bücher

Wenn Handeln unmöglich wird

Simone Weil und der Anarchismus

| Antje Schrupp

Charles Jacquier (Hg.): Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006, 380 S., 24,80 Euro, ISBN 978-3-039045-04-5

Am 3. Februar 2009 steht der 100. Geburtstag der französischen Philosophin Simone Weil an – Anlass genug, sich genauer mit dem Werk dieser ungewöhnlichen Denkerin zu beschäftigen.

Ein guter Lektüretipp dazu ist ein Sammelband, der zwar schon zehn Jahre alt ist, aber erst kürzlich ins Deutsche übersetzt wurde. Er enthält Aufsätze und teilweise bis dahin unveröffentlichte Textdokumente, die den Fokus auf Simone Weils politischen Aktivismus und insbesondere ihre Verbindung zum gewerkschaftlich-anarchistischen Syndikalismus lenken – ein Aspekt, der ansonsten häufig zu kurz kommt, wenn der Schwerpunkt eher auf ihrem spirituellem Denken und der Hinwendung zum Christentum liegt. Ein großer Verdienst der Autoren ist, dass versucht wird, Weils Denken in seiner inneren Kontinuität zu verstehen und ihr mystisches Denken nicht vorschnell als Abkehr vom politischen Engagement zu verstehen.

Simone Weil, Tochter einer wohlhabenden, intellektuell offenen Familie, hat sich von klein auf für die „Unterdrückten“ eingesetzt. Der Zusammenhang von Denken und Handeln war für sie immer zentral, doch wie kaum eine andere Sozialistin hat sie die moralischen Schwierigkeiten, die das mit sich brachte, nicht wegzudrücken versucht, sondern sich ihnen mit aller Konsequenz gestellt.

Noch als Jugendliche schloss sie sich einer kleinen, anarchistischen Gewerkschaftsgruppe an, weil ihr jede Parteipolitik suspekt war. Gleichzeitig war sie radikale Pazifistin. Die Arbeiterbewegung, verstanden nicht als marxistisch oder gar stalinistisch geführt, sondern als kulturelles proletarisches Projekt, war für sie lange die Trägerin ihrer Hoffnungen für eine zukünftige gute, gerechte Gesellschaft.

Der Optimismus endete jedoch spätestens mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, von dem sich Simone Weil bei einer Deutschlandreise 1932 selbst ein Bild machte. Die Frage, die sie von nun an beschäftigte, war, warum die deutsche Arbeiterbewegung dem „Hitlerismus“ so wenig entgegensetzen konnte.

Natürlich lagen für eine Anarchistin einige Antworten klar auf der Hand: Der sozialdemokratische „Reformismus“, die Gewerkschaften, denen es vor allem um ihre eigenen Posten ging, der stalinistische Terror und der Bürokratismus des orthodoxen Kommunismus, all das lieferte Erklärung genug.

Doch Simone Weil, eine der vehementesten Kritikerinnen Sowjetrusslands (was sie damals innerhalb der westlichen Linken noch zur Außenseiterin machte), verlangte nach tiefergehenden Analysen. Sie glaubte, dass die Organisation der von Maschinen abhängigen Industriearbeit ein Hauptfaktor war, der ein freies Denken und Handeln der Arbeiterinnen und Arbeiter unmöglich machte.

Ein Problem war das für sie, weil sie gleichzeitig eine große Gegnerin jeder intellektuellen Bevormundung der Arbeiterschaft war. Im Mai 1933 schrieb sie: „Wenn die Proletarier sich mit Reformen zufrieden geben, ist das ihre Sache. An ihnen liegt es, das Risiko und vor allem die Verantwortung einer Revolution auf sich zu nehmen; an ihnen liegt es, sie zu machen oder nicht. Ich möchte Ihnen helfen, sie zu machen, wenn ich kann, nicht sie dazu drängen. Die Vorstellung bestimmter Kommunisten, die Arbeiter durch eine Verelendungstheorie der Revolution näher zu bringen, jagt mir Schrecken ein, auch wenn ich das nicht absurd finde.“ (S. 100)

Da die ArbeiterInnen die Revolution nicht machten, in Russland ein Staatsbürokratismus entstanden war, der noch unterdrückerischer war als der Kapitalismus, und die linken Intellektuellen sich auch noch weigerten, dies in der nötigen Schärfe zu kritisieren, wusste Simone Weil nicht mehr, wie sie ihr Denken und Handeln zusammenbringen konnte.

Einer Freundin schrieb sie zu dieser Zeit: „Ich habe mich dazu entschlossen, mich vollständig aus jedem Politikbereich zurückzuziehen, die theoretische Forschung ausgenommen. Das schließt für mich nicht die mögliche Teilnahme an einer großen spontanen Massenbewegung (als Kämpferin im Glied) aus, aber ich möchte keinerlei Verantwortung tragen, so gering sie auch sei, selbst indirekt nicht, weil ich sicher bin, dass alles Blut, das vergossen wird, umsonst vergossen wird und dass wir schon von vornherein geschlagen sind.“ (S. 40)

Als sie 1936, nach dem Militärputsch gegen die spanische Regierung, nach Barcelona reiste, um sich dort an den Kämpfen der Anarchistinnen und Anarchisten gegen General Franco zu beteiligen, tat sie es nicht, weil sie nun wieder auf etwas hoffte: „Ich mag den Krieg nicht; am schrecklichsten fand ich im Krieg jedoch immer die Situation derer, die sich im Hinterland befinden. Als mir bewusst wurde, dass ich trotz meiner Anstrengungen nicht umhin konnte, mich innerlich an diesen Krieg zu beteiligen, das heißt täglich, ja stündlich den Sieg der einen und die Niederlage der anderen zu wünschen, sagte ich mir, dass für mich Paris das Hinterland war, und ich nahm den Zug nach Barcelona.“ (S. 122)

Sie wollte unbedingt an den Kämpfen beteiligt sein, auch wenn sie dafür aufgrund ihrer Ungeschicklichkeit und Kurzsichtigkeit untauglich war.

In der Tat währte ihr Einsatz nur wenige Tage, bis ein Unfall sie zum Rückzug zwang: Sie war versehentlich in eine Schüssel mit siedendem Öl getreten.

Doch das, was sie in den wenigen Tagen beobachte hatte, reichte ihr aus, um auch jegliche Illusionen über ihre anarchistischen Kampfgenossen zu zerschlagen: „Weder die Spanier, noch die Franzosen, die gekommen waren, um zu kämpfen oder um zuzusehen, habe ich je angesichts des unnötig vergossenen Blutes Abscheu, Ekel oder auch nur Missbilligung äußern hören, nicht einmal im Vertrauen. Ganz offensichtlich mutige Männer erzählten während eines kameradschaftlichen Essens mit dem freundlichsten Lächeln, wie viele Priester oder ‚Faschisten‘ – ein sehr weiter Begriff – sie umgebracht hatten. Wenn man weiß, dass man ohne das Risiko der Strafe oder des Vorwurfs töten kann, so tötet man; oder zumindest lächelt man denen aufmunternd zu, die es tun. Sollte man zuerst eine Spur von Abscheu verspüren, so äußert man ihn nicht und erstickte ihn aus Angst, man könnte es an Männlichkeit fehlen lassen. Es herrschte eine Sogwirkung und ein Taumel, dem man sich ohne große seelische Kraft, die wahrhaft außergewöhnlich sein muss, da ich sie nirgends angetroffen habe, nicht entziehen kann.“ (S. 124)

Sie glaubte durchaus, dass die anarchistischen Milizen gute Absichten hatten: „Es gab keine Unverschämtheiten, keine Beleidigungen, keine Brutalitäten – zumindest habe ich nichts dergleichen gesehen, und ich weiß, dass auf Diebstahl und Vergewaltigung in den anarchistischen Kolonnen die Todesstrafe stand – und dennoch lag ein Abgrund zwischen den Bewaffneten und der entwaffneten Bevölkerung, ein Abgrund, der durchaus dem zwischen Arm und Reich vergleichbar ist. Das merkte man am stets bescheidenen, ja devoten und ängstlichen Verhalten der einen und an der Ungezwungenheit, Ungeniertheit und Herablassung der anderen.“ (S. 125)

Was sie in Spanien lernte, war also zweierlei: erstens, dass man fast eine Heilige sein muss, um sich der Dynamik des Tötens in Zeiten des Krieges zu entziehen, und zweitens, dass auch eine Revolution, die mit bester Absicht geschieht, am Ende Hierarchien hervorbringt, um deren Bekämpfung es doch gerade ging. Das war keineswegs eine Kehrtwendung in Weils Engagement.

Auch zurück in Paris nahm sie an Demonstrationen für die anarchistischen Kämpfe in Spanien teil und solidarisierte sich mit ihnen. Doch anders als die meisten Linken, die die französische Regierung aufforderten, den Freiheitskämpferinnen und -kämpfern zu Hilfe zu kommen, war sie strikt gegen eine internationale Intervention in Spanien: „Ich für meinen Teil weigere mich, vorsätzlich den Frieden zu opfern, selbst wenn damit ein revolutionäres, von Vernichtung bedrohtes Volk gerettet werden soll.“ (S. 142). Sich freiwillig an den Kämpfen zu beteiligen, stellte eine persönliche, ethische Wahl dar.

„Eine Politik zu Gunsten der Intervention hingegen würde Opferung Millionen junger Menschen gegen ihren Willen bedeuten. Die persönliche Ebene, die der Solidarität, darf in keiner Weise mit der Ebene (staats-) politischer Entscheidungen und internationaler Diplomatie verwechselt werden.“ (S. 143) – Eine interessante Haltung, die auch von außerordentlicher Aktualität ist.

Ihre grundsätzlich pazifistische Haltung revidierte Simone Weil erst, als Deutschland in die Tschechoslowakei einmarschierte. Angesichts von Hitlers offensichtlicher Absicht, die ganze Welt zu kolonialisieren, schien ihr kein anderer Ausweg mehr zu bestehen – doch die Verzweiflung angesichts der Unmöglichkeit, sinnvoll zu handeln, wurde damit natürlich nur noch größer.

Als die Deutschen Nordfrankreich besetzen, floh Simone Weil nach Marseille, gelangte von dort nach New York und ging schließlich nach London, um sich der Exilbewegung um de Gaulle anzuschließen. Längst hat sie sich in ihrem Denken der christlichen Mystik zugewandt, was aber eben keineswegs bedeutet, dass sie nun „unpolitisch“ geworden sei. Im Gegenteil. Sie entwickelte zum Beispiel ein Projekt zur Ausbildung von Frontkrankenschwestern und schreibt zur Begründung: „Die simple Anwesenheit einiger Posten der Menschlichkeit im Zentrum des Kampfes, auf dem Höhepunkt der Schlächterei, wäre eine schlagende Herausforderung an diese Schlächterei.“

Sie hoffte, die Anwesenheit dieses „weiblichen Korps“ werde „auf neue und unerwartete Weise ausdrücken, wie weit auf unserer Seite moralische Ressourcen und Entschlossenheit reichen“ (S. 22). Der Vorschlag wurde von den „Realpolitikern“ um de Gaulle freilich nicht umgesetzt. Simone Weil starb im August 1943 in England – erst 34 Jahre alt.

Dieser Aufsatzband ist ein wertvoller Beitrag dazu, die politisch-aktivistische Seite der „Mystikerin“ Weil zugänglich zu machen und zu würdigen.

Allerdings gelingt es den Autoren – mit einer Ausnahme alles Männer – nicht, die Originalität ihrer politischen Ideen zu erfassen. Zu eng bleiben sie in ihrer Analyse an den von einer männlichen politischen Ideengeschichte vorgegebenen Rastern, was unter anderem auch an den Fragestellungen deutlich wird: In welchem Verhältnis steht Weils Denken zum Marxismus? Welches ist ihre Position im Streit um den Stalinismus? Wie äußert sie sich im Hinblick auf den Kolonialismus? Welche Fraktionen unterstützt sie im spanischen Bürgerkrieg?

Unter solchen Perspektiven bleibt Weils Unkonventionalität im besten Fall „merkwürdig“, lässt sich bestaunen und verehren, aber in gewisser Weise nur aus jener Distanz, die die „Normalen“ den „Heiligen“ gegenüber einnehmen.

Ich glaube aber nicht, dass Simone Weil sich für eine Heilige hielt, und ganz gewiss hielt sie ihre Ansichten und Einsichten für „normal“ – und verzweifelte unter anderem auch daran, sich allzu oft nicht verständlich machen zu können. Ihre politischen Ideen gerade in ihrer „Normalität“ zu verstehen und zu würdigen (und zwar nicht unbedingt in zustimmender Weise, sondern durchaus kritisch) – das ist wohl nur möglich, wenn auch die sexuelle Differenz in der Analyse eine Rolle spielt. Eine Herausforderung, die dieses Buch nicht bewältigt, und die vielleicht auch überhaupt noch aussteht.

Anmerkungen

Antje Schrupp (Jg. 1964) ist Journalistin und Politologin. Sie ist Autorin u.a. von: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Frauen in der Ersten Internationale (Königstein 1999). Ihre Rezension findet sich auch unter: www.bzw-weiterdenken.de