anarchismus / feminismus

Anarchie oder Akratie?

Zur Politik von Herrschaftsfreiheit. Ein Interview mit der Feministin Claudia von Werlhof

| Interview: Gabriel Kuhn

Claudia von Werlhof (*1943) ist seit Ende der 1980er Jahre Professorin für Politikwissenschaft und Frauenforschung an der Universität Innsbruck. Sie ist in feministischen und antikapitalistischen Bewegungen aktiv und arbeitet an einer feministischen Gesellschaftstheorie des Patriarchats sowie den Alternativen dazu. Dazu lebte und forschte sie jahrelang in "Entwicklungsländern", insbesondere in Lateinamerika. Gabriel Kuhn (* 1972) studierte Anfang der 1990er Jahre an der Uni Innsbruck und lebt heute als freischaffender Autor und Übersetzer in Stockholm. Er ist politisch vor allem in anarchistischen Zusammenhängen engagiert und hat Claudia von Werlhof für die Graswurzelrevolution interviewt.

Graswurzelrevolution (GWR): Vor kurzem warst du bei einer der Veranstaltungen, die ich zu meinem letzten Buch, „Neuer Anarchismus“ in den USA (s. GWR 332), gemacht habe. Wir haben im Anschluss daran über Herrschaftsfreiheit, Anarchismus und feministische Politik gesprochen.

Auffallend ist, dass du dich in deinen Arbeiten immer explizit gegen Herrschaft gewandt hast, was auch der zentrale Punkt anarchistischer Politik ist. Trotzdem hast du der anarchistischen Bewegung immer eher skeptisch gegenübergestanden.

Claudia von Werlhof: Das Merkwürdige an der Anarchismus-Diskussion ist, dass da praktisch nie erwähnt wird, dass die Herrschaftsfreiheit aus der matriarchalen Gesellschaft kommt. Warum wird das nicht gesagt, wenn man es angeblich mit Herrschaftsfreiheit zu tun hat?

Das ist die Frage, die ich mir stelle. Denn das Problem ist ja, dass jemand, der den Staat als Herrschaftsform ablehnt, nicht zwangsläufig auch die Herrschaftsform von Männern über Frauen oder von Menschen über die Natur ablehnt. Das ist damit ja überhaupt noch nicht geklärt. Und innerhalb des Anarchismus sind ja auch oft patriarchale Verhältnisse beibehalten worden. Das ist ein Punkt, der mich stutzig macht.

GWR: Heißt das, dass du die Analyse von Herrschaft, wie sie in der anarchistischen Tradition formuliert wurde, für verkürzt hältst?

Claudia von Werlhof: Ja, sie ist in vielerlei Hinsicht verkürzt. Die Organisationsfrage ist nie wirklich geklärt worden. Aber die muss geklärt werden, wenn man eine andere Gesellschaft möchte. Da müssen wir beispielsweise über das Naturverhältnis sprechen, über die Technik und die Ökonomie, über die Geschlechterverhältnisse – aber auch über Vergangenheit und Zukunft, über die Ahnen und die nächsten Generationen, den Rückbezug und den Vorbezug. Dazu kommen die Fragen, die sich als spirituelle Fragen stellen: Woher kommt das Leben? Wo geht es hin?

Es geht um jene Fragen, die sich als die Hauptfragen jeder Gesellschaft identifizieren lassen. Darauf müssten Antworten gegeben werden, aber im Anarchismus passiert das nicht.

Dort liegt das Hauptaugenmerk auf der politischen Form, und auch da gibt es nur beschränkt Antworten. Ein Schwachpunkt scheint mir immer die ökonomische Frage zu sein. Was essen Anarchisten eigentlich jeden Tag und wer stellt das her?

GWR: Was ökonomische Diskussionen betrifft, so hast du mit einigen Kolleginnen in den 1970er und 80er Jahren bahnbrechende Texte zur Subsistenzfrage veröffentlicht. In marxistischen Kreisen hat das zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst, die auch bis heute anhalten. Hat es je irgendeine Auseinandersetzung mit euren Thesen aus dem anarchistischen Lager gegeben?

Claudia von Werlhof: Komischerweise nein, aber das ist wohl auch bezeichnend. Ich meine, wenn du dich positiv als Anarchist verstehst, solltest du ja an der Ökonomie interessiert sein und dich fragen, in was für einem Verhältnis du zum Kapitalismus stehst. Die Antwort kann nicht sein, in der Warenproduktion zu bleiben. Auch nicht, sich auf das Konzept der Lohnarbeit zu konzentrieren.

Die Arbeiter sind als Klasse historisch neu. Wenn es keine Fabrik gibt, gibt es auch keine Arbeiter. Aber Anarchisten haben oft gar nichts gegen die Fabrik, die wollen höchstens, dass sie von den Arbeitern übernommen wird.

Wir fanden hingegen immer, dass der technologisch-kapitalistische Komplex verschwinden soll. Da kannst du nur mit Subsistenz anfangen, was Anderes gibt’s da nicht. Das ist das Gegenprogramm.

Insofern müssten sich Anarchisten, die ihr Bekenntnis zur Herrschaftsfreiheit und Kapitalismuskritik ernst nehmen, mit der Subsistenzfrage beschäftigen.

GWR: Wie soll das konkret aussehen? Du weißt, es gibt in den USA ja diese primitivistischen Thesen?

Claudia von Werlhof: Anscheinend wird da aber auch Gewalt als politisches Mittel gutgeheißen. Wenn das stimmt, dann weiß ich nicht, was das mit Primitivismus zu tun haben soll oder mit Subsistenz. Es sei denn, es wird hier ein neues Patriarchat erfunden, das vielleicht postkapitalistisch, aber eben nicht postpatriarchal ist. Es wäre dann „primitiv“ im negativen Sinne des Wortes, aber nicht im historischen, denn die meisten primitiven Gesellschaften waren bis zum Kolonialismus ja matriarchal organisiert. Die heutigen US-Primitiven würden vielleicht das erfinden, worüber Sigmund Freud spekuliert hat: die patriarchale Urhorde im Sinne einer „archaischen“ Herrschaftsgesellschaft ohne Staat. Wenn es so etwas gegeben hat, dann nur im Umkreis expandierender patriarchaler Weltreiche.

Es wäre ein Witz, das erneut zu erfinden. Aber es liegt sicher innerhalb der Logik des Patriarchats, den Kapitalismus überleben zu wollen! Das ist ein Problem, das auf uns zukommt, aber noch kaum identifizierbar ist.

GWR: Auf die Gewaltdebatte will ich noch einmal zurückkommen. Aber zunächst noch eine Frage in Zusammenhang mit eurer Arbeit in den 70er Jahren: Gab es da auch eine Auseinandersetzung mit den explizit anarchafeministischen Theorien, die damals von Peggy Kornegger und anderen formuliert wurden? Wo der Kern des Anarchismus gewissermaßen mit dem Kern des Feminismus gleichgesetzt wurde, vor allem was Herrschaftskritik betraf.

Claudia von Werlhof: Na ja, für uns war Herrschaftsfreiheit selbstverständlich. Da brauchten wir nicht eigens auf eine Männerbewegung wie den Anarchismus zurückgreifen.

Es gab damals auch alle möglichen feministischen Utopien. Aber für mich wurden auch in diesen Zusammenhängen nie die Grundfragen beantwortet, die ich zuvor erwähnte. Außerdem habe ich mich schon auch immer gefragt, warum sich Leute eigentlich als „Anarchist“ oder „Anarchistin“ bezeichnen. Ich habe da einen anderen Ansatz, was den Begriff anbelangt. Wenn man das vom Etymologischen her angeht, dann ist das mit dem Begriff der Arché ja noch gar nicht geklärt. Denn Arché heißt zunächst mal nicht „Herrschaft“, sondern „Ursprung“, „Anfang“, „Gebärmutter“. Das ist der alte Arché-Begriff. Erst im Patriarchat wird daraus ein Herrschaftsbegriff, erst zu dem Zeitpunkt also, zu dem die Männer sagen: „Wir sind diejenigen, die das alles unter Kontrolle haben! Wir sind selbst der Ursprung!“

Da beginnt diese Umkehrung-Verkehrung-Verdrehung, die unsere heutige Gesellschaft kennzeichnet. In der anarchistischen Diskussion wird der Arché-Begriff immer nur in dieser zweiten, der patriarchalen Bedeutung verwendet, und so wird „An-archie“ dann zu „gegen die Herrschaft“. Aber wenn man den alten Begriff nimmt, dann hieße „An-archie“ ja „gegen den Ursprung“.

Ich habe entdeckt, dass solche Dinge oft etwas sagen. Die Tatsache also, dass die Bewegung nicht auf „A-kratie“ abzielt – denn „kratía“ ist der Begriff, der ursprünglich wirklich „Herrschaft“ bedeutet – sagt etwas aus.

GWR: Der Begriff des Ursprungs war immer wichtig in deinen Überlegungen.

Claudia von Werlhof: Auf jeden Fall. Wir kommen ja nicht als erwachsene Menschen vom Himmel gefallen. Ich denke, das wird in der anarchistischen Szene vernachlässigt. Das zeigt sich auch darin, dass es dort sehr viel um persönliche Sachen geht. Bei vielen Leuten, die ich aus der Szene so kenne, habe ich beispielsweise den Eindruck, dass das alles für sie hauptsächlich ein Teil ihrer Selbstfindung ist.

Das sind also Einzelne, die eine Identität suchen, die von ihrem eigenen Ursprung absieht. Auf diese Weise können sich dann zum Beispiel auch Bürgersöhnchen mit allen möglichen Leuten tummeln, ohne dass ihnen ihre Herkunft vorgeworfen wird.

Sie können einen Bruch machen mit der älteren Generation, um woanders neu anzufangen und sich woanders neu zu finden. Aber das ist ein typisch modernes Projekt: es geht nicht mehr darum, wo wir herkommen, sondern alle sehen sich als autonome Individuen, denen die Welt zu Füssen liegt.

Das ändert erst einmal gar nichts an den Verhältnissen.

Vielmehr spiegelt das jene persönliche Flexibilität wider, die heute verlangt wird. Es wird ja verlangt, dass Menschen sich aus der Generationenlinie entfernen, gegen ihren Ursprung wenden und sich neu definieren. Viele Anarchisten reproduzieren das.

GWR: Aber was ist mit Leuten, die aus dem Bürgertum kommen. Das ist ja legitim, diese Tradition nicht weiterzuführen.

Claudia von Werlhof: Natürlich. Es geht ja nur um eine Anerkennung der Generationslinie, nicht um eine Identifizierung mit früheren Generationen. Ich meine, nehmen wir das Beispiel des Nationalsozialismus. Wer will denn mit den Nazi-Vätern identifiziert werden?

Das ist ja klar, dass die Leute dann sagen, damit will ich nichts zu tun haben. Aber trotzdem sind sie die Kinder von denen. Sich von dem, was die gemacht haben, zu distanzieren, ist natürlich richtig.

Die Frage ist aber, was folgt dann daraus: reicht es, wenn ich mich anders definiere, oder muss ich nicht auch anders handeln? Und wie schaut es denn da bei den Anarchisten aus? Was ist denn deren Haupttätigkeit? Erfinden die eine andere Gesellschaft, eine andere Ökonomie, eine andere Welt, in der die Vergangenheit nicht wiedererstehen kann?

Natürlich gibt es da Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen, aber wie viele krempeln sich wirklich die Ärmel hoch und arbeiten am Aufbau einer neuen Gesellschaft? Das ist ja notwendig, zum Beispiel um die Rückkehr des Faschismus zu vermeiden. Sich neu zu definieren mag schön sein als erster Schritt, aber was kommt danach?

GWR: Was die Kritik der Szene anbelangt, so stören dich da auch einige kulturelle Dimensionen. Vor allem, was junge Anarchisten betrifft, die sich in der autonomen Szene verankert sehen, was ich ja auch tue.

Claudia von Werlhof: Ja, das stimmt. Also zunächst die ästhetischen Dimensionen. Das ist alles immer recht düster, die Farben – wenn man überhaupt von Farben sprechen kann – spiegeln das wider.

Schwarz dominiert. Lebewesen wie Tiere – außer vielleicht Hunde – oder Pflanzen sind nicht vorgesehen. Die Sinne werden nicht angesprochen. Es gibt keine Musik, es sei denn die ganz harte. Man trifft sich im Keller und bleibt dort sitzen, auch im Sommer.

Dann finde ich, dass die Leute alle sehr für sich alleine sind. Die gegenseitige Wahrnehmung finde ich extrem eingeschränkt. Also jeder ist eine Elite für sich und stellt das dann auch zur Schau. Es gibt dann entsprechende äußerliche Attribute, die dazugehören.

Aber diese Attitüden und Moden wirken nur dramatisierend und ich denk mir oft, was soll der Aufwand? Ich meine, ja, es gibt was Bohemehaftes dran und das ist auch sympathisch – aber dann fehlt auch schon wieder die künstlerische Seite davon, die die Boheme ja immer ausgezeichnet hat. Zudem fehlt oft dieser Impuls, dass man jetzt wirklich etwas machen will, dieses Sich-die-Ärmel-Hochkrempeln, von dem ich gesprochen habe, diese Lust daran, gemeinsam etwas Neues aufzubauen. Ich habe in diesen Zusammenhängen oft den Eindruck, das ist eine Sackgasse.

GWR: Offensichtlich ist auch, dass die Szene von Männern dominiert ist. Du meintest ja, dass die Szene von vornherein auf viele Frauen unattraktiv wirkt.

Claudia von Werlhof: Klar, Frauen kommen in der Szene kaum vor. Die wenigen Frauen, die man sieht, wirken meist ziemlich unglücklich, zumal die sich ja offenbar als Männer oder als so etwas Ähnliches wie Männer beweisen müssen.

Oder sie werden nur als Beiwerk akzeptiert. Die Szene wirkt auf viele Frauen von vornherein unattraktiv. Das ist eine Männerszene. Auf deine Veranstaltung ging ich beispielsweise mit einigen anderen Frauen, die die Szene nicht so kannten.

Die gingen raus und meinten: „Nein, das ist nichts für uns, da geht es nicht lang.“ Dabei ging es nicht primär um politische Differenzen, sondern um die Atmosphäre. Da fehlen „weibliche Elemente“, was auch immer das genau heißen mag. Ich meine damit vor allem etwas Fröhliches, Witziges, Quirliges. Es geht ja selten wirklich humorvoll zu. Und so geben wenige Frauen ihre Kraft da hinein, das merkt man genau. Es fehlen die lebendigen und zukunftsweisenden Elemente.

Aber ohne die hat die Szene keine Chance. Wenn es keine lachenden Frauen gibt, kannst du die Sache vergessen.

GWR: Wir sprachen auch über den urbanen Charakter der Szene. Du hast dich besonders mit ländlichem Widerstand beschäftigt.

Claudia von Werlhof: Ja, die meisten Anarchisten in der europäischen Tradition sind städtische Gruppen gewesen. Dabei gibt’s ja auch eine ganz andere Tradition. Auch die europäischen Bauern haben eine lange herrschaftsfreie Tradition. In unserem Raum ist das in den Bauernkriegen noch einmal deutlich geworden, da kamen die Bauern und sagten: „Wir wollen das alles nicht, wir wollen den Klerus nicht, wir wollen den Adel nicht, wir wollen auch den Staat nicht, wir wollen das alles los sein!“

Das ist auch eine anarchistische Tradition, wenn man so will, aber darauf wird nie Bezug genommen. Alle sitzen in den Städten und niemand will sich mit den aufsässigen Bauern und Handwerkern und gerade auch Frauen am Beginn der Neuzeit identifizieren – genauso wie mit dem Matriarchat.

All dies tritt irgendwie aus der Geschichte heraus. Dabei stellt sich die Frage, warum an dem nicht angeknüpft wird, was die Geschichte zu bieten hat und was da dazugehören würde.

GWR: Das stimmt wohl, dass diese historischen Bezüge immer mehr aus der Diskussion verschwunden sind. Bei Gustav Landauer zum Beispiel spielte das ja noch eine Rolle. Aber das ist schon hundert Jahre her. Ich denke, dass sich seither auch gewisse Spaltungen vollzogen haben. Ich stimme dem zu, dass das, was heute als anarchistische Bewegung im euroamerikanischen Raum bekannt ist, hauptsächlich eine urbane Bewegung ist. Gleichzeitig gibt es nach wie vor Kommunenbewegungen mit anarchistischen Dimensionen, aber das konstituiert oft eine andere Szene. Ein Problem dabei ist vielleicht auch, dass heute vieles an den Kommunenbewegungen oft wie Rückzugspolitik oder gar Weltflucht wirkt.

Claudia von Werlhof: Das sieht nur aus städtischer und moderner Perspektive so aus. Aber es gibt da ein elitäres Element. Das ist oft mit dabei. Dieses Gefühl, eine Elite zu sein. Und dann wird es schwierig: dann hast du deine Kommune, aber du beginnst nicht, mit deiner Umgebung zusammenzuarbeiten. Du bleibst eine Enklave. So breitet sich nichts aus und nichts Neues entsteht, das wirklich nach und nach die Gesellschaft als Ganze verändert. Dabei ist es genau das, was wir brauchen würden. Aber viele beschränken sich dann darauf, sich selbst als was Besonderes zu sehen, und glauben, was Besonderes geleistet zu haben – wobei oft genug noch nicht mal klar ist, worin das bestehen soll. Das hat mit dem patriarchalen Gurutum zu tun.

GWR: Du sprichst die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung an und die Frage, wie diese herbeigeführt werden kann. Gerade nachdem wir dieses Gespräch für die Graswurzelrevolution machen, wollte ich in dem Zusammenhang auch die sogenannte Gewaltfrage aufwerfen. Es ist ja jetzt, in dem Band von Ilse Lenz, Die neue Frauenbewegung in Deutschland, gerade wieder einmal deine Kritik an der Roten Zora nachgedruckt worden, die du veröffentlicht hattest, nachdem Texte aus euren Arbeitsgruppen der 70er und 80er Jahre in Anschlagserklärungen der Roten Zora zitiert worden waren. Du hast dich ja immer explizit gegen Gewalt als politisches Mittel ausgesprochen.

Claudia von Werlhof: Natürlich. Gewaltakte lösen weder akute Probleme noch die Probleme der permanenten Organisation der Gesellschaft.

Das ist kein Mittel, mit dem man sich kurz- oder langfristig auf irgendetwas zu bewegen kann. Es ist eine Illusion zu glauben, mit Gewalt ließe sich positiv etwas verändern. Das halte ich für einen furchtbaren Fehler und für eine patriarchale Maßnahme. Gewaltverhältnisse gehören zum Patriarchat. Matriarchale Gesellschaften haben die Konflikte, die es immer gibt zwischen Menschen, gewaltfrei zu lösen versucht. Nicht mit Einsperren, sondern mit Wiedergutmachung. Wir sehen dieses Prinzip auch in den indigenen Gesellschaften: Wiedergutmachungsrecht statt Strafrecht.

Auch Erzwingungsstäbe wie Polizei oder Militär gab’s und gibt es in matriarchalen Gesellschaften nicht. Nicht weil dort alle die besseren Menschen waren oder sind, sondern weil eine klügere Politik gemacht wurde; eben keine, die grundsätzlich auf Gewalt beruht. Jede Fortsetzung der Gewalttradition fällt für mich ins Patriarchat.

Ich weiß auch nicht, was man mit Gewalt erreichen will. Gewalt ist schlicht kontraproduktiv.

Sie nützt nichts. Und was die Geschichte mit der Roten Zora betrifft: die haben versucht, uns als gesellschaftskritische Stimmen zu vereinnahmen für ihre Molli-in-den-Sexshop-Politik. Die wollten noch nicht einmal unsere Ideen für sich als ökonomische Strategien oder so reklamieren. Es ging nur darum, uns als radikale Systemkritikerinnen zu benutzen. Das war Blödsinn, das passte einfach nicht zusammen.

GWR: Was mich hier interessieren würde, wären auch die Erfahrungen, die du bei deinen Aufenthalten in unterdrückten, ausgebeuteten Gemeinschaften der Peripherie gemacht hast. Weil es in anarchistischen oder linksradikalen Kreisen immer wieder das Argument gibt, dass es ein Ausdruck gesellschaftlichen Privilegs ist, der Gewalt abzuschwören. Also so in etwa: Pazifismus als Mittelklasseideologie. Die Behauptung ist, dass Leute der westlichen Mittelklasse selbst so wenig mit Gewalt konfrontiert sind, dass es ihnen leicht fällt, diese abstrakt zu verurteilen, während Menschen unterdrückter Klassen ständig mit Gewalt konfrontiert sind und diese dadurch gewissermaßen zu einem selbstverständlichen politischen Mittel wird.

Claudia von Werlhof: Wenn an dieser Theorie etwas dran wäre, dann müssten Frauen ja besonders zur Gewalt neigen, weil Frauen dauernd Gewalt erleben. Es gibt keine Frau, die nicht wüsste, was Gewalt ist; in keiner Schicht und in keiner gesellschaftlichen Gruppe. Also, das kann ja so schon mal nicht stimmen.

Außerdem haben die, die oben sind, auch alle mit Gewalt zu tun – auch wenn sie die Gewalt oft an andere delegieren und das nicht selber machen. Letztlich ist niemand frei von Gewalt und Gewaltverhältnissen. Ich halte mich demnach lieber an Leute wie Gandhi, die sagen: „Gewalt ist immer eine Lüge.“ Gandhi war ja in vielerlei Hinsicht ein radikaler Denker, der dieses Problem der Gewalt zu Ende gedacht hat: Gewalt führt immer nur weiter zur Gewalt. Die Lüge der Gewalt ist, dass es gar nie wirklich um die Lösung eines Konflikts geht – wenn es darum ginge, würde man gar nicht zur Gewalt greifen, sondern man würde seinen Kopf benutzen. Unseren Kopf haben wir ja schließlich nicht nur zum Haareschneiden, sondern auch zum Nachdenken; zum Beispiel darüber, wie mit Gewalttätern umgegangen werden kann. Da haben matriarchale Gesellschaften ja ganz viele Mechanismen gehabt, um das Aufkommen von Gewalt zu verhindern, die auch zeigen, wie Gewalttäter einfach ins Leere laufen und wie Gewalt weder als System noch als Mittel zur Klärung sozialer Konflikte funktionieren kann. Das wird auch bei dem Anthropologen Pierre Clastres beschrieben, der sich mit den sogenannten primitiven Gesellschaften befasst hat.

Dabei kann ich das auch auf einer ganz persönlichen Ebene sagen: als Frau, die in dieser Gesellschaft, wie alle Frauen, sehr oft von Gewalt bedroht ist, habe ich Gewalt nie als wirkungsvolles Mittel der Verteidigung wahrgenommen. In der Regel macht das die Situation nur noch schlimmer. Wenn du aus gefährlichen Situationen herauskommen willst, wirst du das nicht über Gewalt schaffen – dir muss irgendwas einfallen. Was gefragt ist, ist Intelligenz und Erfahrung, nicht Gewalt.

Du musst die Situation verstehen und einen Umgang mit ihr finden, der aus der Gewaltfixierung der Täter herausführt. Der enge Raum der Gewaltsituation muss geöffnet werden. Das heißt nicht, dass das immer gelingt. Aber es gibt dazu keine Alternative.

GWR: Ich muss dir die klassische Frage stellen, zumal das ja auch seit Jahren in der autonomen Szene zu hitzigen Debatten führt: Wie war das mit der militärischen Zerschlagung des Dritten Reichs?

Claudia von Werlhof: Es hätte gereicht, wenn Hitlers Politik nicht von Kapitalinteressen auch im Ausland unterstützt worden wäre. Hitler ist doch nicht im Alleingang so weit gekommen.

Aber die Hauptfrage ist umgekehrt die, warum die Deutschen nicht im Inneren auf die alte Tradition des Widerstandsrechts, ja der Widerstandspflicht gegen einen Usurpator der Macht zurückgriffen.

Warum ließen sie es zu, dass der Nationalsozialismus sich so weit entwickeln konnte? Warum gab es so viel Akzeptanz für den Nationalsozialismus? Was hatte das mit dem modernen, futuristischen Patriarchat zu tun, das der Nationalsozialismus darstellte und auf das erst jüngst die Arbeiten von Franco Ruault aufmerksam machten? Jedenfalls kommt mir die Suche nach Gründen für einen schließlich doch „gerechten Krieg“ und eine sogenannte „gute Gewalt“ reichlich patriarchal und irgendwie naiv-trotzig, unreif, vor.

GWR: Dass Gewalt gewissermaßen ein „natürliches“ Konfliktlösungsmittel in Gesellschaften ist, der Auffassung scheinst du nicht zuzustimmen?

Claudia von Werlhof: Auf der Basis meiner Erfahrung würde ich sagen, dass die Völker an der Basis ja eigentlich alle friedlich sind, von den üblichen Affekthandlungen untereinander und dem patriarchalen Umgang mit Frauen einmal abgesehen. Man muss sich darüber wundern, nach dem, was sie alles ertragen haben, das ist erstaunlich. Ich denke, das ist ein matriarchaler Rest. Also, dass die Leute versuchen, im Prinzip friedlich miteinander klar zu kommen, auch z.B. in multiethnischen Gesellschaften, wie das heute heißt.

Z.B. auf dem Balkan, da hatten die Leute direkt eine Kunst entwickelt, miteinander zu leben und auszukommen, verschiedene Religionen, sogenannte Ethnien und so weiter, bis der Krieg gemacht wurde – der kam nicht von unten, von der Bevölkerung, der wurde von oben inszeniert. Ich sehe generell diese Gewaltbereitschaft in den unterdrückten und ausgebeuteten Schichten nicht, von der du zuvor gesprochen hast. Die Produktion, Ausrüstung und Einsetzung von Selbstmordattentätern gehört dabei im Übrigen auch nicht nach „unten“, sondern nach „oben“. Die meisten quasi von sich aus gewalttätigen Menschen sehe ich neben der jeweils von oben organisierten Gewalt in den unteren Mittelschichten der Städte.

Junge Männer, die versuchen „aufzusteigen“, modern zu sein, am Konsum teilzuhaben. Jugendliche, die wütend sind, weil sie ihr Motorrad nicht gekriegt haben. Da gibt es viel Frust, der zu Gewalthandlungen führt.

Es gibt hier einen Stadt-Land-Unterschied. Das Beispiel von Subcomandante Marcos zeigt das auch. Der ist als Guerrillero, als städtischer Kampfbereiter, in den Dschungel gegangen. Allerdings hat er sich dann dort von den Leuten vor Ort belehren lassen und nicht wie Che Guevara umgekehrt versucht, die indigenen Bauern von der Gewalt zu überzeugen. Marcos ließ sich von den Indios in Südmexiko ihr Weltbild erklären und entfernte sich aus der Guerilla-Position. Das ist ein wesentlicher Grund, warum diese Bewegung so erfolgreich wurde.

Die sogenannte Zapatistische Befreiungsarmee ist ja keine wirkliche Armee, sondern nur eine Art und Weise zu zeigen, dass die Leute entschlossen sind, ihren Weg zu gehen und sich nicht aufhalten zu lassen. Das ist etwas Anderes.

Das passiert nicht, indem geschossen wird, sondern indem man sich anders organisiert, eine andere politische und ökonomische Form aufbaut, das alte Naturverhältnis beibehält und dem militärischen Druck seitens der Regierung nicht weicht. Also, man arbeitet konkret daran, eine andere Gesellschaft aufzubauen.

Dazu kannst du Gewalt nicht gebrauchen. Denn es braucht Vertrauen, viel Vertrauen.

GWR: Viel an deiner Kritik der anarchistischen Bewegung konzentriert sich darauf, dass zu wenig konkret getan wird. Wie siehst du das in Zusammenhang mit der sog. Antiglobalisierungsbewegung, die in vielen Ländern mit einem Wiedererstarken des Anarchismus in Verbindung gebracht wird. In dem Kontext passieren konkrete Sachen, oder?

Claudia von Werlhof: Ich kenne nicht alles, was da gegenwärtig unter dem Namen Anarchismus läuft. Was auffällt, ist, dass unsere Subsistenzperspektive immer aktueller wird. Gerade jetzt hat sich die Situation ja noch einmal verschärft mit Finanzcrash und Wirtschaftskrise. Konkrete Alternativen zu finden, wird immer dringender in immer größeren Teilen der Welt, und das wird auch so gesehen und gespürt. Deshalb sehe ich gegenwärtig ein stärkeres Aufeinanderzugehen verschiedener Gruppen, das ist notwendig.

Für viele stellt sich die Frage: Was mache ich jetzt? Joblos, kein Geld, kein Land und nichts. Es wird z.B. zu einer Reihe von Landbesetzungen kommen. Meine Erfahrung mit Bewegungen in der Peripherie ist, dass im Besonderen die Frauen und Kinder aufs Land gehen und es besetzen, weil sie etwas zu essen brauchen. Die Frage ist, ob die Männer das mitmachen oder ob sie sich hinterher das Land von den Frauen aneignen. Die Männer greifen leider immer wieder zur Gewalt, anstatt sich breit zu verbünden. Das heißt, sie müssen aufhören, an die Gewalt zu glauben, anstatt dass Frauen jetzt auch noch damit anfangen.

GWR: Abschließend noch einmal zum Begriff des Anarchismus: Wenn sich Individuen oder Gruppen in dem Prozess, den du gerade beschrieben hast, also in dem Versuch, neue Gesellschaftsformen aufzubauen, als anarchistisch bezeichnen, dann hättest du da per se nichts dagegen? Es kommt vor allem darauf an, was sie machen?

Claudia von Werlhof: Die Frage ist schlicht, ob das nur ein Scherz ist, oder ob sie es ernst meinen. Man muss mehr tun, als nur darüber nachzudenken und zu reden. Es geht um eine Praxis. Und da stellt sich knallhart die Frage: Wer macht was? Wer kooperiert mit wem? Wie können wir das Leben neu organisieren? Das gilt nicht nur für den Anarchismus, sondern auch für die Antiglobalisierungsbewegung.

Ich meine, wenn wir uns die verschiedenen Sozialforen anschauen, die aus dieser Bewegung erwachsen sind, klar, da können viele Leute was sagen – aber was tun die denn sonst? Natürlich ist das alles nicht leicht, das weiß ich. Ich meine, ich bin jetzt eine alte Frau.

Wenn ich 20, 25 Jahre jünger wäre, würde ich auch noch einmal mit einigen meiner StudentInnen mitgehen, die das jetzt gerade machen, aufs Land gehen und eine Subsistenzkommune aufbauen.

Das ist ja sehr vernünftig. Was sollen sie denn sonst machen jetzt?

Auf die Lohnarbeitsplätze warten, die nicht kommen oder total beschissen sind? Das werden die anderen Studenten auch noch merken, da geht’s nicht lang. Leicht ist die Änderung nicht, das weiß ich – ich war ja selber bei mehreren Versuchen dabei.

Aber eure Generation, ihr müsst den Übergang jetzt schaffen – bald gibt’s keine Wahl mehr.