Am 7. Dezember 2008 wird Noam Chomsky 80 Jahre alt. Der Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gilt als einer der bedeutendsten politischen Intellektuellen. Dem Arts and Humanities Citation Index von 1992 zufolge ist er im Zeitraum zwischen 1980 und 1992 die am häufigsten zitierte lebende Person der Welt gewesen. Was viele Medien verschweigen, ist, dass sich der Kritiker der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik als Anarchosyndikalist versteht und Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW) ist. Der Essay "Bemerkungen zum Anarchismus" ist eine überarbeitete Fassung von Chomskys Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von Daniel Guérins Anarchismus. Begriff und Praxis [dt. Ausgabe, aus dem Französischen von Hans H. Hildebrandt, Frankfurt 1967]. Er findet sich in dem soeben bei Kunstmann erschienenen Buch "Noam Chomsky: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik". Wir danken dem Kunstmann-Verlag für die Abdruckerlaubnis und gratulieren Noam Chomsky herzlich zum Geburtstag (GWR-Red.).
Ein Franzose mit Sympathien für den Anarchismus schrieb in den 1890ern: „Der Anarchismus hat einen breiten Rücken; geduldig wie Papier kann er alles ertragen“ – einschließlich derjenigen, so fügte er hinzu, deren Taten „ein Todfeind des Anarchismus nicht besser hätte vollbringen können“. (1)
Viele Denk- und Handlungsweisen sind als „anarchistisch“ bezeichnet worden. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, wollte man all diese einander widersprechenden Tendenzen in eine allgemeine Theorie oder Ideologie einordnen.
Und selbst wenn wir bloß aus der Geschichte des libertären Denkens eine lebendige, in Entwicklung begriffene Tradition herauslösen wollten, wie es Daniel Guérin in seinem Buch Anarchismus tut, so bliebe es immer noch schwierig, ihre Lehre als eine spezifische und bestimmte Theorie der Gesellschaft und ihres Wandels zu formulieren. Der anarchistische Historiker Rudolf Rocker, der anhand von Grundlinien, die der Arbeit Guérins vergleichbar sind, eine systematische Konzeption der Entwicklung des anarchistischen Denkens zum Anarchosyndikalismus vorgelegt hat, traf wohl den Sachverhalt richtig, als er schrieb, der Anarchismus sei „kein festes, in sich geschlossenes Gesellschaftssystem, sondern eher ein bestimmter Trend in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, der im Gegensatz zur geistigen Führerschaft sämtlicher klerikaler und Regierungsinstitutionen nach freier, ungehinderter Entfaltung aller Individuen und gesellschaftlichen Kräfte im Leben strebt. Selbst Freiheit ist nur ein relativer, kein absoluter Begriff, da sie stets danach trachtet, sich zu vergrößern und weitere Kreise in vielfältigerer Weise zu erfassen. Für den Anarchisten ist Freiheit kein abstrakter philosophischer Begriff, sondern die lebendige, konkrete Möglichkeit für jedes menschliche Wesen, all seine Kräfte, Fertigkeiten und Talente, mit denen die Natur es ausgestattet hat, zu voller Entfaltung zu bringen und auf gesellschaftliche Belange zu wenden. Je weniger diese natürliche Entfaltung des Menschen von kirchlicher oder politischer Führerschaft beeinflusst wird, desto wirksamer und harmonischer gestaltet sich die menschliche Persönlichkeit, desto eher wird sie zum Maß für die geistige Kultur der Gesellschaft, in der sie herangewachsen ist.“ (2)
Man mag sich fragen, welchen Wert es haben soll, einen „bestimmten Trend in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit“ zu erforschen, wenn er sich nicht in einer spezifischen und detaillierten Gesellschaftstheorie artikuliert.
In der Tat pflegen viele KommentatorInnen den Anarchismus als utopisch, formlos, primitiv oder sonstwie mit den Realitäten einer komplexen Gesellschaft unvereinbar abzutun. Man könnte jedoch auch ganz anders argumentieren: dass auf jeder geschichtlichen Stufe unser Bemühen darin zu liegen habe, die Formen von Autorität und Unterdrückung zu beseitigen, die aus einer Zeit stammen, in der sie womöglich durch die Bedürfnisse nach Sicherheit oder Fortbestand oder ökonomischer Entwicklung gerechtfertigt sein mochten, die aber heute den materiellen und kulturellen Mangel eher steigern als verringern. Ist dies der Fall, so gibt es keine Doktrin eines für Gegenwart und Zukunft festgelegten gesellschaftlichen Wandels, ja nicht einmal unbedingt einen spezifischen und unveränderlichen Begriff von den Zielen, auf die gesellschaftlicher Wandel gerichtet sein sollte. Unser Verständnis der Natur des Menschen oder auch der Vielfalt möglicher Gesellschaftsformen ist gewiss noch so rudimentär, dass jedes weitreichende Theorem mit großer Skepsis zu betrachten ist, ebenso wie Skepsis auch am Platze ist, wenn wir hören, dass die „menschliche Natur“ oder die „Effizienzforderungen“ oder „die Komplexität des modernen Lebens“ diese oder jene Form von Unterdrückung und autokratischer Herrschaft erfordern.
Dennoch gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt allen Grund, eine spezifische Realisierung dieses bestimmten Trends in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit so herauszuarbeiten – freilich in den Grenzen unseres Verständnisses -, dass sie den Aufgaben des Augenblicks entspricht.
Für Rocker „ist das Problem, das sich unserer Zeit stellt, das der Befreiung des Menschen aus dem Fluch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen wie gesellschaftlichen Versklavung“; und die Methode ist für ihn weder die Eroberung und Ausübung der Staatsmacht noch ein lähmender Parlamentarismus, sondern „das ökonomische Leben der Völker von Grund auf neu zu gestalten und es im Geist des Sozialismus aufzubauen“.
„Doch nur die Produzenten selbst eignen sich für diese Aufgabe, da sie das einzige wertschöpfende Element in der Gesellschaft sind, aus dem eine neue Zukunft erstehen kann. Ihnen muss die Aufgabe zukommen, die Arbeit von all den Fesseln zu befreien, die ökonomische Ausbeutung ihr auferlegt hat, die Gesellschaft von allen Institutionen und Verfahrensweisen der politischen Gewalt zu befreien und den Weg zu öffnen zu einem Verband freier Gruppen von Männern und Frauen, der gegründet ist auf kooperativer Arbeit und Verwaltung der Sachen im Interesse der Gemeinschaft. Die mühsam sich plackenden Massen in Stadt und Land auf dieses große Ziel vorzubereiten und sie als kämpferische Kraft zusammenzufügen, dies ist das Ziel des modernen Anarchosyndikalismus, und in ihm erschöpft sich sein ganzer Zweck.“ (S. 108)
Als Sozialist geht Rocker davon aus, „dass die wirkliche, endliche, vollständige Befreiung der Arbeiter nur unter einer Bedingung möglich ist: der Aneignung des Kapitals, d.h. der Rohstoffe und sämtlicher Arbeitsmittel, einschließlich des Bodens, durch die Gesamtheit der Arbeiter“. (3)
Als Anarchosyndikalist insistiert er zudem darauf, dass die Organisationen der Arbeiter „nicht nur die Ideen, sondern auch die Tatsachen der Zukunft selbst“ in der vorrevolutionären Periode schaffen, dass sie die Struktur der zukünftigen Gesellschaft in sich selbst verkörpern – und er schaut voraus auf eine Revolution, die ebenso den Staatsapparat zerstört wie die Enteigner enteignet. „Was wir an die Stelle der Regierung setzen, ist industrielle Organisation.“
„Anarchosyndikalisten sind davon überzeugt, dass eine sozialistische Wirtschaftsordnung nicht durch Dekrete und Statuten einer Regierung geschaffen werden kann, sondern nur durch solidarische Zusammenarbeit der Hand- und Kopfarbeiter in jedem besonderen Produktionszweig, das heißt durch Übernahme der Leitung aller Betriebe durch die Produzenten selbst, und zwar so, dass die einzelnen Gruppen, Betriebe und Zweige der Industrie unabhängige Mitglieder des allgemeinen ökonomischen Organismus sind und systematisch Produktion und Distribution der Produkte im Interesse der Gemeinschaft und aufgrund freier wechselseitiger Zustimmung weiterführen.“ (S. 94)
Rocker schrieb zu einer Zeit, als diese Vorstellungen auf dramatische Weise in die Praxis umgesetzt wurden: in der Spanischen Revolution.
Unmittelbar vor ihrem Ausbruch hatte der anarchosyndikalistische Ökonom Diego Abad de Santillan geschrieben:
„[…] angesichts des Problems der gesellschaftlichen Transformation kann die Revolution den Staat nicht als Mittel ansehen, sondern sie hängt zwangsläufig von der Organisation der Produzenten ab.
Wir haben uns an diese Norm gehalten und finden keinerlei Verwendung für die Hypothese einer der organisierten Arbeit über-geordneten Macht zur Durchsetzung einer neuen Ordnung der Dinge. Wir wären jedem dankbar, der uns erklärt, welche Funktion der Staat in einer Wirtschaftsorganisation haben soll, in der das Privateigentum abgeschafft ist und in der Parasitentum und besondere Privilegien keinen Platz finden. Die Unterdrückung des Staates kann keine langwierige Sache sein; es muss Aufgabe der Revolution sein, mit dem Staat Schluss zu machen. Entweder die Revolution verschafft den Produzenten gesellschaftlichen Wohlstand, in welchem Falle diese sich für die nötige kollektive Distribution selbst organisieren und der Staat überflüssig ist, oder die Revolution verschafft den Produzenten keinen gesellschaftlichen Wohlstand, in welchem Falle sie eine Lüge war und der Staat fortbestehen würde.
Unser Bundeswirtschaftsrat ist keine politische Macht, sondern eine ökonomische und administrativ regelnde. Er empfängt seine Richtlinien von unten und handelt in Übereinstimmung mit den Resolutionen der regionalen und nationalen Versammlungen. Er ist ein Verbindungsstück und sonst gar nichts.“ (4)
Engels hat seine Ablehnung dieser Konzeption in einem Brief aus dem Jahre 1883 wie folgt ausgedrückt:
„Die Anarchisten stellen die Sache auf den Kopf. Sie erklären, die proletarische Revolution müsse damit anfangen, dass sie die politische Organisation des Staates abschafft. […] Aber ihn [den Staat] in einem solchen Augenblick zerstören, das hieße, den einzigen Organismus zerstören, vermittelst dessen das siegende Proletariat seine eben eroberte Macht geltend machen, seine kapitalistischen Gegner niederhalten und diejenige ökonomische Revolution der Gesellschaft durchsetzen kann, ohne die der ganze Sieg enden müsste in einer Niederlage und in einer Massenabschlachtung der Arbeiterklasse, ähnlich derjenigen nach der Pariser Kommune.“ (5)
Im Gegensatz dazu haben die AnarchistInnen – am wortgewaltigsten Bakunin – vor den Gefahren der „roten Bürokratie“ gewarnt, die sich als „die niederträchtigste und schrecklichste Lüge unseres Jahrhunderts“ (6) erweisen werde.
Der Anarchosyndikalist Fernand Pelloutier stellte die Frage: „Muss denn der Übergangsstaat, dem wir uns zu unterwerfen haben, unbedingt und unausweichlich das kollektive Gefängnis sein? Kann er denn nicht aus einer freien Organisation bestehen, die einzig durch die Anforderungen von Produktion und Konsumtion begrenzt wird und aus der alle politischen Institutionen verschwunden sind?“ (7)
Ich erhebe nicht den Anspruch, die Antwort auf diese Frage zu kennen.
Es scheint aber klar zu sein, dass die Chancen für eine wirklich demokratische Revolution, in der die humanistischen Ideale der Linken erreicht werden, nicht sehr groß sind, solange diese Frage nicht in irgendeiner Form positiv beantwortet wird. Martin Buber hat das Problem bündig erfasst, als er schrieb, man könne der Natur der Sache nach von „einem Bäumchen, das in eine Keule verwandelt worden ist, nicht erwarten, dass es Blätter hervorbringt“. (8)
Die Frage, ob die Staatsmacht erobert oder zerstört werden müsse, ist das, was Bakunin als seinen wichtigsten Streitpunkt mit Marx ansah. (9)
In der einen oder anderen Form ist das Problem in den hundert Jahren seither immer wieder aufgetreten und hat die „libertären“ von den „autoritären“ SozialistInnen getrennt.
Trotz Bakunins Warnungen vor der roten Bürokratie und trotz ihrer Erfüllung unter Stalins Diktatur wäre es offenkundig ein grober Fehler bei der Interpretation jener Debatten vor hundert Jahren, wollte man die Behauptungen der zeitgenössischen sozialen Bewegungen als ihre historischen Ursprünge nehmen. Insbesondere ist es verkehrt, den Bolschewismus als „Marxismus in der Praxis“ anzusehen. Die linke Kritik am Bolschewismus, die von den historischen Umständen der russischen Revolution ausgeht, kommt der Sache sehr viel näher. (10)
„Der antibolschewistische linke Flügel der Arbeiterbewegung kritisierte die Leninisten, weil sie bei der Ausnutzung der russischen Umwälzungen zu strikt proletarischen Zielen nicht weit genug gingen.
Sie wurden zu Gefangenen ihrer Umgebung und benutzten die internationale radikale Bewegung, um spezifisch russische Bedürfnisse zu befriedigen, die bald mit den Bedürfnissen des bolschewistischen Parteistaates synonym wurden. Die ‚bourgeoisen‘ Aspekte der russischen Revolution wurden nun im Bolschewismus selbst entdeckt: der Leninismus wurde beurteilt als Teil der internationalen Sozialdemokratie, der sich nur in taktischen Fragen von ihr unterschied.“ (11)
Wollte man in der anarchistischen Tradition eine einzelne Leitidee suchen, so müsste man sie wohl in dem erkennen, was Bakunin in einem Text zur Pariser Kommune über sich selbst schrieb:
„Ich bin ein fanatischer Anhänger der Freiheit, die ich als die einzige Bedingung erachte, unter der Intelligenz, Würde und menschliches Glück sich entwickeln und heranwachsen können; nicht die bloß formale Freiheit, die vom Staate gewährt, bemessen und reguliert wird, eine ewige Lüge, die in Wahrheit nichts mehr darstellt als das Privileg einiger, begründet auf der Sklaverei der übrigen; nicht die individualistische, egoistische, schäbige und unechte Freiheit, die gepriesen wird von der Schule J.-J. Rousseaus und den anderen Schulen des bürgerlichen Liberalismus, der Erwägungen anstellt über die angeblichen Rechte aller Menschen, repräsentiert durch den Staat, der die Rechte eines jeden beschränkt – eine Idee, die unweigerlich zur Beschränkung der Rechte jedes einzelnen bis auf Null hinführt.
Nein, ich meine die einzige Art von Freiheit, die den Namen wert ist, Freiheit, die in der vollen Entfaltung aller materiellen, intellektuellen und moralischen Kräfte, die latent in jedem Menschen stecken, besteht; Freiheit, die keine anderen Einschränkungen anerkennt als die von den Gesetzen unserer eigenen, individuellen Natur bedingten, die eigentlich nicht als Einschränkungen angesehen werden können, da diese Gesetze nicht von einem äußeren Legislator neben oder über uns auferlegt worden, sondern immanent und inhärent sind, indem sie die eigentliche Grundlage unseres materiellen, intellektuellen und moralischen Seins bilden – sie limitieren uns nicht, sondern sind die realen und unmittelbaren Bedingungen unserer Freiheit.“ (12)
Diese Ideen entstammen der Aufklärung, sie haben ihre Wurzeln in Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in Wilhelm von Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in Kants Beharren auf der Freiheit als Vorbedingung für die Erlangung der Reife zur Freiheit, nicht als Geschenk, das erst nach Erreichen dieser Reife zu erwarten ist (so in Kants Verteidigung der Französischen Revolution, s.o. Sprache und Freiheit) Als der industrielle Kapitalismus als neues und unvorhergesehenes System von Ungerechtigkeit sich entfaltete, war es der libertäre Sozialismus, der die radikale humanistische Botschaft der Aufklärung und der klassisch-liberalen Ideale bewahrte und erweiterte, als diese zu einer Rechtfertigungsideologie der aufkommenden Gesellschaftsordnung pervertiert wurden.
Tatsächlich sind genau unter denselben Voraussetzungen, aus denen der klassische Liberalismus zu seiner Opposition gegen staatliche Eingriffe ins gesellschaftliche Leben gekommen war, auch die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse unerträglich.
Das wird deutlich z.B. an dem klassischen Werk Humboldts, Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates, das John St. Mill vorwegnahm und vielleicht auch inspirierte und auf das wir noch zu sprechen kommen (s. Sprache und Freiheit). Diese klassische Schrift liberalen Denkens ist ihrem Wesen nach – freilich im Vorgriff – tief antikapitalistisch.
Ihre Ideen mussten zur Unkenntlichkeit entstellt werden, um sich in eine Ideologie des industriellen Kapitalismus verwandeln zu lassen.
Humboldts Vision einer Gesellschaft, in der die sozialen Fesseln durch gesellschaftliches Übereinkommen ersetzt sind und Arbeit frei in Angriff genommen wird, erinnert an den jungen Marx, der über die „Entfremdung“ oder „Entäußerung der Arbeit“ handelte, die besteht, wenn „die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, [so] dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert“. Entfremdete Arbeit „wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine“, womit sie dem Menschen seinen „Gattungscharakter“ der „freien bewussten Tätigkeit“ und des „produktiven Lebens“ raubt.
Eben so dachte Marx an einen neuen Typus menschlichen Wesens, dessen „größter Reichtum“ darin liegen würde, „den anderen Menschen als Bedürfnis [zu] empfinden“.
Und die Assoziierung der Arbeiter war für Marx die reale Voraussetzung für die „völlige Wiedergewinnung des Menschen“ (13). Es ist richtig, dass klassisch-libertäres Denken sich staatlichen Eingriffen in das gesellschaftliche Leben widersetzte aufgrund seiner Annahmen über das menschliche Bedürfnis nach Freiheit, Verschiedenheit und freier Assoziation. Doch unter denselben Annahmen sind auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, Lohnarbeit, Konkurrenz, die Ideologie des „Besitzindividualismus“ usw. gleichermaßen von Grund auf antihuman. Somit ist der libertäre Sozialismus eigentlich als Erbe der liberalen Ideen der Aufklärung anzusehen.
Rudolf Rocker beschreibt den modernen Anarchismus als „den Zusammenfluss jener beiden großen Ströme, die während und seit der Französischen Revolution so charakteristischen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben: Sozialismus und Liberalismus“. Die klassisch-liberalen Ideen, so argumentiert er, sind durch die Realitäten der kapitalistischen Wirtschaftsformen zugrunde gerichtet worden.
Anarchismus ist zwangsläufig antikapitalistisch, insofern er sich „der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen widersetzt“. Aber der Anarchismus widersetzt sich auch der „Herrschaft des Menschen über den Menschen“.
Er betont beharrlich: „Der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein. In der Anerkennung dessen liegt die genuine und tiefe Rechtfertigung für die Existenz des Anarchismus.“ (14)
So gesehen könnte man den Anarchismus als den freiheitlichen Flügel des Sozialismus ansehen. Und genau dies ist der Geist, in dem Daniel Guérin seine Untersuchung des Anarchismus in Angriff genommen hat, sowohl in Anarchismus wie auch in seinen übrigen Schriften. (15)
Guérin zitiert Adolph Fischer: „Jeder Anarchist ist ein Sozialist, aber nicht jeder Sozialist ist unbedingt ein Anarchist.“
Ebenso hatte Bakunin in seinem „anarchistischen Manifest“ von 1865, dem Programm seiner geplanten internationalen revolutionären Bruderschaft, das Prinzip verankert, nach dem jedes Mitglied zunächst einmal Sozialist sein musste.
Ein konsequenter Anarchist muss sich dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der Lohnsklaverei als Bestandteil dieses Systems widersetzen, weil sie unvereinbar mit dem Prinzip sind, dass Arbeit frei in Angriff genommen und von den Produzenten selbst kontrolliert werden muss. SozialistInnen schauen vorwärts auf eine Gesellschaft, in der – wie Marx es ausdrückte – „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ (16) ist – eine Unmöglichkeit, wenn der Arbeiter durch äußere Autorität oder Zwang zur Arbeit getrieben wird, statt aus innerem Antrieb nach ihr zu streben.
„Keine Form der Lohnarbeit“, so betont Marx, „obgleich die eine Missstände der andren überwältigen mag, kann die Missstände der Lohnarbeitselbst überwältigen.“ (17)
Ein konsequenter Anarchist hat sich nicht nur der entfremdeten Arbeit allgemein zu widersetzen, sondern auch der verblödenden Spezialisierung der Arbeit, die sich in einem System breit macht, von dem Marx schrieb: „alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses, im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird.“ (18)
Marx sah das nicht als unvermeidliche Begleiterscheinung der Industrialisierung, sondern als Kennzeichen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.
Die zukünftige Gesellschaft habe dafür zu sorgen, dass der heutige Teilarbeiter, der zum bloßen Teilmenschen verstümmelt ist, durch das allseitig entwickelte Individuum ersetzt wird, das zu einer Vielfalt von Arbeiten gleich fähig ist und dem die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen nur ebensoviele Möglichkeiten zu freier Ausübung seiner natürlichen Fähigkeiten sind. (19)
Vorbedingung dafür ist allerdings die Abschaffung von Kapital und Lohnarbeit als gesellschaftliche Kategorien (um nicht von den industriellen Armeen des „Arbeitsstaates“ zu sprechen oder den verschiedenen modernen Formen von Totalitarismus oder Staatskapitalismus). Die Verstümmelung des Menschen zum bloßen Anhängsel der Maschine, zu einem Spezialwerkzeug in der Produktion, wäre im Prinzip durch richtige Entwicklung und Anwendung der Technologie eher zu überwinden als noch weiter zu verschärfen, freilich nicht unter den Bedingungen einer autokratischen Kontrolle der Produktion durch diejenigen, die den Menschen zu einem Instrument für ihre Ziele machen und dabei seine, um mit Humboldt zu sprechen, individuellen Zwecke außer Acht lassen.
AnarchosyndikalistInnen haben versucht, bereits unter dem Kapitalismus „freie Assoziationen von freien Produzenten“ zu schaffen, die sich dem militanten Kampf zu verschreiben und die Übernahme der Produktionsorganisation auf demokratischer Basis vorzubereiten hätten.
Solche Assoziationen sollten „praktische Schulen des Anarchismus“ sein. (20)
Und wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln nach Proudhons oft zitiertem Satz nur eine Art „Diebstahl“ ist – „die Enteignung der Schwachen durch die Starken“ (21) -, dann kann auch die Produktionskontrolle durch eine Staatsbürokratie, wie gut ihre Absichten immer sein mögen, gleichfalls nicht die Bedingungen schaffen, unter denen die Arbeit, die Hand- wie die Kopfarbeit, zum „ersten Lebensbedürfnis“ werden. Also müssen beide Formen von Kontrolle überwunden werden.
Bei seinem Angriff auf das Recht zu privater oder bürokratischer Kontrolle über die Produktionsmittel steht der Anarchist an der Seite derer, die für die „dritte und letzte Emanzipationsphase der Geschichte“ kämpfen – die erste Phase machte aus Sklaven Leibeigene, die zweite aus Leibeigenen Lohnarbeiter, und die dritte, die in einer abschließenden Befreiungstat das Proletariat abschaffen wird, legt die Kontrolle über die Ökonomie in die Hände von freien und freiwilligen Produzentenassoziationen (Fourier, 1848). (22)
Die unmittelbare Gefahr für die „Zivilisation“ ist 1848 auch von Tocqueville bemerkt worden:
„Solange das Recht auf Eigentum Ursprung und Fundament vieler anderer Rechte war, ließ es sich leicht verteidigen – oder besser gesagt, es wurde gar nicht angegriffen; es war die Trutzburg der Gesellschaft, während die übrigen Rechte gleichsam ihre äußeren Befestigungsanlagen waren; es hatte die Hitze des Angriffs nicht selbst zu ertragen, und es gab in der Tat keinen ernsthaften Versuch, diese Trutzburg zu erstürmen. Doch heute, da das Recht auf Eigentum als letzte unzerstörbare Bastion der aristokratischen Welt gilt, da es schutzlos übriggeblieben, einziges Privileg in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, ist die Lage verändert. Man stelle sich nur vor, was in den Herzen der Arbeiterklassen vorgehen mag, wenn ich auch zugebe, dass sie bislang noch ruhig sind. Gewiss, sie lassen sich weniger als früher durch politische Leidenschaften im strengen Sinne entflammen; aber sehen Sie denn nicht, dass ihre Leidenschaften, weit entfernt von politischer Natur, nun gesellschaftlich geworden sind?
Sehen Sie denn nicht, dass Schritt für Schritt sich Ideen unter ihnen ausbreiten, deren Ziel nicht bloß die Beseitigung dieses oder jenes Gesetzes, dieses Ministers oder jener Regierung ist, sondern die Zerstörung der tiefsten Fundamente der Gesellschaft selbst?“ (23)
Die Arbeiter von Paris haben das Schweigen gebrochen und machten sich daran, „das Eigentum, die Grundlage aller Zivilisation, ab[zu]schaffen! Jawohl, meine Herren, die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der vielen in den Reichtum der wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Enteigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden, und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt.“ (24)
Die Kommune wurde freilich im Blut ertränkt. Als die Truppen der Versailler Regierung Paris aus den Händen seiner BewohnerInnen zurückeroberten, gab sich wieder einmal die Natur jener „Zivilisation“ zu erkennen, die die Pariser Arbeiter mit ihrem Angriff auf die „tiefsten Fundamente der Gesellschaft selbst“ zu überwinden suchten. Wie Marx bitter, aber zutreffend schrieb:
„Die Zivilisation und Gerechtigkeit der Bourgeoisordnung tritt hervor in ihrem wahren, gewitterschwangern Licht, sobald die Sklaven in dieser Ordnung sich gegen ihre Herren empören. Dann stellt sich diese Zivilisation und Gerechtigkeit dar als unverhüllte Wildheit und gesetzlose Rache […] die höllischen Taten der Soldateska spiegeln den eingebornen Geist jener Zivilisation, deren gemietete Vorkämpfer und Rächer sie sind. […] Die Bourgeoisie der ganzen Welt sieht der Massenschlächterei nach der Schlacht wohlgefällig zu, aber sie entsetzt sich über die Entweihung von Dach und Fach!“ (ebd., S. 355-57)
Trotz der gewaltsamen Zerschlagung der Kommune meinte Bakunin, Paris habe eine neue Ära eröffnet, „die der endgültigen und vollständigen Emanzipation der Volksmassen und die ihrer zukünftigen wahren Solidarität, ungeachtet und quer über alle Staatsgrenzen hinweg […] die nächste Revolution des Menschen, international und in Solidarität, wird die Auferstehung von Paris sein“ – eine Revolution, auf die die Welt noch heute wartet.
Der konsequente Anarchist sollte also ein Sozialist sein, allerdings ein besonderer Sozialist. Er widersetzt sich nicht nur der entfremdeten und spezialisierten Arbeit und zielt nicht nur auf die Aneignung des Kapitals durch die Gesamtheit der ArbeiterInnen, sondern er besteht beharrlich darauf, dass diese Aneignung direkt vollzogen wird, nicht durch eine Elitekraft, die im Namen des Proletariats handelt. Kurzum, er ist gegen „die Organisierung der Produktion durch die Regierung. Sie bedeutet Staatssozialismus, das Kommando der Staatsfunktionäre über die Produktion und das Kommando der Manager, Wissenschaftler, Betriebsfunktionäre im Betrieb. […] Ziel der Arbeiterklasse ist die Befreiung von Ausbeutung. Dieses Ziel wird nicht und kann nicht erreicht werden durch eine neue herrschende und regierende Klasse, die sich an die Stelle der Bourgeoisie setzt. Es wird nur durch die Arbeiter selbst verwirklicht, indem diese selbst die Herren der Produktion sind.“
Diese Sätze stammen aus den „Fünf Thesen zum Klassenkampf“ von dem linken Marxisten Anton Pannekoek, einem der bedeutendsten Theoretiker der rätekommunistischen Bewegung. (25)
Und in der Tat fließt der radikale Marxismus mit anarchistischen Strömungen zusammen.
Als weiteres Beispiel betrachte man die folgende Charakterisierung des „revolutionären Sozialismus“:
„Der revolutionäre Sozialist ist davon überzeugt, dass Staatseigentum nur in einem bürokratischen Despotismus enden kann. Wir haben gesehen, warum der Staat nicht in der Lage ist, die Industrie demokratisch zu kontrollieren. Die Industrie kann nur von den Arbeitern demokratisch besessen und kontrolliert werden, indem diese Komitees zur Verwaltung der Industrie direkt aus ihren eigenen Reihen wählen. Sozialismus wird ein zutiefst industrielles System sein; seine Grundlagen werden industriellen Charakter haben.
Folglich werden die Ausführenden der gesellschaftlichen Tätigkeiten und der Industrien der Gesellschaft unmittelbar in den lokalen und zentralen Räten der gesellschaftlichen Verwaltung vertreten sein.
Auf diese Weise werden die Machtbefugnisse dieser Delegierten aus denen aufsteigen, die die Arbeit verrichten, und sie werden mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft übereinstimmen. Wenn das Industrieverwaltungskomitee zusammentritt, so wird es jede Phase der gesellschaftlichen Aktivität repräsentieren. Daher tritt an die Stelle des kapitalistischen politischen oder geografischen Staates das Industrieverwaltungskomitee des Sozialismus. Der Übergang von dem einen zum anderen System wird die soziale Revolution sein. Während der bisherigen Geschichte bedeutete der politische Staat stets die Regierung über Menschen durch herrschende Klassen; die Republik des Sozialismus wird sein die Regierung über Industrie, die im Interesse der Gesamtheit verwaltet wird. Erstere bedeutete die ökonomische und politische Unterwerfung der vielen; letztere wird die ökonomische Freiheit aller bedeuten – und wird daher eine wahre Demokratie sein.“
Diese programmatische Erklärung steht in William Pauls The State, its Origins and Function, geschrieben Anfang 1917 – kurz vor Lenins Staat und Revolution, seinem wohl libertärsten Werk (siehe Anm. 9). Paul war Mitglied der von Marx und De Leoni beeinflussten Socialist Labour Party und gehörte später zu den Gründern der British Communist Party. (26)
Seine Kritik am Staatssozialismus ähnelt der libertären Lehre der AnarchistInnen in ihrem Prinzip: Da Staatseigentum und Management zu bürokratischem Despotismus führen müssen, hat die soziale Revolution sie zu ersetzen durch die gesellschaftliche Organisation der Industrie mit direkter Arbeiterkontrolle. Viele ähnliche Aussagen ließen sich anführen.
Weit wichtiger ist jedoch, dass diese Ideen in spontanen revolutionären Aktionen verwirklicht worden sind, so zum Beispiel in Deutschland und Italien nach dem Ersten Weltkrieg und 1936 in Spanien (und dort nicht nur auf dem flachen Lande, sondern auch im industrialisierten Barcelona). Man könnte argumentieren, dass die natürliche Form des revolutionären Sozialismus in einer Industriegesellschaft eine rätekommunistische Form ist. In ihr spiegelt sich die Einsicht, dass Demokratie ernstlich eingeschränkt wird, wenn das Industriesystem unter der Kontrolle einer irgendwie gearteten autokratischen Elite steht, gleichgültig, ob in Form von Eigentümern, Managern und Technokraten, einer „Avantgarde“- Partei oder einer Staatsbürokratie. Unter den Bedingungen autoritärer Herrschaft lassen sich die klassischen Ideale des libertären Denkens, wie sie von Marx und Bakunin und anderen Revolutionären weiterentwickelt worden sind, keinesfalls verwirklichen; unter Zwang ist der Mensch nicht frei, seine eigenen Möglichkeiten zu entfalten, und der Produzent bleibt ein „Fragment menschlichen Wesens“, degradiert zum Werkzeug in einem von oben geleiteten Produktionsprozess.
Der Ausdruck „spontane revolutionäre Aktion“ könnte in die Irre führen. Die AnarchosyndikalistInnen zumindest haben Bakunins Hinweis stets sehr ernst genommen, dass die Arbeiterorganisationen „nicht nur die Ideen, sondern auch die Tatsachen der Zukunft selbst“ schaffen müssen, und zwar schon in der vorrevolutionären Periode. Insbesondere die Errungenschaften der Volksrevolution in Spanien waren das Ergebnis langjähriger Organisations- und Erziehungsarbeit als Teil einer langen Tradition von Engagement und Militanz.
Die Resolutionen des Madrider Kongresses vom Juni 1931 und des Kongresses in Saragossa vom Mai 1936 haben die Handlungen der Revolution in vieler Hinsicht vorgezeichnet, ebenso auch die ein wenig andersartigen Ideen von Santillan (siehe Anm. 4), die er in seinem detaillierten Bericht über die von der Revolution zu errichtenden gesellschaftlichen und ökonomischen Organisationen umrissen hat. Guérin schreibt: „Die Spanische Revolution war relativ reif in den Köpfen der libertären Denker und im Bewusstsein des Volkes.“ Und es gab durchaus ArbeiterInnenorganisationen mit der notwendigen Struktur, Erfahrung und Einsicht, um die Aufgabe einer Rekonstruktion der Gesellschaft in Angriff zu nehmen, als Anfang 1936 mit Francos Staatsstreich die Unruhen zur sozialen Revolution explodierten.
Der Anarchist Augustin Souchy schreibt in seiner Einleitung zu einer Sammlung von Dokumenten über die Kollektivierung in Spanien:
„Jahrelang sahen die Anarchisten und Syndikalisten Spaniens ihr höchstes Ziel in der sozialen Transformation der Gesellschaft. In ihren Gewerkschafts- und Gruppenversammlungen, ihren Zeitungen, Broschüren und Büchern diskutierten sie das Problem der sozialen Revolution unaufhörlich und in systematischer Weise.“ (27)
All dies stand hinter den spontanen Errungenschaften, hinter der konstruktiven Arbeit der Spanischen Revolution.
Die Ideen des libertären Sozialismus im genannten Sinne sind in den Industriegesellschaften des letzten halben Jahrhunderts von der Oberfläche verschwunden. Die herrschenden Ideologien waren die des Staatssozialismus und des Staatskapitalismus (der in den USA aus Gründen, die nicht im Verborgenen liegen, einen zunehmend militarisierten Charakter angenommen hat (28)).
Doch in den letzten Jahren ist ein neues Interesse zum Vorschein gekommen. Die zitierten Thesen von Anton Pannekoek habe ich in einer aktuellen Kampfschrift radikaler französischer ArbeiterInnen (Informations Correspondance Ouvrière) gefunden.
William Pauls Ausführungen über den revolutionären Sozialismus werden in einem Papier zitiert, das Walter Kendall für die Nationale Konferenz über Arbeiterkontrolle in Sheffield, England, März 1969, verfasst hat. In England ist die Bewegung für Arbeiterkontrolle in den letzten Jahren eine bedeutsame Kraft geworden; sie hat mehrere Konferenzen organisiert und eine breite Kampfliteratur hervorgebracht, und sie zählt Vertreter einiger der wichtigsten Gewerkschaften zu ihren aktiven AnhängerInnen.
Die Vereinigte Maschinenbau- und Gießereiarbeitergewerkschaft zum Beispiel hat das Programm einer Verstaatlichung der Grundstoffindustrien unter „Arbeiterkontrolle auf allen Ebenen“ als ihre offizielle Politik angenommen. (29)
Ähnliche Entwicklungen gibt es auch auf dem Kontinent. Und natürlich hat der französische Mai 1968 das wachsende Interesse am Rätekommunismus und verwandten Vorstellungen in Frankreich und Deutschland sowie in England weiter verstärkt.
Angesichts der allgemeinen konservativen Grundstimmung unserer hochgradig ideologisierten Gesellschaft ist es nicht allzu überraschend, dass die USA von diesen Entwicklungen relativ unberührt geblieben sind. Aber auch dies kann sich ändern. Die Erosion der Mythologie des Kalten Krieges macht es immerhin möglich, derlei Fragen in weiten Kreisen aufzuwerfen. Wenn die derzeitige Repressionswelle zurückgeschlagen werden kann und die Linke ihre eher selbstmörderischen Neigungen zu überwinden vermag und auf dem im letzten Jahrzehnt Erkämpften aufbaut, dann sollte wohl das Problem einer wirklich demokratischen Organisation der Industriegesellschaft mit demokratischer Kontrolle am Arbeitsplatz und in der Gemeinschaft zum vorherrschenden intellektuellen Thema für all jene werden, die für die Probleme der heutigen Gesellschaft empfänglich sind. Und in dem Maße, wie sich eine Massenbewegung für den libertären Sozialismus herausbildet, dürfte die Spekulation wohl auch zur Aktion voranschreiten.
In seinem Manifest von 1865 sagte Bakunin voraus, ein Element der sozialen Revolution werde „jener intelligente und wahrhaft edle Teil der Jugend“ sein, „der, obgleich seiner Geburt nach zu den privilegierten Klassen zählend, in seinen hochherzigen Überzeugungen und brennenden Bestrebungen die Sache des Volkes zu der seinen macht“.
Vielleicht kann man im Aufkommen der Studentenbewegung der 1960er Jahre erste Schritte zur Erfüllung dieser Prophezeiung sehen.
Daniel Guérin hat das unternommen, was er einen „Rehabilitierungsprozess“ des Anarchismus nennt. Er argumentiert, meines Erachtens durchaus überzeugend: „Die konstruktiven Ideen des Anarchismus behalten ihre Vitalität, so dass sie, wenn erneut überprüft und gesichtet, dem zeitgenössischen sozialistischen Denken zu einem neuen Anfang verhelfen können […] [und] zur Bereicherung des Marxismus beitragen.“ (30)
Vom „breiten Rücken“ des Anarchismus hat Guérin diejenigen Ideen und Aktionen ausgewählt, die sich als libertär-sozialistisch beschreiben lassen. Dies ist nur natürlich und angemessen. In diesen Rahmen fügen sich sowohl die bedeutenderen SprecherInnen des Anarchismus wie auch die von anarchistischen Stimmungen und Idealen animierten Massenaktionen ein. Guérin behandelt nicht nur das anarchistische Denken, sondern auch das spontane Handeln der Kräfte des Volkes, die im Laufe des revolutionären Kampfes neue Gesellschaftsformen praktisch schaffen. Er behandelt die gesellschaftliche ebenso wie die intellektuelle Kreativität.
Zudem versucht er, aus den konstruktiven Errungenschaften der Vergangenheit Lehren zu ziehen, die die Theorie der gesellschaftlichen Befreiung bereichern.
Für diejenigen, die die Welt nicht nur verstehen, sondern auch verändern wollen, ist dies die richtige Art, die Geschichte des Anarchismus zu er forschen.
Guérin beschreibt den Anarchismus des 19. Jahrhunderts als wesentlich doktrinär, während das 20. Jahrhundert für die Anarchisten eine Zeit „revolutionärer Praxis“ gewesen sei. (31)
Dieses Urteil spiegelt sich auch in seinem Buch Anarchismus. Seine Interpretation des Anarchismus verweist bewusst auf die Zukunft. Arthur Rosenberg hat einmal gesagt, Volksrevolutionen zeichneten sich dadurch aus, dass sie „einen feudalen oder zentralistischen Gewaltapparat“ durch ein „‚kommunales‘ oder sowjetmäßiges Gemeinwesen“ zu ersetzen versuchten, das seinerseits „bereits eine Zerschlagung und Auflösung des alten Staates“ darstelle.
Ein solches Gemeinwesen sei entweder direkt sozialistisch oder doch jedenfalls eine „extreme Form der Demokratie, […] die Voraussetzung für den Sozialismus, der nur bei einem Höchstmaß menschlicher Freiheit vollendet werden kann“. Dieses Ideal, so fügt Rosenberg hinzu, habe Marx mit den Anarchisten gemein. (32)
Ein Befreiungskampf solcher Art steht freilich im Gegensatz zu der vorherrschenden Tendenz nach Zentralisierung im ökonomischen und politischen Leben.
Vor einem Jahrhundert schrieb Marx, die Pariser Arbeiter und auch ein Teil der Mittelklasse „fühlte[n], dass es nur noch eine Wahl gab: die Kommune oder das Kaisertum, gleichviel unter welchem Namen. Das Kaisertum hatte diese Mittelklasse ökonomisch ruiniert durch seine Verschleuderung des öffentlichen Reichtums, durch den von ihm großgezogenen Finanzschwindel, durch seine Beihilfe zur künstlich beschleunigten Zentralisation des Kapitals und die dadurch bedingte Enteignung eines großen Teils dieser Mittelklasse. Es hatte sie politisch unterdrückt, sie sittlich entrüstet durch seine Orgien, es hatte ihren Voltairianismus beleidigt durch Überlieferung der Erziehung ihrer Kinder an die unwissenden Brüderlein, es hatte ihr Nationalgefühl als Franzosen empört, indem es sie kopfüber in einen Krieg stürzte, der für alle die Verwüstung, die er anrichtete, nur einen Ersatz ließ – die Vernichtung des Kaisertums.“ (33)
Das elende Zweite Kaiserreich war „die einzige mögliche Regierungsform zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren und wo die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte“. (34)
Es ist nicht besonders schwer, diese Bemerkungen so umzuformulieren, dass sie auf die imperialen Systeme der 1970er Jahre passen.
Das Problem der „Befreiung des Menschen aus dem Fluch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen wie gesellschaftlichen Versklavung“ ist immer noch das Problem unserer Zeit. Solange dies nicht anders wird, werden uns die Lehren und die revolutionäre Praxis des libertären Sozialismus als Inspiration und Anleitung dienen.
(1) Octave Mirbeau, zitiert in James Joll, The Anarchists, Boston 1964, S. 145 f. [dt. Die Anarchisten, übersetzt von Alfred Kellner, Frankfurt-Berlin-Wien 1966].
(2) Rudolf Rocker, Anarchism and Anarchosyndicalism, in: Paul Eltzbacher, Anarchism, New York 1960.
(3) Zitiert bei Rocker, a.a.O., S. 77. Dieses und das folgende Zitat stammen aus Michael Bakunin, "The Program of the Alliance", in Sam Dolgoff (Hg.), Bakunin on Anarchy, Montreal 1980, S. 255.
(4) Diego Abad de Santillán, After the Revolution, New York 1937, S. 86. lm letzten Kapitel, geschrieben einige Monate nach Beginn der Revolution, gibt Santillán seiner Unzufriedenheit mit dem bislang auf dieser Linie Erreichten Ausdruck. Zu den Errungenschaften der Spanischen Revolution siehe das 1. Kapitel meines Amerika und die neuen Mandarine. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anna Kamp, Frankfurt 1969 mit den dort gegebenen Verweisen. Seither sind mehrere wichtige Untersuchungen erschienen, insbesondere: Frank Mintz, L'Autogestion dans l'Espagne révolutionnaire, Paris 1971; César M. Lorenzo, Les Anarchistes espagnols et le pouvoir, 1868-1969, Paris 1969; Gaston Leval, Espagne libertaire 193,6-193,9: L'Oeuvre constructive de la Révolution espagnole, Paris 1971; siehe auch Vernon Richards, Lessons of the Spanish Revolu- tion (193,6-193,9), London 1972.
(5) Zitiert von Robert C. Tucker, The Marxian Revolutionary Idea, New York 1969, in seiner Diskussion über Marxismus und Anarchismus [Originaltext: Marx/Engels, Werke Bd. 36, S. 11 f.].
(6) Brief an Herzen und Ogareff, 1866, zitiert bei Daniel Guérin, Jeunesse du socialisme libertaire, Paris 1959, S. 119 [dt. in der Sammlung Michail Bakunins Social-politischer Briefwechsel mit Alexander Iw. Herzen und Ogarjow, hrsg. Von Michail Dragomanow, Stuttgart 1895].
(7) Fernand Pelloutier, zitiert in Joll, Die Anarchisten, a.a.O.; Die Quelle ist "L'Anarchisme et les syndicats ouvriers", Les Temps nouveaux, 1895. Der volle Text ist abgedruckt bei Daniel Guérin (Hg.), Ni Dieu, ni maître, Lausanne 1969, einer hervorragenden Sammlung historischer Texte des Anarchismus.
(8) Martin Buber, Der utopische Sozialismus, Köln 1967.
(9) "Kein Staat, so demokratisch er auch in seinen Formen sein möge," schrieb Bakunin, "ja nicht einmal eine ultrarote politische Republik […] ist in der Lage, dem Volk zu geben, wessen es bedarf, nämlich die freie Organisation seiner Interessen von unten nach oben ohne jede Einmischung, jede Bevormundung oder Zwang von oben. Denn jeder Staat, selbst der im höchsten Maße republikanische und demokratische, ja sogar der sogenannte Volksstaat, wie ihn Marx sich vorstellt, ist seinem Wesen nach nichts anderes als die Leitung der Masse von oben nach unten durch eine gelehrte und schon dadurch privilegierte Minderheit, die angeblich die wahren Interessen des Volkes besser begreift als das Volk selbst." - "Denn das Volk wird kein leichteres Leben haben, wenn der Stock, der es schlägt, seinen eigenen Namen trägt." (Michael Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie [1873], deutsche Erstübersetzung von Alexandra Petrow, Berlin 1972, S. 29 f.) - Mit dem Stock meinte Bakunin natürlich die demokratische Republik. Marx sah die Sache freilich anders. Zur Diskussion der Bedeutung der Pariser Kommune in dieser Auseinandersetzung siehe Daniel Guérins Kommentare in Ni Dieu, ni Maître, a.a.O.; leicht erweitert finden sie sich auch in seinem Pour un marxisme libertaire, Paris 1969. Siehe auch unten Anm. 24.
(10) Zu Lenins "intellektueller Abweichung" nach links während des Jahres 1917 siehe Robert Vincent Daniels, "The State and Revolution: a Case Study in the Genesis and Transformation of Communist Ideology". American Slavic and East European Review, Bd. 12, Nr. 1, 1953.
(11) Paul Mattick, Marx and Keynes: The Limits of the Mixed Economy, Boston 1969, S. 295 [dt. Marx und Keynes, übersetzt von Reiner Diederich und Klaus Hermann, Frankfurt 1971].
(12) Michail Bakunin, La Commune de Paris et la notion de l'Etat, abgedruckt in Guérin, Ni Dieu, ni maître, a.a.O. Bakunins abschließende Bemerkung über die Gesetze der individuellen Natur als der Bedingung zur Freiheit lässt sich vergleichen mit dem Ansatz zu kreativem Denken, der in der rationalistischen und romantischen Tradition entwickelt worden ist; siehe dazu auch meine Cartesianische Linguistik und Sprache und Geist, Frankfurt 1970, 1973.
(13) Zitiert in Shlomo Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, London 1968, S. 142 [Das letzte Zitat aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 390; die übrigen aus den Pariser Manuskripten von 1844, in Karl Marx, Texte zu Methode und Praxis II, hrsg. von G. Hillmann, Reinbek 1968, S. 54-55, 54, 57 und 84]. - Avineri stellt im übrigen fest, dass innerhalb der sozialistischen Bewegung nur die israelischen Kibbutzim "begriffen haben, dass die Arten und Formen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisationen für die Struktur der zukünftigen Gesellschaft bestimmend sein werden". Dies genau war aber eine charakteristische Position des Anarchosyndikalismus, wie oben schon bemerkt.
(14) Rocker, Anarchosyndicalism, a.a.O., S. 28.
(15) Siehe die genannten Werke von Guérin.
(16) Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms [MEWBd. 19, S. 21].
(17) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie [Berlin 1953, S. 43], zitiert von Paul Mattick in seinem Marx und Keynes, a.a.O., S. 315. Siehe in diesem Zusammenhang auch Matticks Aufsatz Worker's Control, in Priscilla Long (Hg.), The New Left, Boston 1969, sowie auch Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, a.a.O.
(18) Karl Marx, Das Kapital [Bd. I = MEWBd. 23, S. 674], zitiert von Robert Tucker, The Marxian Revolutionary Idea, a.a.O., der zu Recht hervorhebt, dass Marx den Revolutionär eher als "frustrierten Produzenten" denn als "unbefriedigten Konsumenten" sieht. Diese radikalere Kritik der kapitalistischen Pro duktionsverhältnisse ist direkt aus dem libertären Denken der Aufklä rung erwachsen.
(19) Avineri, a.a.O., S. 83, gibt hierfür Stellen aus dem Kapital an.
(20) Pelloutier, L'Anarchisme et les syndicats ouvriers, a.a.O.
(21) Proudhon, Was ist das Eigentum? (1841). Der Satz "Eigentum ist Diebstahl" gefiel Marx nicht. Er sah darin ein logisches Problem, da Diebstahl die legitime Existenz von Eigentum voraussetzt. Siehe dazu Avineri, a.a.O.
(22) Zitiert in Martin Buber, Der utopische Sozialismus, a.a.O.
(23) Zitiert in J. Hampden Jackson, Marx, Proudhon and European Socialism, New York 1962, S. 60.
(24) Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich [NEWBd. 17, S. 342]. Avineri weist darauf hin, dass diese und andere Kommentare von Marx über die Pariser Kommune stets pointiert auf Absichten und Pläne der Kommunarden bezogen sind. Wie Marx an anderer Stelle klargemacht hat, war seine reflektierte Einschätzung der Kommune kritischer als in der zitierten Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation.
(25) [Hier nach dem englischen Text übersetzt. Ausführlicher hat Pannekoek die gleichen Gedanken im Anhang zu seiner Schrift Weltrevolution und kommunistische Taktik entfaltet, s. A. Pannekoek / H. Gorter, Organisation und Taktik der proletarischen Revolution, hrsg. u. eingel. von H. M. Bock, Frankfurt1969, S. 162-67; Anm. d. Üb.].
(26) Zu den Hintergründen siehe Walter Kendall, The Revolutionary Movement in Britain 1900-1921, London 1969.
(27) In dem Sammelband Collectivisations: L'Oeuvre constructive de la Révolution espagnole, Paris 1971, S. 8.
(28) Zur genaueren Diskussion siehe Paul Mattick, Marx und Keynes, a.a.O. und Michael Kidron, Rüstung und wirtschaftliches Wachstum, Frankfurt 1971. Vergleiche ebenfalls die Diskussion und die Verweise in meinem At War with Asia, Kap. 1, S. 23-26 [Indochina und die amerikanische Krise. Im Krieg mit Asien I. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Behrens, Frankfurt 1972].
(29) Siehe Hugh Scanlon, The Way Forward for Worker's Control, Institut for Worker's Control, Pamphlet Series, Nr. 1, Nottingham 1968. Scanlon ist Präsident der "Amalgamated Engineering and Foundryworkers' Union", einer der größten britischen Gewerkschaften. Das Institut wurde als Ergebnis der 6. Konferenz über Arbeiterkontrolle vom März 1968 gegründet und dient als Zentrum zur Verbreitung von Informationen und Organisierung von Untersuchungsarbeiten.
(30) Guérin, Ni Dieu, ni maître, a.a.O., Einleitung.
(31) Ebda.
(32) Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus (1932), Frankfurt 1966, S. 126f.
(33) Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich [MEW17, S. 344].
(34) Ebda [S. 338].