeswehrtruppen auf 4.500 SoldatInnen beschlossen. Für die weitere Beteiligung an der NATO-Besatzungstruppe Isaf votierten 442 Abgeordnete, 96 stimmten mit Nein, 32 enthielten sich. Eine Analyse von Jürgen Wagner, geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. (GWR-Red.)
Ein Memo sagt manchmal mehr als tausend Worte
Anfang Oktober 2008 wurde der Presse ein vertraulicher Bericht des britischen Botschafters in Afghanistan, Sherard Cowper-Coles, zugespielt, der die ganze Misere des dortigen NATO-Einsatzes auf den Punkt bringt: „Die gegenwärtige Lage ist schlecht. Die Sicherheitslage wird schlimmer. Ebenso die Korruption, die Regierung hat jegliches Vertrauen verspielt. […] Die Präsenz, besonders die militärische Präsenz der Koalition ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Die ausländischen Truppen sichern das Überleben eines Regimes ab, das ohne sie kollabieren würde.“
Als die NATO im August 2003 das Kommando über die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan übernahm, hätte sich zum damaligen Zeitpunkt wohl kaum jemand träumen lassen, dass die Allianz dort in einen Guerillakrieg verwickelt werden würde, der immer alptraumhaftere Züge annimmt. Obwohl mittlerweile nahezu sämtliche BeobachterInnen vor einem Scheitern des NATO-Krieges in Afghanistan warnen, steht ein Abzug der Truppen derzeit leider nicht zur Debatte.
Der Grund hierfür ist einfach: Es steht in Afghanistan zu viel auf dem Spiel. Neben geostrategischen Interessen ist Afghanistan das gegenwärtig größte Experimentierfeld für eine neue Form der NATO-Kolonialpolitik, bei der zivil-militärische Aufstandsbekämpfung und neoliberales Nation Building Hand in Hand einhergehen.
Auf beiden Seiten des Atlantiks ist man sich deshalb einig, scheitert die NATO in Afghanistan, so steht ihre Existenz und damit auch die westliche Kriegspolitik zur Disposition. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet den Krieg als „Lackmustest für […] eine handlungsfähige NATO“ und der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama will deutlich mehr Truppen nach Afghanistan entsenden. Auch sein republikanischer Rivale John McCain lässt keine Zweifel an der Bedeutung des Einsatzes aufkommen: „Die Zukunft des Bündnisses hängt untrennbar mit den Ergebnissen in Afghanistan zusammen. […] Wenn die NATO in Afghanistan versagt, ist es schwierig sich vorzustellen, dass die Allianz weitere ‚harte‘ Operationen innerhalb oder außerhalb des Bündnisses unternimmt, und ihre Glaubwürdigkeit würde schweren Schaden nehmen.“
Stationen der Eskalation: Vom Wiederaufbau zur Aufstandsbekämpfung
Anfänglich war das Einsatzgebiet der im Dezember 2001 ins Leben gerufenen und im August 2003 von der NATO übernommenen ISAF auf die afghanische Hauptstadt Kabul beschränkt. Auch wenn sich die ISAF zur Imagepflege – und in Abgrenzung zur ebenfalls in Afghanistan operierenden US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) – gerne wahlweise als „Friedensmission“, „Stabilisierungseinsatz“ oder „Wiederaufbaumission“, kurz als eine Art „bewaffnete Entwicklungshilfe“ tituliert, hat dies mit der Einsatzrealität nichts zu tun. Insbesondere seit das NATO-Einflussgebiet in vier Schritten auf das ganze Land ausgedehnt wurde, stehen Kampfhandlungen im Zentrum der Operationsplanung.
In Phase I, die Ende 2004 abgeschlossen war, wurde die Verantwortung über die nördlichen Provinzen übernommen. Im folgenden Jahr übernahm die NATO in Phase II die Kontrolle über die Provinzen im Westen des Landes. Dies war noch relativ unproblematisch, denn beides waren seinerzeit noch vergleichsweise recht ruhige Landesteile.
Die jetzige Eskalation nahm ihren Anfang, als das ISAF-Einsatzgebiet in zwei weiteren Schritten zuerst bis Juli 2006 auf den umkämpften Süden (Phase III) und ab Oktober auf den Osten und damit das gesamte Land ausgedehnt (Phase IV) wurde.
Zudem wurde bereits mit der Süderweiterung das ISAF-Truppenkontingent von 9.000 auf 18.500 und nach der Ostexpansion auf über 30.000 SoldatInnen erhöht. Inzwischen werden immer mehr SoldatInnen an den Hindukusch geschickt: Im Jahr 2007 wurde ihre Zahl von 30.000 auf 43.000 und nun auf 47.600 (Stand: 1. September 2008) aufgestockt. Doch hierdurch gelang es keineswegs, das Land zu „befrieden“ – im Gegenteil, mittlerweile eskaliert die Situation in Afghanistan zusehends.
Im Jahr 2007 kamen über 8.000 AfghanInnen, davon zahlreiche ZivilistInnen, ums Leben, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Widerstand und der ISAF stiegen von 1755 im Jahr 2005 auf über 6000 im Jahr 2007. Dieses Jahr hat sich die Zahl der Zusammenstöße nochmals dramatisch erhöht, allein in der Woche vom 15.-21. September registrierte die ISAF 250 solcher Vorfälle. Auch die Opfer unter den westlichen Truppen erhöhen sich kontinuierlich. 2007 starben 232 NATO-SoldatInnen, im Mai und Juni 2008 überstiegen die Verluste in Afghanistan sogar erstmals die im Irak.
Neben der Entsendung von immer mehr Truppen und der Ausweitung des Einsatzgebietes reagierte die NATO vor allem mit der Änderung der Einsatzregeln (rules of engagement) auf die veränderte Sicherheitslage, ein Schritt, der maßgeblich zur Eskalation beitrug. Diese Einsatzregeln legen die Kriterien und Umstände fest, unter denen NATO-Soldaten im jeweiligen Einsatz Gewalt einsetzen dürfen. Sie schrieben für Afghanistan lange Zeit vor, dass Waffengewalt ausschließlich zur Selbstverteidigung nach einem erfolgten Angriff angewendet werden durfte.
Nicht zuletzt, weil man den Krieg mit der Süd- und Osterweiterung gezielt eskalieren wollte, wurden die Einsatzregeln bereits Anfang 2006 verändert. Seither ist auch die aktive Bekämpfung von Widerstandsgruppen erlaubt.
Spätestens damit veränderte sich endgültig der Charakter der vorgeblichen Friedens- und Stabilisierungsmission. Nüchtern stellt die der Bundesregierung zuarbeitende Stiftung Wissenschaft und Politik diesbezüglich fest: „In ganz Afghanistan hat sich die ISAF-Mission seit 2006 von einer reinen Stabilisierungsoperation zu einem Einsatz mit dem Schwerpunkt Aufstandsbekämpfung entwickelt.“
Deutschland: Per Salamitaktik immer tiefer in den Krieg
Gerne wird von deutscher Seite die „Vorreiterrolle“ beim zivilen Wiederaufbau und die Führungsfunktion im Norden hervorgehoben.
Die Verbündeten bewerten das Engagement aber anders, denn die deutschen Truppen sind fast ausschließlich im vergleichsweise ruhigen Norden des Landes stationiert.
Im Osten und Süden, wo die schwersten Auseinandersetzungen stattfinden, kämpfen und sterben jedoch vor allem SoldatInnen der USA, Kanadas und Großbritanniens.
Vor diesem Hintergrund übten die Verbündeten ab 2006 massiven Druck auf Deutschland aus, sich stärker an den Kampfhandlungen zu beteiligen.
Dies stellte die Bundesregierung vor ein Problem: Zwar trägt sie den gegenwärtigen NATO-Eskalationskurses voll mit, sieht sich aber einer Bevölkerung gegenüber, die die Beteiligung deutscher Truppen an Kampfhandlungen mit deutlicher Mehrheit kategorisch ablehnt.
Will man jedoch seinen Einfluss in Afghanistan, aber auch in der NATO (und darüber hinaus) nicht einbüßen, so ist es aus deutscher Sicht zwingend erforderlich, sich stärker zu involvieren. Nur wer Krieg führt, darf international mitbestimmen, anders können die weiterhin gültigen Aussagen von Ex-Außenminister Joschka Fischer über die Motivation des deutschen Afghanistan-Engagements nicht interpretiert werden: „Die Entscheidung ‚Deutschland nimmt nicht teil‘ würde auch eine Schwächung Europas bedeuten und letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen. […] Das Maß der Mitbestimmung richtet sich nach dem Maß des Mitwirkens.“
Aufgrund dieser Konstellation ist die Bundesregierung gezwungen, schrittweise vorzugehen, um die Bevölkerung sachte daran zu „gewöhnen“, dass sich Deutschland immer stärker am blutigen Krieg am Hindukusch beteiligt.
Der erste „Meilenstein“ hierfür war die Anfang 2007 beschlossene Entsendung von Recce-Tornados. Sie werden auch im Süden und Osten eingesetzt und liefern Zieldaten, auf deren Grundlage anschließend Bombardierungen erfolgen.
Doch dieser Beitrag genügt den Verbündeten nicht, wie teils recht unverblümt verdeutlicht wurde. Deshalb kündigte Verteidigungsminister Franz-Josef Jung im März 2008 an, man wolle nun „robustere Maßnahmen ins Zentrum rücken“. Hierfür übernahm die Bundeswehr im Juni die Quick Reaction Force (QRF) von Norwegen, eine explizit für offensive Kampfmaßnahmen ausgerichtete Truppe, die in Nord- und Westafghanistan operieren soll. Hauptauftrag der QRF, die sich als „Feuerwehrtruppe“ versteht, die überall dort zum Einsatz kommt, wo der Widerstand an Boden gewonnen hat, ist nach Angabe von Thomas Raabe, Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, „crowd and riot control“, also Aufstandsbekämpfung.
Die Übernahme der QRF führt deutsche Auslandseinsätze in eine neue Dimension, wie Die Welt in einem Kommentar verdeutlichte: „Erstmals stehen bei einem Auftrag der Bundeswehrsoldaten offensive Kampfaktionen im Vordergrund. Ihre Mandatsvorgänger, die Norweger, empfehlen den Deutschen, sich jetzt auch aufs Töten und Sterben vorzubereiten.“
Die nächsten Eskalationsschritte werden bereits vorbereitet. So fordert etwa der SPD-Außenexperte Hans-Ulrich Klose, Deutschland solle die Quick Reaction Force „stark genug machen, dass sie im Notfall in ganz Afghanistan eingesetzt werden kann – auch im Süden“.
Zuvor wurde im Oktober jedoch die territoriale und personelle Ausweitung des deutschen Afghanistan-Mandats eingetütet. So kann Deutschland nun 4.500 statt wie bisher 3.500 BundeswehrsoldatInnen entsenden.
Darüber hinaus wurde der Einsatz nicht auf 12, sondern auf 14 Monate verlängert, damit das Thema nicht in den Bundestagswahlkampf 2009 hineinspielt.
Neoliberales Nation Building
In der gesamten Debatte wird vollständig ausgeblendet, dass Afghanistan im Zuge des (neoliberalen) Wiederaufbaus zu einem Selbstbedienungsladen für westliche Konzerne umfunktioniert wurde. Das Bundesamt für Außenwirtschaft bejubelt auch noch die hierbei führende Rolle Deutschlands: „Ein Erfolg ist die mit Hilfe der Bundesregierung geschaffene ‚Afghan Investment Support Agency – AISA‘, die Investoren innerhalb von nur einer Woche sämtliche Formalitäten abnimmt, deren Registrierung vornimmt und eine Steuernummer vergibt. […] Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaft und der Schutz von Investoren wurden in die neue afghanische Verfassung aufgenommen; […] Die Bundesregierung hat im April 2005 ein bilaterales Investitionsschutzabkommen mit Afghanistan gezeichnet. […] Afghanistan kann als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber als die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land.“
Besagtes Investitionsschutzabkommen beinhaltet u.a. Zollreduzierungen, den 100%igen Firmenbesitz von Ausländern, einen weit reichenden Schutz vor Enteignungen, Steuerbefreiung in den ersten acht Jahren und 100%igen Gewinntransfer ins Ausland.
Die lobend erwähnte und von Deutschland ins Leben gerufene „Afghan Investment Support Agency“ erweist sich dabei als wichtiger Durchlauferhitzer für westliche Investitionen. Ihren Angaben zufolge haben sich seit 2003 mehr als 6.200 Unternehmen als Investoren registriert. Das bei der Agentur erfasste Investitionsvolumen war Anfang 2008 mit rund 2,4 Mrd. US$ angegeben worden. Zu den großen ausländischen Investoren zählen u.a.: Siemens, Tobishima Japan, British Petroleum, Air Arabia, Alcatel, Dagris, Coca-Cola, KPMG, Roshan, Afghan Wireless, Alcatel, Hyatt, Serena Hotels und DHL. Auch deutsche Unternehmen gehen dabei also nicht leer aus.
Diese extrem konzernfreundlichen Rahmenbedingungen werden typisch neoliberal begründet: Sie seien notwendig, damit es überhaupt zu Investitionen komme, dadurch komme es zu einem Wirtschaftswachstum, das wiederum helfen könne, die Armut zu reduzieren.
Zwar ist es damit tatsächlich gelungen, in Afghanistan, auf Grundlage eines extrem niedrigen Ausgangsniveaus, ein gewisses Wirtschaftswachstum zu erzeugen, es fiel aber von vormals zweistelligen Werten auf geschätzte 8,4% im Jahr 2008. Darüber hinaus speist sich dieses Wachstum nahezu vollständig aus zwei Quellen: einmal der boomenden Drogenökonomie und zum anderen aus den westlichen „Hilfsgeldern“. Eine eigenständige Wirtschaftstätigkeit ist faktisch nicht existent. Noch schwerer wiegt, dass von diesem Wirtschaftswachstum – wie so häufig im Neoliberalismus – bei der Bevölkerung nichts ankommt (s. u.).
Dennoch unterzeichnete Präsident Hamid Karzai im April 2008 die in enger Zusammenarbeit mit der Weltbank erstellte und auf den berüchtigten Poverty Reduction Strategy Paper (PRSP) basierende Afghanistan National Development Strategy (ANDS). Sie schreibt die bisherige „Wiederaufbaupolitik“ mitsamt ihren neoliberalen Grundannahmen lückenlos fort. „Die ANDS bleibt weiterhin der These vom liberalen Frieden verpflichtet, die das internationale Afghanistan-Engagement seit der Bonn-Vereinbarung vom Dezember 2001 determiniert. Sie besagt, dass Demokratie und eine freie Marktwirtschaft den inneren politischen Frieden fördern“, schreibt Citha Mass, die Afghanistan-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Afghanistan GmbH, Scheinhilfe und humanitäres Desaster
Als extrem profitabel hat sich auch das Wiederaufbauunwesen erwiesen. Denn die Geberländer achten tunlichst darauf, dass ihre Hilfsgelder wieder in die Taschen der eigenen Konzerne zurückwandern.
Obwohl afghanische Firmen die meisten Aufträge billiger und hochwertiger durchführen könnten, sollen sich lieber westliche Konzerne eine goldene Nase verdienen. So kritisiert Caritas International die vorherrschende Vergabepraxis mit folgenden Worten: „Viel davon ist das Ergebnis ‚gebundener Hilfe‘, bei der die Geldgeber ihre Unterstützung an vertraglich vereinbarte Bedingungen knüpfen, dass importierte Arbeitskräfte und Güter genutzt werden müssen, zumeist des jeweiligen Geber-Landes.“
Schätzungen von Oxfam zufolge fließen 40% der Hilfsgelder so direkt zurück an die Konzerne der intervenierenden Staaten.
Als „Afghanistan GmbH“ bezeichnete eine Studie der afghanischen Politikwissenschaftlerin Fariba Nawa die interessengeleitete Wiederaufbaupraxis.
Wandert die Entwicklungshilfe nicht unmittelbar in die Taschen westlicher Konzerne, wird sie ggf. gleich vollkommen schnörkellos im Rahmen der in Afghanistan praktizierten Zivil-militärischen Zusammenarbeit direkt zur Bekämpfung des Widerstands verwendet.
So kritisierte Caritas International im Juni 2008, dass „die Ausschüttung der Hilfsgelder nicht an den tatsächlichen Hilfs-Bedarf gekoppelt ist, sondern sich vielmehr an der Aufstandsbekämpfung orientiert“.
Zu einem ähnlichen Schluss gelangt sogar die Stiftung Wissenschaft und Politik: „Die Verquickung staatlicher und nichtstaatlicher Ansätze raubt der zivilen Hilfe zunehmend jene Eigenständigkeit, die sie gerade ihrem nicht-staatlichen Charakter verdankt, und lässt sie als Teil der politisch-militärischen Strategie der in Afghanistan präsenten Staaten erscheinen.“
Durch diese Entwicklungshilfe im Kampfanzug verlieren humanitäre Helfer ihre politische Neutralität. Sie werden in den Augen der afghanischen Bevölkerung zu einem integralen Teil des Besatzungsregimes und damit zu Gegnern.
Im Jahr 2004 wurden 24 MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ermordet, 2005 waren es 31 und 2006 insgesamt 26.
Die bewaffneten Angriffe auf zivile HelferInnen haben sich laut dem Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) in den ersten drei Monaten 2008 gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt. Ihnen fielen neun Menschen zum Opfer.
Laut ANSO hat sich die Gefährdungslage in den letzten Jahren in sämtlichen Bereichen deutlich vergrößert und wird weiter zunehmen, was u.a. auf den zunehmenden Respektsverlust vor der politischen Neutralität von NGO-MitarbeiterInnen zurückgeführt wird. Aufgrund der immer kritischeren Sicherheitslage mussten sich mittlerweile zahlreiche humanitäre Organisationen aus Afghanistan zurückziehen, Ärzte ohne Grenzen bereits 2004, aber auch Malteser International oder die Welthungerhilfe – ein Armutszeugnis für den als humanitär getarnten NATO-Krieg.
Generell fällt das schreiende Missverhältnis zwischen humanitären und militärischen Ausgaben auf. Allein die USA haben bislang für ihren Krieg in Afghanistan $172 Mrd. ausgegeben, Deutschland ca. $3.5 Mrd. Demgegenüber wurden von den seit 2001 zugesagten 25 Mrd. US$ für Hilfeleistungen für die Bevölkerung bis März 2008 lediglich 15 Mrd. US$ bereitgestellt. Darüber hinaus sind diese Zahlen mit äußerster Vorsicht zu genießen, kaum etwas von diesem Geld fließt in Maßnahmen zur unmittelbaren Armutsbekämpfung.
Dies hängt einmal mit der gebundenen Hilfe zusammen, aber auch damit, dass ein großer Teil der Entwicklungshilfe für Sicherheitsbelange regelrecht zweckentfremdet wird.
So werden z.B. die deutschen Gelder für den Aufbau der afghanischen Polizei dem Einzelplan 23 (BMZ-Haushalt) entnommen – bis 2008 etwa $135 Mio. Im Ergebnis gab die gesamte internationale Gemeinschaft zwischen 2002 und 2006 lediglich $433 Mio. Dollar für Gesundheits- und Ernährungsprogramme aus – allein die Kosten für die einjährige Verlängerung des deutschen ISAF-Einsatzes belaufen sich demgegenüber auf ca. $680 Mio. – Tendenz steigend.
Die Folgen dieser neoliberalen „Wiederaufbaupolitik“ sind verheerend: Laut neuestem UNDP-Länderbericht hat sich die humanitäre Lage seit Beginn des NATO-Einsatzes sogar weiter verschlechtert: 61% der Bevölkerung sind chronisch unterernährt, 68% verfügen über keinen Zugang zu Trinkwasser.
Guerillakrieg im Eigenbau
Vor dem Hintergrund der westlichen Kriegs- und Besatzungspraxis sehen immer größere Teile der afghanischen Bevölkerung in den westlichen Truppen keine Wohltäter, sondern Okkupanten. Unter den Paschtunen sprechen sich 70 bis 80 % und in der anderen Bevölkerungshälfte ebenfalls über 50 % gegen die Auslandspräsenz aus.
Aus diesem Grund steigt auch der Anteil derjenigen, die bereit sind, sich gewaltsam gegen den – sicher nicht völlig zu unrecht – zunehmend als ausbeuterisch wahrgenommenen Westen zur Wehr zu setzen. Einigen Umfragen zufolge befürworten mittlerweile über 50 % der afghanischen Bevölkerung politisch motivierte Selbstmordattentate gegen die Besatzer.
Dabei wäre es grob verkürzt, den wachsenden Widerstand pauschal als ideologisch motiviert abzuqualifizieren – die Wirklichkeit ist komplexer. Auf der Basis umfassender Feldforschung kommt der Senlis Council, eine kanadische Denkfabrik, zu dem Ergebnis, der wachsende Widerstand hänge elementar damit zusammen, dass sich die humanitäre Situation seit 2001 massiv verschlechtert habe. Der Widerstand setze sich aber nicht – wie hierzulande permanent suggeriert wird – aus religiösen Fanatikern zusammen, sondern größtenteils aus „armutsgetriebenen ‚Graswurzelgruppen'“. Selbst die der US-Luftwaffe zuarbeitende RAND Corporation kommt zu dem Ergebnis, lediglich 20% der Aufständischen seien ideologisch den Taliban zuzuordnen.
Fazit: Die Truppen raus – sofort!
Die gegenwärtige Entwicklung lässt nur den Schluss zu, dass ein Ausstieg aus der Eskalationsspirale durch einen sofortigen Truppenabzug dringend geboten ist.
Stattdessen wird versucht, die Bevölkerung von der Notwendigkeit dieses Einsatzes zu überzeigen. „Größere Bemühungen in den westlichen Hauptstädten sind nötig, um den eigenen Bevölkerungen zu erklären, dass man auf lange Sicht bleiben muss“, so die Forderung der renommierten International Crisis Group.
Erfreulicherweise scheint die deutsche Bevölkerung nicht bereit zu sein, dieser Kriegspropaganda auf den Leim zu gehen: Umfragen zufolge lehnen 86% Kampfeinsätze grundsätzlich ab und 55% sprechen sich für einen schnellstmöglichen Truppenabzug aus. Nun gilt es, diese „demoskopische Friedensbewegung“ (Laura von Wimmersperg) sichtbar zu machen und so Druck auf die Bundesregierung auszuüben, von ihrer fatalen Politik Abstand zu nehmen.
Die gut besuchten Demonstrationen gegen den Afghanistan-Einsatz am 20. September (vgl. GWR 332) waren hierfür ein erster wichtiger Schritt. Sie bildeten den Auftakt für die Mobilisierung zu groß angelegten Protesten gegen den NATO-Gipfel im April 2009, bei dem die Allianz in Kehl und Straßburg ihren 60. Geburtstag zelebrieren will.
Anmerkungen
Zum Thema siehe: IMI-Studie 2008/11, Lackmustest Afghanistan: Der Hindukusch als Experimentierfeld für Zivil-militärische Aufstandsbekämpfung und Neoliberalen Kolonialismus